Der katholische Integralismus bekämpft die liberale Trennung von Politik und Religion und will katholische Grundsätze mit Hilfe des Staates durchsetzen. Seine Hochzeit hatte er vor dem I. Weltkrieg, einige seiner Grundlagen aber galten bis zum II. Vatikanum. Von Claus Arnold
Für die Betrachtung des Verhältnisses von römischer Kirche und Moderne ist es grundlegend, dass das päpstliche Lehramt von der Französischen Revolution bis hin zum II. Vaticanum an der Idee des christlichen Staates und der („mittelalterlichen“) christlichen Gesellschaft („societas christiana“) festhielt. Obwohl praktische Arrangements mit den liberalen Rechtsstaaten im Sinne der von Bischof Dupanloup nach dem Syllabus von 1864 entwickelten Unterscheidung von „These“ (Ideal) und „Hypothese“ (kompromisshafter Umsetzung) möglich waren, prägte diese intransigente und tendenziell integralistische Option das Lehramt der meisten Päpste.
Die Idee des christlichen Staates
Dabei wurde ein Narrativ lehramtlich rezipiert, welches im Wesentlichen auf die traditionalistische Reaktion auf die Französische Revolution bei Joseph de Maistre oder Louis de Bonald und das romantisch-ultramontane Geschichtsdenken zurückging. Die gesamte Neuzeit wurde dabei als Geschichte der Auflehnung und des Ungehorsams gegen die legitime gottgesetzte Autorität in Staat und Kirche gesehen. Diese Deszendenzgeschichte des Ungehorsams läuft in den lehramtlichen Äußerungen dabei von der Reformation über die Aufklärung hin zur Revolution, dem Liberalismus, der Freimaurerei und dem Sozialismus als dem legitimen Kind des materialistischen Liberalismus. In dieser lehramtlich approbierten Deszendenzgeschichte erscheint Autorität als Gegenbegriff zu Selbstverantwortung, zu Autonomie in Wissenschaft und Moral, damit auch zum Eigenrecht des Historischen in der Forschung, zur Volkssouveränität, zur Demokratie.
Lehramtliche Vorgaben
Zwar hat sich Leo XIII. (1878-1903) in einzelnen Punkten bemüht, sich vom Traditionalismus und dem romantischen Denken mit der Hilfe natur- und vernunftrechtlicher Begründungen abzugrenzen, das war aber aufgrund der von ihm ansonsten mitgeschleppten lehramtlichen Vorgaben seiner Vorgänger letztlich kaum möglich, wie Rudolf Uertz festgestellt hat. Man kann dieses Dilemma am verzweifelten Versuch von deutschen Theologen der Zwischenkriegszeit wie Peter Tischleder ablesen, die den Gedanken der Volkssouveränität irgendwie lehramtlich stützen wollten. Das letztlich integralistische Programm Leos XIII. fand seine Verschärfung bei Pius X. mit seinem Wahlspruch alles, Kirche, Staat und Gesellschaft, in Christus zu erneuern (vgl. Eph 1,10), und nicht zuletzt bei Pius XI. mit seiner Idee des regno sociale di Cristo, der gesellschaftlichen Herrschaft Christi, die er zumindest zeitweise besser mit dem Faschismus als mit der Christdemokratie zu erreichen können glaubte.
Die integralistische Agenda unter Pius X. (1903-1914)
Als nun explizit „integrale Katholiken“ bezeichneten sich unter Pius X. jene Kreise, die einen nicht exklusiv theologischen, sondern auch direkt gesellschaftlich wirksamen Antimodernismus vertraten. Der kuriale Antimodernist Umberto Benigni definierte die Anliegen so: „Wir sind integrale Römische Katholiken. Wie es dieser Begriff anzeigt, akzeptiert der integrale Römische Katholik vollständig (integral) die Lehre, die disziplinäre Ordnung und die Anweisungen des Heiligen Stuhles sowie alle ihre legitimen Konsequenzen für das Individuum und die Gesellschaft. Er ist ‚papal‘, ‚klerikal‘, antimodernistisch, antiliberal und antisektiererisch. Also ist er völlig (integral) konterrevolutionär, weil er nicht nur der Feind der jakobinischen Revolution und des sektiererischen (freimaurerischen) Radikalismus ist, sondern auch des religiösen und sozialen Liberalismus“.
Der Kirchenhistoriker Benigni war seit 1902 in der Römischen Kurie tätig, die er 1911 wohl aufgrund von Spannungen mit Kardinalstaatssekretär Merry del Val verließ. Benigni genoss aber weiterhin die Gunst von Pius X., der ihn umgehend zum Apostolischen Protonotar ernannte. Es spricht für die (halbierte) „Modernität“ Pius X., dass er sich weiterhin des internationalen Presse- und Informationswesens bedienen wollte, das Benigni aufgebaut hatte. Dieses beruhte wesentlich auf dem 1909 begründeten Sodalitium Pianum, einer konspirativen Gruppe von maximal 50 europäischen Antimodernisten, die als „Cousins“ unter Decknamen miteinander korrespondierten. Das nach dem großen Gegenreformator Pius V. benannte Sodalitium trug den Codenamen „La Sapinière“ (das Tannenwäldchen).
