Rechtsradikalen und traditionalistisch-katholischen Influencerinnen geht die Forscherin Eviane Leidig in ihrem wissenschaftlichen Arbeiten nach. Mara Albracht hat sie zum Interview getroffen.
Mara Albracht: Du forscht seit mehreren Jahren zu Online-Exrtremismus und besonders auch zu rechtsextremen Influencerinnen auf verschiedenen Social-Media Plattformen. Wie setzen diese dabei das Christentum gezielt für ihre Ideologie ein?
Eviane Leidig: Seit mehreren Jahren erforsche ich rechtsextreme, antidemokratische Bewegungen, mit einem besonderen Fokus auf die Rolle des Geschlechts. Im Jahr 2023 habe ich mein Buch „The women of the far right: Social Media influencers and radicalization“ veröffentlicht, in dem ich untersucht habe, wie Influencerinnen in den sozialen Medien ihre extremen Ideologien durch Lifestyle-Content verbreiten. Eine wichtige Strategie ist die Instrumentalisierung von Religiosität, um gezielt junge Menschen anzusprechen und für ihre Ideologie zu gewinnen.
gezielt an junge Menschen
Mara Albracht: Zielen diese Influencerinnen besonders auf junge Menschen ab, die bereits religiös engagiert sind oder zumindest ein Interesse daran haben?
Eviane Leidig: Ja, viele richten sich gezielt an junge Menschen aus religiösen Haushalten. Sie verbreiten Narrative wie die Geschlechterkomplementarität – also die Vorstellung, dass Männer und Frauen unterschiedliche, aber heilige Rollen haben. Dadurch nutzen sie religiöse Botschaften, um christlich-nationalistische Ideen zu verankern, besonders rund um das Konzept der traditionellen Kernfamilie. Zusätzlich verknüpfen sie diese Ideologien mit dem Thema reproduktiver Rechte und propagieren, dass westliche Gesellschaften auf christlich-nationalistischen Werten basieren sollten.
Auffällig ist, dass viele dieser Frauen ihre persönliche religiöse Entwicklung dokumentieren. Einige wuchsen in säkularen, liberalen Haushalten auf und fanden erst später zum orthodoxen oder katholischen Glauben. Ihre Social-Media-Kanäle enthalten oft Beiträge über ihre tägliche Gebetspraxis, Buchempfehlungen oder Videos, in denen sie ihre Konversionsgeschichten teilen. Diese Inhalte sind ein zentraler Bestandteil ihrer Online-Präsenz.
Mara Albracht: Wie inszenieren diese Influencerinnen ihre Bekehrungsgeschichten und ihre konfessionellen Zugehörigkeiten?
Eviane Leidig: Sie teilen häufig Instagram-Stories mit Literatur oder Podcasts, die sie für ihre religiöse Bildung nutzen– manche betreiben sogar eigene Podcasts. Diese Podcasts richten sich oft an evangelikale Christ*innen und kombinieren politische sowie gesellschaftliche Themen mit religiösen Perspektiven, um ihre Ideologie zu untermauern. So wird zum Beispiel die Ablehnung von Abtreibung als religiöse Pflicht dargestellt. Auf diese Weise verschmelzen politische Kommentare mit religiösen Überzeugungen.
Konfession als
Identitätsmarkierung
Mara Albracht: Konntest Du Dinge beobachten, die für bestimmte konfessionelle Zugehörigkeiten der Influencerinnen typisch waren?
Eviane Leidig: Ich bin keine Expertin für die Feinheiten der unterschiedlichen christlichen Konfessionen, daher kann ich nicht über jede einzelne sprechen. In meiner Forschung habe ich aber festgestellt, dass der Evangelikalismus für viele dieser Frauen eine wichtige Identitätsmarkierung ist.
Gleichzeitig gab es eine bemerkenswerte Anzahl von Influencerinnen, die sich als katholisch identifizieren, darunter auch einige, die erst im jungen Erwachsenenalter zum Katholizismus konvertierten. Es gibt einen breiteren Trend innerhalb rechtsextremer Kreise, in denen der traditionelle Katholizismus – oft als „tradCath“ bezeichnet – stark an Popularität gewonnen hat.
Darüber hinaus bin ich auf eine Influencerin gestoßen, die zur Orthodoxie konvertierte, was zu einem zentralen Bestandteil ihrer Online-Identität wurde.
Eine andere Influencerin konvertierte im Erwachsenenalter zur Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und ist praktizierende Mormonin. Während sie sich selbst als Christin betrachtet, gibt es Unterschiede darin, wie andere Christen ihren Glauben wahrnehmen.
Insgesamt waren die von mir untersuchten Influencerinnen dem Evangelikalismus, dem Katholizismus, der Orthodoxie und dem Mormonismus zugehörig, wobei der Evangelikalismus und der Katholizismus die dominantesten Denominationen waren.
