Sönke Lorberg-Fehring wollte nicht nur über das Thema Rechtsextremismus schreiben, sondern den Protagonist:innen auch persönlich begegnen. Eine erschreckende Erfahrung.
Manchmal ist die Wirklichkeit ehrlicher als jede Fantasie. Während der ehemalige Neonazi und heutige Mitarbeiter eines AfD-Bundestagsabgeordneten, Benedikt Kaiser, auf der Buchmesse „SeitenWechsel“ in Halle die Anwesenden beschwört, dass es kein Zurück in die 1990er-Jahre geben dürfe, breitet sich der Geruch von Bockwurst und Bier aus. Offenbar verfolgt das Catering genau die Strategie, vor der Kaiser warnt: ein Zurück in die „gute alte Zeit“, als die Deutschen angeblich noch glücklich waren, weil sie „mehr Geld“ hatten und es „weniger Ausländer“ gab.
Zurück in die „gute alte Zeit“, als die Deutschen „mehr Geld“ hatten und es „weniger Ausländer“ gab.
Götz Kubitschek, Leiter des rechtsextremen Antaios Verlages, hatte sicher nicht diese dissonante Erfahrung im Sinn, als er in einer Rede auf die Bedeutung dieser ‚alternativen‘ Messe jenseits der etablierten Veranstaltungen in Leipzig und Frankfurt verwies. Allerdings war seine Begeisterung nicht selbstlos. Denn er schlug vor, am Stand seines Verlages ein Buch zu kaufen, damit man es später einmal vorzeigen und ehrfurchtsvoll sagen könne: ‚Ich war dabei, als in Halle aus der rechtspopulistischen Welle eine Entscheidungssituation wurde.‘
Veranstaltet wurde die Messe von Susanne Dagen, Buchhändlerin in Dresden und kulturpolitische Sprecherin der AfD in Sachsen. Über 300 Verlage hat sie laut eigener Aussage eingeladen, 90 davon sind gekommen. Das Zentrum bildete der Antaois-Verlag von Kubitschek und seiner Frau Ellen Kositza. Er war gleich am Halleneingang aufgebaut, sodass es kein Vorbeikommen an den charakteristisch-einfarbigen Buchercovern gab.
Im Zentrum der Antaois-Verlag von Götz Kubitschek und seiner Frau Ellen Kositza …
Ellen Kositza erläutert ihre Interpretation des Messetitels „SeitenWechsel“ auf der Vorstellung des neuesten islamfeindlichen Buches ihres Verlages – ein Genre, das an kaum einem Stand fehlte. Sie berichtet, wie sich die Autorin, eine habilitierte Kulturwissenschaftlerin, bei ihr gemeldet habe, um sich mit einer Veröffentlichung bei Antaios auch nach außen hin zu ihrer ‚nationalen‘ Sichtweise zu bekennen. Kositza nutzt dies zum Aufruf an alle Anwesenden, nicht nur in Wahlen das Kreuzchen ‚national‘ zu setzen, sondern durch öffentliche Bekenntnisse einen Kulturwandel anzustoßen.
Die Messe ist der Versuch, die Wahlerfolge der AfD auf das Kulturgut Buch zu übertragen. In den Vorträgen des Begleitprogramms, in der die selbsternannte rechtsextreme Elite über ihre Zukunftsabsichten berichtet, geht es vor allem darum, sich nicht damit zufrieden zu geben, durch Skandalisierung Themen zu setzen und sich darüber zu freuen, dass sie von anderen Parteien aufgegriffen werden. Das übergeordnete Ziel ist die öffentliche Meinungsführerschaft, um das rechtsextreme Weltbild als kollektive Denkweise zu etablieren.
Das übergeordnete Ziel ist die öffentliche Meinungsführerschaft.
Ein Rundgang über die Messe zeigt, dass die ideologische Warnung vor einer geschichtlichen Rolle rückwärts völlig berechtigt ist – denn die Retroperspektive ist der braunblaue Faden, der die allermeisten Stände thematisch zusammenhält. So werden am Antiquitätenstand Bücher des deutschen Kolonialpolitikers Hermann von Wissmann und des Erfinders der „Dolchstoßlegende“ General Erich Ludendorff angeboten, dazu Restauflagen von Ernst Jünger. Alle drei haben den Sprung ins 21. Jahrhundert eindeutig nicht geschafft: Während das Wissmann-Denkmal in Hamburg schon vor 50 Jahren gestürzt wurde und Ludendorffs „Bund für Deutsche Gotteserkenntnis“ in der Bedeutungslosigkeit versunken ist, werden Jüngers Bücher aktuell im Sammelband „Schlüsseltexte der ‚Neuen Rechten‘“ besprochen.
