Einem Dilemma katholischer Liturgie und ihrer spezifischen Sprache geht Stephan Wahle nach. Er blickt am Tag der Muttersprache auf die Herausforderung einer sprachlichen Vermittlung theologischer und spiritueller Tiefe.
Der 21. Februar ist der internationale Tag der Muttersprache. Auf Bestreben der UNESCO soll er in aller Welt gefeiert werden, um die hohe Bedeutung sprachlicher Vielfalt zu würdigen. Wie wichtig die Sprache für Prozesse von Identitätsbildung und Inkulturation ist, zeigt sich fast täglich in einer pluralen Gesellschaft. Sprache verbindet Menschen gemeinsamer Herkunft, auch in der Fremde. Sprache trennt aber auch; nicht von ungefähr sprechen wir von „Sprachbarrieren“. Versuche, eine Art „Welteinheitssprache“ zu schaffen, sind allesamt gescheitert. Auch in der römisch-katholischen Kirche spricht (fast) niemand mehr Latein.
wo Menschen um ihre
Sprache gekämpft haben…
Die Geschichte kennt viele Beispiele, wo Menschen um ihre Sprache gekämpft haben. So etwa in Südtirol, wo nach der Abtrennung des Landes von Österreich-Ungarn an Italien nach dem Vertrag von Saint-Germain (1919/1920) die italienischen Faschisten die deutsche Sprache und damit die Tiroler Kultur mundtot machen wollten. Oder in Pakistan: Im Jahr 1952 sollten die Landsleute mit der Muttersprache Bengalisch auf staatliche Anordnung nur noch Urdu sprechen, zumindest als offizielle Amtssprache, obwohl diese nur für 3% des Landes die Muttersprache war. An einem 21. Februar und den folgenden Tagen kam es zu großen Demonstrationen, bei denen vielen Menschen ihr Leben ließen. 1999, 28 Jahre nach der Unabhängigkeit von Pakistan, beantragte die Regierung von Bangladesch bei der UNESCO, in Erinnerung an den „Tag der Märtyrer“ den 21. Februar zum weltweiten Tag der Muttersprache zu erheben.
Markenzeichen der letzten katholischen Liturgiereform
In der katholischen Kirche führte die Muttersprache lange Zeit ein Schattendasein, galt sie doch als Markenzeichen evangelischen Gottesdienstes. Kaum ein anderes Phänomen wird dann aber mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) und der nachgehenden Liturgiereform in Verbindung gebracht, wie der Übergang der Liturgiesprache von Latein in die Mutter- bzw. Volkssprachen. Auch wenn sich diese Entwicklung schon lange vor dem Konzil abgezeichnet hat, so hatten doch die wenigsten Bischöfe ein entsprechendes Votum in die Konzilsberatungen eingebracht. Eine behutsame Fortschreibung der Liturgie sahen die meisten Bischöfe durchaus als dringliche Aufgabe an, allerdings keine grundsätzliche Erneuerung, auch keine vollständig volkssprachliche Messliturgie, schon gar nicht das fast vollständige Verschwinden lateinischer Gebete und Gesänge aus der Festkultur römisch-katholischer Gemeinden. Immerhin gab es schon lange einen „Schott“ oder andere „Volksmessbücher“, über die das Volk die vom Priester auf Latein zelebrierte Messe mitlesen konnte. Das parallele Nebeneinander sollte aber eine Übergangslösung hin zu einer authentischen Mitfeier aller Getauften sein. Der Wandel der Liturgiesprache ist Ausdruck eines gewandelten Liturgieverständnisses: von der Zelebration des Priesters für das Volk zur gemeinsamen Feier und Trägerschaft der Liturgie in differenzierter Gemeinschaft.