Umberto Benigni und das „Sodalitium Pianum“
Seine Arbeit hatte eine doppelte Richtung: Zum einen wurden gezielte Pressekampagnen gegen den „politischen und sozialen Modernismus“ in Europa gestartet, der für den Integralismus ein Teilphänomen einer größeren liberal-jüdisch-freimaurerischen Verschwörung gegen die katholische Kirche darstellte. Neben geheimen Zirkularschreiben fungierte dabei Benignis eigenes Blatt, die „Correspondance de Rome“, als Leitorgan, das die angeschlossenen Blätter mit Informationen versorgte. Dieses Netzwerk umspannte die Organe „La Vigie“ (Frankreich), „Myśl Katolicka“ (Der Katholische Gedanke, Polen), die Trierer „Petrusblätter“, das „Österreichische katholische Sonntagsblatt“ und die Wochenschrift „Klarheit und Wahrheit“ des rechten Zentrumsabgeordneten Hans Georg Graf von Oppersdorff. Zum anderen sammelten die „Cousins“ Informationen bzw. Denunziationen, die Benigni an das Staatssekretariat sowie an Pius X. bzw. dessen Sekretäre weitergab.
Im Visier des integralistischen Netzwerks
Ins Visier des Sodalitium gerieten insbesondere katholische Politiker und Gewerkschafter, die sich für eine von der Hierarchie relativ unabhängige, tendenziell interkonfessionelle christdemokratische Ausrichtung bemühten. Im Einzelnen waren dies die 1910 von Pius X. mit dem Schreiben Notre charge apostolique aufgelöste christdemokratische Bewegung Le Sillon des Laien Marc Sangnier in Frankreich, die Lega democratica nazionale des 1907 suspendierten und 1909 exkommunizierten Priesters Romolo Murri in Italien, die katholisch-soziale Bewegung in Polen, die österreichischen Christlich-Sozialen (die freilich auch antisemitische Tendenzen zeigten) und die sogenannte „Kölner“ bzw. „Mönchengladbacher“ Richtung im deutschen Gewerkschafts- und Zentrumsstreit.
Der nach dem Zentrumsblatt „Kölnische Volkszeitung“ bzw. nach dem Sitz des Volksvereins für das katholische Deutschland benannte sozialkatholische Flügel der deutschen Zentrumspartei trat für die interkonfessionellen (gleichwohl mehrheitlich katholischen) Christlichen Gewerkschaften ein, während die „Berliner“ bzw. „Trierer“ Richtung (unterstützt vom zuständigen Breslauer Fürstbischof Georg Kardinal von Kopp und dem Trierer Bischof Michael Felix Korum) für „Fachabteilungen“ in strikt katholischen Arbeitervereinen optierte. In der Sache scheiterte Benigni am Widerstand der mehrheitlich „kölnisch“ gesonnenen deutschen Bischöfe: Die päpstliche Enzyklika „Singulari quadam“ vom 24.9.1912 favorisierte zwar eindeutig die Arbeitervereine, erlaubte dem deutschen Episkopat aber, das Engagement von Katholiken in den Christlichen Gewerkschaften zu dulden.
Die anti-integralistische Abwehr im deutschen Katholizismus
Benigni belieferte bis zum Tode Pius X. im August 1914 den Papst mit „Informationen“. Unter Benedikt XV. (1914-1922) sank sein Stern rapide, die Konzilskongregation löste sein Sodalitium 1921 förmlich auf. Pius XI. (1922-1939) erneuerte zwar den Kampf gegen den „sozialen Modernismus“, grenzte sich aber durch die Verurteilung der Action française (1926) deutlich vom integralistisch-rechtskatholischen Milieu ab. Dessen Gedankengut lebte – mit antisemitischem Einschlag und einer deutlichen Nähe zum Faschismus – allerdings in Organen wie der Schweizer „Schildwache“ (1912–1945) weiter und floss letztlich in die traditionalistische Bewegung der Gegenwart ein. Die erfolgreiche anti-integralistische Abwehr prägte hingegen den Mainstream des deutschen Katholizismus nachhaltig.
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Literatur:
Claus Arnold, Francesco Tacchi, Giovanni Vian, The Controversy over Integralism in Germany, Italy and France during the Pontificate of Pius X (1903-1914) Turnhout 2024.
Franziska Metzger, Die «Schildwache». Eine integralistisch-rechtskatholische Zeitung 1912-1945, Fribourg 2000.
Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht. Das katholische Staatsdenken in Deutschland von der Französischen Revolution bis zum II. Vatikanischen Konzil 1789-1965), Paderborn 2005.
Francesco Tacchi, Vatikanische Quellen zum deutschen Gewerkschaftsstreit. Die bischöflichen Gutachten und die Entstehung der Enzyklika »Singulari quadam« (1912), Paderborn 2022.
Klaus Unterburger, Anti-Integralismus. Eine Neubewertung des Verhältnisses Kardinal Bertrams zur deutschen Tradition der Universitätstheologie, des politischen Katholizismus und der Eigenverantwortlichkeit der Laien, in: Thomas Scharf-Wrede (Hg.): Adolf Kardinal Bertram (1859–1945), Regensburg 2015, 95–116.
Nina Valbousquet, Catholique et antisémite. Le réseau de Mgr Benigni, 1918-1934, Paris 2020.