Mara Albracht: Gab es Dinge, die Dir bei katholischen Influencerinnen besonders aufgefallen sind?
Eviane Leidig: Viele betonen ihre Religiosität symbolisch, indem sie Bilder von Gebeten oder Andachten auf Instagram teilen. Besonders auffällig ist, dass sie den Katholizismus oft mit ihrer übergeordneten Ideologie einer „jüdisch-christlichen Zivilisation des Westens“ verknüpfen.
Bei denen, die zum Katholizismus konvertiert waren, gab es manchmal mehr theologische Auseinandersetzung in ihren Inhalten. Eine bekannte Influencerin gab beispielsweise ein Interview bei EWTN, einem der reichweitenstärksten katholischen YouTube-Kanäle. In diesem Interview wurde sie gefragt, wie sie ihre katholische Weltanschauung mit ihrem Anti-Migrations-Aktivismus und ihrer Vorstellung von traditionell zu befolgenden Geschlechterrollen in Einklang bringe. Als sie mit dieser Frage konfrontiert wurde, stellte sie ihre Position so dar, dass sie katholischen Werte wie Nächstenliebe zwar ernst nähme und behauptete gleichzeitig, dass einheimische Europäer*innen zugunsten von Migrant*innen marginalisiert werden würden. So rechtfertigte sie ihre extremen politischen Ansichten und inszenierte sich gleichzeitig als gläubige Katholikin – eine Strategie, die bei ihrem Publikum Anklang fand.
Sie bemühen sich, nach außen hin das Bild einer frommen Christin aufrechtzuerhalten, wählen jedoch gezielt bestimmte kirchliche Lehren aus, die mit ihren politischen Überzeugungen übereinstimmen. Das ist ein zentraler Aspekt ihrer Taktik, die verfängt, da es ihnen so möglich ist, sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen und religiöse Glaubwürdigkeit auszustrahlen.
Transnationale Verbindungen
Mara Albracht: Sind diese radikalisierten Frauen auch international vernetzt?
Eviane Leidig: Ein Großteil meiner Arbeit und meines Buches konzentriert sich auf nordamerikanische Frauen, aber ich habe auch die Profile einiger untersucht, die in Europa leben und die „transatlantischen“ Beziehungen zwischen ihnen. Diese Verbindungen sind oft unterschiedlich intensiv, aber in Bezug auf religiöse Themen, Geschlechterfragen und die Instrumentalisierung religiöser Narrative gibt es klare inhaltliche Überschneidungen: So nutzen Frauen auf beiden Kontinenten religiöse Rhetoriken, um Anti-Abtreibungs- und Anti-LGBTIQ-Ideologien zu verbreiten.
Was besonders interessant ist: Bei vielen der nordamerikanischen Frauen mit Verbindungen zu evangelikalen Kirchen in den USA sehe ich nicht viele transnationale Verbindungen zu ihren europäischen Pendants – ihr Einfluss bleibt meist auf den US-Kontext beschränkt. Allerdings sind unter katholischen Influencerinnen die transatlantischen Verbindungen oft stärker. Ein Beispiel sind Veranstaltungen wie die March for Life-Demos, die in den USA sehr bekannt sind, aber auch europäische Pendants haben. Diese Versammlungen den rechtsextremem Influencerinnen oft als Plattform, um ihre Botschaften zu verbreiten. Sie nehmen an diesen Kundgebungen teil, posten darüber und verstärken deren Reichweite durch ihre Netzwerke.
Mara Albracht: Welchen Einfluss haben die Algorithmen der Social-Media-Plattformen bei der Verbreitung solcher Inhalte?
Eviane Leidig: Die Influencerinnen, die ich untersucht habe, wissen genau, wie sie die Algorithmen sozialer Medien nutzen können, um ihre Reichweite zu maximieren. Während ein Teil ihres Contents aus politischen Kommentaren besteht, liegt der Fokus oft auf Lifestyle-Themen – etwa Wellness, Kochen, Erziehung oder Selbsthilfe.
Gerade diese scheinbar unpolitischen Inhalte bieten ihnen die Möglichkeit, ideologische Botschaften subtil einzubetten. Das ist eine bewusste Strategie: Da Lifestyle-Inhalte in der Regel nicht als problematisch gelten, fallen sie weniger in den Fokus der Plattformmoderatoren. Diese Frauen bewegen sich geschickt in den Grauzonen dessen, was erlaubt ist und was nicht.
Sie vermeiden offene Gewaltaufrufe, was dazu führt, dass sie selten gesperrt werden. Gleichzeitig verbreiten sie jedoch Verschwörungstheorien und Hass, was extremistische Ideologien untermauet und potenzielle Gewalttäter beeinflussen kann. Ihr Vorgehen ist hochgradig anpassungsfähig – sie wissen, wie sie ihre Botschaften auf subtile Weise platzieren, ohne gegen Richtlinien zu verstoßen.