volle, bewusste und tätige
Teilnahme an der Liturgie
Kritische Stimmen sehen in dieser dynamischen Entwicklung der Nachkonzilszeit bis heute einen Bruch mit dem Konzilswillen. Schließlich heißt es in Artikel 36 § 1 der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium vom 4. Dezember 1963: „Der Gebrauch der lateinischen Sprache soll […] in den lateinischen Riten erhalten bleiben.“ Gilt jedoch die „oberste Maxime“ (Art. 79) der vollen, bewussten und tätigen Teilnahme (participatio actuosa) aller Getauften für die gesamte Feier (ohne Ausnahme!), dann war die Entwicklung zur vollständigen volkssprachlichen Liturgie eine pastorale und theologische Konsequenz. Das schließt gewiss nicht aus, den großen Schatz lateinischer Kirchenmusik kreativ und im Wechselspiel mit volkssprachlicher Musik und mystagogischer Erschließung lebendig zu halten.[1]
Eine Frage der Prinzipien
Im Abstand von zwei Generationen haben sich die kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte allerdings massiv geändert. Während zur Konzilszeit noch von einer mehr oder weniger breiten religiösen und liturgischen Bildung ausgegangen werden konnte, muss heute unumwunden zugestanden werden, dass viele Menschen zu dem Anspruch gottesdienstlicher Teilhabe und Teilnahme nicht mehr in der Lage sind oder diesen gar nicht anstreben, ja noch mehr: Von der tradierten Liturgie der Kirche erwarten immer weniger Menschen überhaupt noch etwas für ihr Leben. Die Gründe für diesen Entfremdungsprozess sind vielfältig, nur eins steht fest: Auch eine Liturgie in den Muttersprachen konnte dem Relevanzverlust nicht entgegenwirken, ganz im Gegenteil. Erik Flügges provokanter Buchtitel „Die Kirche verreckt an ihrer Sprache“ gilt nicht zuletzt für die heutige Sprache der Liturgie, die von vielen Menschen als antiquiert, unverständlich und formelhaft empfunden wird.[2]
Kann man so
heute noch beten?
Mit ein Grund für dieses Empfinden ist das Dilemma katholischer Liturgie als Übersetzungsliturgie. Ausgangspunkt für die meisten liturgischen Feiern ist die lateinische Editio typica, also das jeweilige universalkirchliche Liturgiebuch in lateinischer Sprache. Dies gilt vor allem für die Eucharistiefeier, die Sakramentenfeiern und die Tagzeitenliturgie. Das Ringen um die adäquaten Richtlinien zur Übertragung der lateinischen römisch-katholischen Liturgie in die Volkssprachen ist seit der ersten Instruktion Comme le prévoit (1969) ein Dauerbrenner. Vor allem als 2001 die Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung mit der Instruktion Liturgiam authenticam die Richtlinien änderte und danach als erstes liturgisches Buch das Begräbnisrituale für das deutsche Sprachgebiet 2009 herausgegeben wurde, kam dieses Dilemma unverblümt zum Vorschein. Zum Sinnbild einer fremd und unverständlich empfundenen Sprache sind die viel zitierten „Ohren der Barmherzigkeit“ aus einem alten Verabschiedungsgebet geworden – eine Metapher, mit der Gott um das Erhören der Bitten seines Volkes angerufen wird.[3] Kann man so heute noch beten? Treffen diese und andere Bilder, Vokabeln und Redewendungen auf ein heutiges Sprachempfinden? Oder anders gefragt: Verlangt liturgische Sprache ein Mindestmaß an Vertrautheit und Bildung, weil sie immer und notwendigerweise rituelle Sprache ist, die so an die erzählten oder inszenierten Ursprungserzählungen rückgebunden bleiben will? Dem Begräbnisrituale wurde auf jeden Fall in kurzer Zeit ein Manuale mit sprachlich angepassten Übersetzungen zur Seite gestellt, die damals laufenden Arbeiten am deutschsprachigen Messbuch wurden vorläufig eingestellt (und erst 2024 wieder aufgenommen).
Konzept der
dynamischen Äquivalenz
Mit dem Motu proprio Magnum principium von Papst Franziskus (2017) hat sich das Blatt aktuell wieder gewendet. Es wird wieder mehr an dem früheren Konzept der dynamischen Äquivalenz angeschlossen, ohne jedoch die Treue zum Originaltext aufheben zu wollen. So ist im Anwendungsdekret Postquam Summus Pontifex (2021) von einer „dreifachen Treue“ die Rede: Treue zum Originaltext, Treue zur Zielsprache und Treue zu den Rezipient:innen und ihrem Sprachempfinden (vgl. Nr. 21-23).[4]
Ein gelungenes Beispiel für das Prinzip der dynamischen Äquivalenz ist der deutsche Entlassruf am Ende der Eucharistiefeier „Geht hin im Frieden.“ In seiner Schlichtheit entspricht der Originaltext „Ite missa est“ (wörtlich: „Geht, es ist Entlassung“) dem juridischen Sprachstil lateinischer Gebetssprache. Die deutsche Übertragung bleibt dem Inhalt des Rufes durchaus treu, verdeutlicht das Friedensmotiv doch den geistlichen Gehalt der Entlassung: Ihr, denen in Christus der wahre Frieden begegnet ist, könnt jetzt in freudiger Zuversicht auseinandergehen! Oder kürzer: Geht hin im Frieden.