Im Gegensatz zur breiten Mehrheit der Stände stellt Benedikt Kaiser als Mitvordenker der AfD das Thema einer zukunftszugewandten Transformation des Rechtsextremismus in den Mittelpunkt seines Messevortrages . Er rät davon ab, sich am gegenwärtigen Erfolg der AfD zu berauschen. Stattdessen möchte er ein „Stein im Schuh“ sein und fordert, im Moment des Erfolges notwendige Veränderungsprozesse nicht aus dem Blick zu verlieren. Wahlen gewinnen, so Kaiser sinngemäß, könne man auch später noch: Statt um Wählerstimmen zu kämpfen, sollte die aktuelle Hauptaufgabe aber der Anspruch kultureller Hegemonie sein.
Kaiser warnt davor, dass sich viele Menschen gerne erfolgreichen Bewegungen anschließen. Doch was passiert, wenn der Erfolg ausbleibt, wenn sich Dellen in den Zustimmungswerten zeigen oder interner Streit die Menschen abschreckt? Man könne schließlich, so Kaiser, nicht ewig davon ausgehen, dass ein Politiker wie Friedrich Merz die Massen in die Arme der AfD treibe. Man müsse sich auch darauf einstellen, dass jemand wie Carsten Linnemann einen wirklichen Politikwechsel einläute, und es der CDU wieder gelinge, Wählerstimmen von der AfD zurückzugewinnen. Sein Fazit lautet daher: „Die über den Erfolg kommen, sind schnell wieder weg, wenn Erfolg ausbleibt. Der durchschnittliche Mensch will von Politik nichts wissen. Deswegen muss es normal werden, rechte Positionen zu vertreten.“
Man könne schließlich nicht ewig davon ausgehen, dass ein Politiker wie Friedrich Merz die Massen in die Arme der AfD treibe.
Kaiser bezieht seine Ideen von Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens. In den 1920er-Jahren beschäftigte er sich damit, wie eine zukünftige kommunistische Herrschaft vorbereitet werden könnte. Diese Einsichten will die AfD heute nutzen. Eine zentrale Forderung Gramscis war bildungspolitische Vorfeldarbeit. Damit sich eine neue Gesellschaftsordnung durchsetzen könne, brauche es eine Bildungselite und ein entsprechendes Schulungssystem. Es bedürfe eine Gruppe, die gezielt Kipppunkte identifiziere, welche konzentriert angegriffen werden müssen, um Schritt für Schritt eine gesellschaftliche Neubewertung in zentralen Fragen zu erreichen. Der Einfluss der AfD auf die Migrationsdebatte ist für Kaiser ein erfolgreiches Beispiel, wie es gelingen kann, auch ohne politische Mehrheiten einen Kulturwandel herbeizuführen. Die Wahlerfolge der AfD in den neuen Bundesländern müssten, so Kaiser, dafür genutzt werden, dass es normal werde, seine AfD-Gesinnung öffentlich zu äußern. Bis dahin sollten weniger der Wahlerfolg der AfD im Zentrum der politischen Arbeit stehen, vielmehr sollten alle Kräfte in „patriotischer Vorfeldarbeit“ gebündelt werden.
Bildungsarbeit, um Schritt für Schritt eine gesellschaftliche Neubewertung in zentralen Fragen zu erreichen
Die meisten Stände auf der Buchmesse in Halle sind weit davon entfernt, Kaisers Anspruch eines zukunftsgewandten Rechtsextremismus umzusetzen. Gefährlich wird es an Stellen wie dem Kinderbuchverlag „klein und ehrlich“. Er hebt sich in Design und Personal deutlich von den Ständen der „Deutschen Militärzeitschrift“ und des „Deutschen Nachrichtenmagazins Zuerst!“ ab. Bei näherer Betrachtung dominiert aber auch hier eine rückwärtsgewandte Sichtweise. Zwar will der Verlag „aufmüpfige Kinderbücher“ herausgeben, die „dagegenhalten“. Aber die Versuche, Theodor Körner oder Arminius als neue „deutsche Helden“ aufzubauen, erscheinen nicht sehr zukunftsorientiert. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen die „Hydra Comics“. Mit historischen Erzählungen in Form von Graphic Novels wollen sie „junge Deutsche“ erreichen, die bislang nach Vorstellung des Verlages nur „mit dem Schuldkult“ der Verbrechen des Hitler-Regimes „traktiert“ wurden. Allerdings besteht die Zielgruppe eines solchen Versuchs wohl eher in den jungen Männern und Frauen mit scharfen Scheiteln und kurzen Röcken, die am Stand des „Compact“-Magazins einen Vorgeschmack auf die neue, völkische Bildungselite geben wollen.