Junge Männer als
wichtige Zielgruppe
Mara Albracht: Dient die Kombination aus Lifestyle- und politischen Inhalten gezielt dazu, Frauen anzusprechen?
Eviane Leidig: Ursprünglich bin ich davon ausgegangen, dass diese rechtsextremen Influencerinnen vor allem andere Frauen ansprechen, um sie für ihre Ideologie zu gewinnen. In meiner Forschung zeigte sich jedoch, dass dies stark von der jeweiligen Plattform abhängt.
Auf YouTube, wo sie häufig politische oder gesellschaftliche Themen diskutieren, besteht ihre Anhängerschaft größtenteils aus Männern. Das ist nicht ungewöhnlich, da politische Videos dort generell ein überwiegend männliches Publikum ansprechen.
Auf Instagram hingegen, wo sie private Einblicke in ihr Leben geben – etwa Bilder vom Familienessen oder vom Gärtnern mit den Kindern – folgen ihnen deutlich mehr Frauen. Diese suchen gezielt nach Tipps zu Haushalt und Erziehung und stoßen dabei auf die ideologisch gefärbten Inhalte der Influencerinnen.
Es wäre jedoch ein Trugschluss zu glauben, dass sich diese Frauen ausschließlich an ein weibliches Publikum richten. Besonders junge Männer sind eine wichtige Zielgruppe, wenn es um Themen wie traditionelle Geschlechterrollen oder die sogenannte „Krise der Männlichkeit“ geht. In ihren Botschaften heißt es dann etwa: „Die Gesellschaft lässt Männer im Stich“ oder „Der Beitritt zu rechten Bewegungen hilft dir, deine natürliche Männlichkeit auszuleben“. Dabei propagieren sie Eigenschaften wie männliche Aggression, Dominanz und Führungsstärke – oft verbunden mit dem Versprechen, dass man in der rechten Szene eine gehorsame Ehefrau finden könne.
Flut von Fehlinformationen
Mara Albracht: Welche Verantwortung haben Kirchen und die akademische Theologie im Umgang mit diesen Formen der Radikalisierung?
Eviane Leidig: Viele dieser Influencerinnen stützen sich auf fragwürdige Online-Quellen, um ihre Positionen zu untermauern. Wie so oft im Internet gibt es eine Flut an Fehlinformationen und verzerrten Narrativen – und das betrifft keineswegs nur eine einzige Religion.
Für alle, die in der religiösen Bildung tätig sind, liegt daher eine entscheidende Aufgabe darin, seriöse Quellen sichtbarer und leichter zugänglich zu machen. Gleichzeitig braucht es offene Kommunikationswege, damit Menschen mit religiösen Fragen fundierte und vertrauenswürdige Antworten finden können. Als ich während der Corona-Pandemie forschte, waren die Menschen isoliert und es fehlte an direktem persönlichen Kontakt. Dies schuf einen fruchtbaren Boden für die Verbreitung fragwürdiger Quellen. Ein Phänomen, das sich aber nicht nicht auf eine einzige Religion beschränkte.
Ich habe mich in meiner Forschung auch mit „Counter-Influencing“ befasst – also mit Personen, die rechtsextreme Narrative gezielt widerlegen. Manche tun dies mit Humor, andere mit wissenschaftlicher Präzision. Eine spannende Frage ist, ob es eine Möglichkeit für theologische Influencer*innen gäbe, sich dieser Aufgabe anzunehmen.
Auf Social Media gibt es bereits eine wachsende Zahl christlicher Influencer*innen. Was ich jedoch kaum sehe, sind Theolog*innen, die fundierte theologische Inhalte in den Diskurs einbringen, Debatten anstoßen und gezielt Fehlinformationen entkräften. Ich denke, dass hier eine Lücke besteht, die gefüllt werden könnte.
Mara Albracht: Vielen Dank für Deine Zeit und die spannenden Einblicke in Deine Forschung!
___
Eviane Leidig. Dr., ist Affiliate am Center for Research on Extremism an der Universität Oslo. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Rechtsextremismus und Gender, Online-Extremismus sowie Digitalpolitik und Regulierung. Sie war die Referentin der Isa-Vermehren-Lecture 2024 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Dieser jährliche Gastvortrag, der vom akademischen Mittelbau der Fakultät organisiert wird, steht in engem Zusammenhang mit dem Forschungsschwerpunkt der Fakultät „Ambiguitäten – Identitäten – Sinnentwürfe“.
Mara Albracht studierte Katholische Theologie in Münster, Frankfurt a. M. (PTH Sankt Georgen) und München. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kirchenrechtlichen Seminar der Universität Bonn und promoviert neben dem Lizenziatsstudium im kanonischen Recht (Universität Münster) zu staatlich mandatierten Formen der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen in der römisch-katholischen Kirche und dem Konzept der transitional justice.
Titelfoto: Michael Czyz / unsplash.com