Es ist den aktuellen lehramtlichen Referenztexten das Bemühen um ein harmonisierendes Konzept anzumerken, das gleichermaßen alle Ebenen einer liturgischen Sprachhandlung zu berücksichtigen versucht. Dennoch gibt es faktisch lateinische Texte, deren theologische Tiefe nur im Original erschlossen werden können und die auch mit größter philologischer bzw. sprachlich-poetischer Kompetenz eine Sprachbarriere bleiben. Ein Paradebeispiel ist die Dreifaltigkeitspräfation mit der Lobpreisung Gottes in der „Sonderheit in den Personen“, der „Einheit im Wesen“ und der „gleiche(n) Fülle in der Herrlichkeit“. Kann man der Vers „non unius singularitate personae, sed in unius Trinitate substantiae“ überhaupt sachlich angemessen in ein heutiges, deutsches Sprachempfinden übertragen?
Originär volkssprachliche Texte
So wird in der Liturgiewissenschaft schon lange erwogen und in neueren Gottesdienstformen längst praktiziert, originär volkssprachliche Texte zu schaffen und in die offiziellen liturgischen Bücher aufzunehmen. Bereits das Messbuch von 1975 enthält 41 „Tagesgebete zur Auswahl“, die keine Übersetzungen lateinischer Orationen sind. Als Fortentwicklung sollen für die laufende Revisionsarbeiten Perikopenorationen geschaffen werden, die alternativ zu den tradierten Orationen (Tagesgebete) gebetet werden können. Auch sollen weitere Kommunionverse in Abstimmung zu den Sonntagsevangelien im Jahreskreis und ggfs. weitere deutsche Eigentexte für besondere Anlässe oder Gruppengottesdienste geschaffen werden. Ob durch diese kleinen Innovationen die Sprache der Liturgie tatsächlich anders wahrgenommen und empfunden werden wird, bleibt abzuwarten. Wünschenswert wäre ein spannungsvolles und ausgewogenes Miteinander tradierter, also übersetzter und neuer, also in den Muttersprachen geschaffener liturgischer Texte.
Größerer Spielraum
authentischer Liturgie
Gottesdienstliche Elemente, die nicht von den lateinischen Vorlagen abhängig sind, eröffnen naturgemäß einen größeren Spielraum authentischer Liturgie. Folgende Zeilen stammen von dem Dichter und Theologen Christian Lehnert und sind dem evangelischen Wochengebet zum Letzten Sonntag nach Epiphanias entnommen:
Jesus Christus, (…)
(e)rscheine,
wo Menschen blind für dich sind,
Schatten,
die nur auf sich selbst hoffen
und auf ihre eigenen Möglichkeiten,
erscheine,
wo Egoismus sich als Dienst tarnt,
wo Profitgier sich Innovation nennt,
wo sich Gleichgültigkeit als Weg nach innen maskiert.
Wir singen:
Du Morgenstern, du Licht vom Licht, / das durch die Finsternisse bricht,
du gingst vor aller Zeiten Lauf / in unerschaffner Klarheit auf.[5]
Für eine Liturgie in den Muttersprachen, die sowohl verständlich ist als auch das unaussprechliche Mysterium Gottes bewahrt, braucht es unbestritten das Sprach- und Zeitgefühl von Dichterinnen und Dichtern. Das wusste bereits Martin Luther.[6]
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Stephan Wahle, Prof. Dr., geb. 1974, lehrt Liturgiewissenschaft an der Theologischen Fakultät Paderborn.
Letzte Veröffentlichung: Noch manche Nacht wird fallen. Liturgie in Krisenzeiten. Würzburg: Echter 2024.
Titelbild: Grant Whitty / unsplash.com
[1] Vgl. Jakob Johannes Koch, Traditionelle mehrstimmige Messen in erneuerter Liturgie – ein Widerspruch?, Regensburg 2002.
[2] Vgl. Erik Flügge, Der Jargon der Betroffenheit. Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt, München 2016.
[3] Vgl. Benedikt Kranemann/Stephan Wahle (Hg.), „… Ohren der Barmherzigkeit“. Über angemessene Liturgiesprache (Theologie kontrovers), Freiburg i. Br. 2011.
[4] Vgl. Benedikt Kranemann, Magnum principium. Ein neues Kapitel für die Volkssprache in der Liturgie, in: ETSt 9 (2018) 205–225; ders., Das Ringen um die Sprache lebendiger Liturgie. Debatten in der jüngeren und jüngsten Liturgiegeschichte, in: BThZ 39 (2022) 184–203; Winfried Haunerland, Das Motu proprio Magnum principium als Impuls für die liturgische Erneuerung, in: AKathKR 187 (2020) 33–50.
[5] Quelle: Wochengebet der VELK; www.velkd.de (zuletzt abgerufen am 30.01.2025).
[6] Vgl. Martin Luther, Formula Missae et communionis (1523): WA XII, 218.