Der Retroansatz vieler Verlage ist nicht nur Ausdruck einer historischen Revisionsstrategie. Er gibt auch Einblick in die dahinterstehende rechtsextreme Parallelgesellschaft. Zwei erschreckende Beispiele dafür sind ein Interview mit Susanne Dagen und ein Zitat von ihr auf „Sezession“-online. Im Interview bezeichnet sie es als Zeichen des „Endkampfs“, dass selbst „diejenigen, die in ihren einsamsten Stunden erkennen, dass sie auf dem falschen Dampfer sind, dass sie nach außen hin immer noch entschlossen sich zeigen.“ Hieraus spricht ein völliges Unverständnis, dass irgendjemand ihre Weltsicht nicht teilen könnte. Wie radikal diese ist, zeigt ihr Kommentar angesichts von Kubitscheks Begeisterung über die 6.000 Menschen, die zur Messe nach Halle gekommen sind: „Dies ist Deine erste Diktatur, Götz, entspann Dich.“
Dagen: „Dies ist Deine erste Diktatur, Götz, entspann Dich.“
In Kubitscheks rechtsextremer Parallelwelt ist „SeitenWechsel“ ein Zeichen des langersehnten „Dammbruchs“. Es scheint ihm eine persönliche Freude zu sein, dass sich ‚nationaler‘ Protest nicht länger auf PEGIDA-Demos und AfD-Wahlerfolge beschränkt, sondern beim Kulturgut Buch angekommen ist – schließlich wirbt er damit, dass er „Homer im Original“ gelesen habe.
„SeitenWechsel“ muss auch den Letzten deutlich gemacht haben , dass rechtsextreme Agitation sich nicht damit zufriedengeben wird, ihre Ansichten in einen demokratischen Ausgleich unterschiedlicher politischer Kräfte einzubringen. Der Rest der Gesellschaft soll vielmehr in die eigene Parallelwelt hineingezogen werden. Es geht nicht nur darum, die AfD an die Macht zu bringen. Das Ziel ist vielmehr eine Diskursverschiebung, um eine völkische Trennlinie durchsetzen zu können zwischen denen, die dazugehören dürfen und denen, die ausgeschlossen werden.
Der Rest der Gesellschaft soll in die eigene Parallelwelt hineingezogen werden.
Die stärkste Antwort auf diesen Anspruch hat das „Wir“-Festival gegeben, das zur gleichen Zeit in Halle stattgefunden hat. Sieben Wochen lang sind in über 400 Veranstaltungen Räume für Begegnungen geschaffen worden, die sich kritisch mit dem Thema Rechtsextremismus beschäftigt haben. Auch wenn die „SeitenWechsler“ die Hoffnung hegen, dass ihre Messe einen gesellschaftlichen „Dammbruch“ markiert, so war er doch im Vergleich zum „Wir“-Festival thematisch und personell ein dünnes Rinnsal. Deswegen braucht es zukünftig nicht nur in Halle, sondern an vielen Orten unseres Landes „Wir“-Festivals, die Diversität feiern und echte Dialoge ermöglichen.
Buchmesse doch im Vergleich zum „Wir“-Festival thematisch und personell nur ein dünnes Rinnsal
Dr. Sönke Lorberg-Fehring ist Islambeauftragter der Nordkirche, psychodramatischer Supervisor und leitet interreligiöse Kurse in Klinischer- Seelsorge-Ausbildung. Im Februar 2026 erscheint im Neukirchner-Verlag das Buch „Kirche gegen den Hass. Mit dem alltäglichen Rechtsextremismus umgehen. Theologische und praktische Ansätze für Gemeinden“, das er gemeinsam mit Bettina Schlauraff herausgibt.
Beitragsbild: Eingang der Messe in Halle, Veranstalter verhindern mit großen Schirmen Fotografieren der Messegäste durch kritische Journalisten, Foto: Sönke Lorberg-Fehring


