Im gestrigen Beitrag konnten Sie lesen: „Feinschwarz bewegt sich im thematischen Dreieck von Gesellschaft und Politik, Kirche und Religion, Kunst und Kultur.“ Dazu gehört seit Beginn von feinschwarz.net auch alles, was nach dem Menschen fragt, psychologische und psychotherapeutische, pädagogische und seelsorgliche Perspektiven. Letztlich geht es um das Menschsein – um unser Menschsein. Helga Kohler-Spiegel
Aaron Antonovsky forschte seit den 1980er Jahren zur „Salutogenese“, zur Frage, was Menschen gesund macht und gesund erhält. Und neben zahlreichen anderen Aspekten betont Antonovsky: Entscheidend für die Gesundheit von Menschen ist die tiefe Überzeugung und grundlegende Zuversicht, dass das Leben im Kern verstehbar, bewältigbar und sinnvoll ist – nicht nur im Allgemeinen, sondern auch im eigenen Erleben.
Zugleich hat sich die Welt stark verändert: Sicherheiten lösen sich auf, was gestern galt, ist heute fraglich. Der Alltag, eben noch verlässlich, gleicht plötzlich einem Boden, der Risse zeigt. Vor allem Kinder und Jugendliche spüren diese Unsicherheit oft noch stärker, sie erleben die Verunsicherung bei den Erwachsenen und bei sich selbst, sie schauen auf eine Zukunft, die weniger verstehbar, berechenbar und bewältigbar wirkt als früher. Was also tun?
Ambiguitätstoleranz meint die Fähigkeit, Uneindeutiges, Mehrdeutiges und Widersprüchliches auszuhalten.
Ambiguitätstoleranz gilt als zentrale Fähigkeit für Gegenwart und Zukunft. Ambiguität leitet sich vom lateinischen ambiguitas ab, was „Zweideutigkeit“ oder „Doppeldeutigkeit“ bedeutet. Ambiguitätstoleranz meint also die Fähigkeit, Uneindeutiges, Mehrdeutiges und Widersprüchliches auszuhalten. Sie beschreibt die Fähigkeit, widersprüchliche Informationen, Unsicherheiten und Spannungen nicht nur zu ertragen, sondern als Chance zu begreifen, konkret heißt das: Fragen stellen, interessiert bleiben, nachdenken, weiterfragen… Das ist anspruchsvoll und bedarf der Beschäftigung mit sich selbst, mit der eigenen Persönlichkeit und dem eigenen Selbstwert, um in unsicheren und widersprüchlichen Situationen nicht in ein Schwarz-Weiß- oder Richtig-und-falsch-Denken zu verfallen, sondern mit Interesse, Geduld und innerer Toleranz zu reagieren.
eine stille Form von Widerstand gegen die Verlockung scheinbarer Eindeutigkeit
Besonders in Zeiten, in denen einfache oder schlichtweg falsche Antworten lautstark vertreten werden, gilt es, genau hinzuschauen, hinzuhören, differenziert und dialogfähig zu sein. Vielleicht ist genau dies bereits eine stille Form von Widerstand gegen die Verlockung scheinbarer Eindeutigkeit.
Lernen im Angesicht von Brüchen
Doch Krisen gehen tiefer. Sie können innerste Grundüberzeugungen erschüttern, jene „Basic Beliefs“, die uns normalerweise tragen: „Die Welt ist sicher“, „Menschen sind verlässlich“, „Das Leben hat einen Sinn“. Bröckelt dieses Fundament, folgen Verunsicherung, Misstrauen, Angst, Sinnverlust. Und genau dann ist es wichtig, nicht alte Gewissheiten wieder herzustellen, sondern neue, tragfähige Überzeugungen zu entwickeln. Also keine Hinwendung zu Vereinfachungen, zu Schuldzuweisungen, zu Schwarz-Weiß-Zuschreibungen oder Erklärungen, sondern ein Lernen im Angesicht von Brüchen.
Emotional überfordernde Erfahrungen schreiben sich in Körper und Seele ein.
Hinzu kommt das heutige Wissen um Traumaerfahrungen. Verletzungen der Seele hinterlassen Spuren, Menschen tragen Wunden mit sich, die unbemerkt und ungesehen sein können. Emotional überfordernde Erfahrungen schreiben sich in Körper und Seele ein – als Albträume, plötzliche Ängste oder schwer verständliche Verhaltensweisen. Wer das erkennt, kann vermutlich weniger urteilen und mehr verstehen, „traumasensibel“ wird diese Haltung genannt. Traumasensibles Arbeiten ermöglicht, dass sich Menschen „safe“, sicher fühlen können, in Familien und Schulen, an Arbeitsplätzen und in Pflegeheimen. Orte, Menschen, Abläufe müssen berechenbar und verlässlich sein, damit Sicherheit entsteht.
Resilienz ist … eine lebenslange Entwicklungsaufgabe.
Und dann ist da die Resilienz – die psychische Widerstandskraft. Es ist die Fähigkeit einer Person oder einer Familie bzw. Gruppe, erfolgreich mit belastenden Lebensumständen umzugehen. Resilienz ist kein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal, sondern eine lebenslange Entwicklungsaufgabe, die im Zusammenspiel zwischen Einzelperson und ihren Bezugspersonen und ihrer Umgebung gelernt und geübt wird. Denn auch für Resilienz gilt: „Use it or lose it.“
Mut, Spannungen zu ertragen
Vielleicht liegt die eigentliche Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart nicht darin, die Unsicherheit schnell überwinden zu wollen, sondern im Aushalten der Gleichzeitigkeit, im Festhalten am differenzierten Wahrnehmen und Denken, im Dialog mit anderen. Vielleicht liegt die eigentliche Antwort auf die Unsicherheit der Gegenwart nicht im Wunsch nach schneller Eindeutigkeit, sondern im Mut, Spannungen zu ertragen, nicht im Rückzug, sondern in der Entscheidung, Mensch zu bleiben – und Menschlichkeit weiterzugeben. „Being human is given. Keeping our humanity is a choice.“ Menschsein ist uns gegeben, Menschlichkeit aber will bewusst gelernt, gelebt, geübt werden. Gerade im Angesicht von Krisen.
Es ist ein „Leben wie auf dem Balancebrett“ – so habe ich es an anderer Stelle auf feinschwarz.net beschrieben. Ich hoffe und wünsche, dass Ihnen feinschwarz.net dazu immer wieder Anregung und Ermutigung, manchmal vielleicht auch Herausforderung und stets Unterstützung ist.
Helga Kohler-Spiegel, Professorin für Human- und Bildungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg, Österreich. Psychotherapeutin und Lehrtherapeutin, Psychoanalytikerin und (Lehr)Supervisorin.
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