Der Begriff des „gerechten Friedens“ hat seit der Offensive der Russischen Föderation gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 in der politischen Debatte Konjunktur. Davor war es eher ein nur innerhalb der theologischen Friedensethik verwendetes Konzept. Michael Haspel untersucht diese Entwicklung und stellt dabei eine erhebliche Bedeutungsverschiebung fest.
Schon Ende Mai 2022 forderte die Spezialistin für internationales Recht Mona Ali Khali auf dem Portal PassBlue einen „Gerechten Frieden für einen ungerechten Krieg in der Ukraine“. Damit meinte sie nicht nur die Beendigung der Kampfhandlungen, sondern die Rückgabe aller Gebiete an die Ukraine, Aufarbeitung der Kriegsverbrechen und Sicherheitsgarantien. Es ging also um die Wiederherstellung eines gerechten Zustandes, der dem vor der Aggression 2022 bzw. 2014 entspricht, Schäden kompensiert und Verbrechen ahndet.[1] Zu diesem Zeitpunkt waren die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine bereits gescheitert. Durch die Kriegsverbrechen in Butscha und die verbesserte militärische Situation waren weitgehende Zugeständnisse für die Ukraine schwer zu akzeptieren. Und von Anfang an war unklar, ob die russische Seite wirklich ein Ergebnis erzielen wollte, das für die Ukraine akzeptabel gewesen wäre.
Ursula von der Leyen führte fast ein Jahr später den Begriff des gerechten Friedens in die internationale politische Debatte ein.[2] Die politische Absicht ist, sowohl das Recht der Ukraine, die okkupierten Gebiete zurückzuerobern, und zum anderen die Pflicht der internationalen Gemeinschaft zum Beistand zu legitimieren.
In der Sache trifft sich diese Begriffsverwendung mit der von Augustinus ausgehenden Tradition des Gerechten Kriegs. Um militärische Gewaltanwendung zu rechtfertigen, bedarf es eines gerechten Grundes (causa iusta). Als solcher werden Notwehr, Nothilfe und Strafmaßnahmen gegen begangenes Unrecht angesehen. Darüber hinaus darf die Gewalt nur von einer legitimen Autorität (legitima potestas) angewendet werden. Schließlich muss die Gewaltanwendung mit einer richtigen, also legitimen Absicht (recta intentio) erfolgen und nicht etwa nur als Vorwand, um andere Ziele zu erreichen – eine Problematik, die bis heute nichts an Aktualität verloren hat.[3] Denn für Augustinus war das Ziel – und so blieb es in der Tradition des Gerechten Kriegs – immer der Frieden, um genauer zu sein, der gerechte Frieden (iustus finis). Gewaltanwendung war nur zur Abwehr und Korrektur eines Unrechts, wie z.B. eines Angriffskriegs, erlaubt.[4]
Seit Russland militärisch wieder die Oberhand gewonnen hat, verschiebt sich der Inhalt des Begriffs erneut. Ganz aktuell fragt eine Veranstaltung der Körber-Stiftung zum dritten Jahrestag der russischen Großoffensive: „Was ist gerechter Frieden?“[5] Die klare Forderung hat sich in eine Frage verwandelt, seit offensichtlich ist, dass die okkupierten Gebiete militärisch vermutlich nicht zurückerobert werden können. D.h. die Frage zielt darauf, auf welche Zugeständnisse und Kompromisse sich die Ukraine einlassen können müsste, um eine wie auch immer geartete Beendigung des Krieges mit Russland – möglicherweise unter Druck der Trump-Regierung – zu vereinbaren. Eigentlich ist damit der Anspruch eines gerechten Friedens schon aufgegeben. Es geht eher um die Grenzen des Zumutbaren um der Beendigung des Blutbades willen.
Es geht eher um die Grenzen des Zumutbaren um der Beendigung des Blutbades willen.
Gerechter Frieden als Leitbild kirchlicher Friedensethik
Auch wenn hier ein Begriff aus der theologischen Friedensethik in den letzten drei Jahren eine steile Karriere gemacht hat, dürfte dies nicht gerade Begeisterung auslösen. Denn seit den Forderungen der Ökumenischen Versammlungen in der DDR war das Konzept des Gerechten Friedens zum Gegenentwurf zur Tradition des Gerechten Kriegs als globale Gerechtigkeitsethik entwickelt worden – sowohl in der evangelischen, als auch der römisch-katholischen Kirche in Deutschland sowie weiten Teilen der Welt-Ökumene.[6]
Grundlegende inhaltliche Leitlinie ist das Ziel, Gewalt zu minimieren und langfristig zu überwinden, sowie internationale soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen. Der Anspruch ist, einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Es soll nicht mehr nach den Kriterien für einen (gerechten) Krieg, sondern nach den Konstitutionsbedingungen für Frieden und Gerechtigkeit – und zwar in transnationaler Perspektive – gefragt werden. Als wichtige Dimensionen kommen damit in den Blick: Vermeidung von Gewalt durch (zivile) Konfliktprävention und -transformation. Das (internationale) Recht als Institution der gewaltfreien Konfliktaustragung und schließlich die Schaffung gerechter sozialer und ökonomischer Strukturen in globalem Horizont zur Eliminierung und Vermeidung von gewaltsam ausgetragenen Konflikten. Durch diesen Perspektivwechsel bezieht sich das Konzept des Gerechten Friedens nicht mehr nur auf gewaltförmige Konflikte, sondern umfasst auch die Klimagerechtigkeit. Damit ist der Horizont einer auf den Einzelstaat fixierten Staatsethik zu einer globalen Gerechtigkeitsethik erweitert.[7]
Der Horizont ist zu einer globalen Gerechtigkeitsethik erweitert.
Insofern wird Gerechter Friede nicht mehr nur als die Abwesenheit von Krieg, sondern als gelingendes Leben in politischer, sozialer, kultureller und ökonomischer Hinsicht verstanden. Dies hat entsprechend zu Einwänden geführt, ob denn ein so weiter Friedensbegriff[8] nicht seine analytische Schärfe verliere und dann nicht die gesamten gesellschaftlichen Zusammenhänge darunter gefasst werden könnten.[9]
In der ökumenischen Debatte brach anlässlich der Friedenskonvokation in Jamaika 2011 die Forderung vieler Kirchen im globalen Süden nach einer Priorisierung der Gerechtigkeit wieder auf. Die 10. Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen in Busan 2013 vermied den Begriff „Just Peace“ aus diesen Gründen und rief zu einer „Pilgrimage of Justice and Peace“ auf, um so die Eigenständigkeit und den Vorrang der Gerechtigkeit zu betonen.
Mit der Aggression Russlands gegen die Ukraine stellte sich die Frage nach der Operationalisierung des Konzepts des Gerechten Friedens neu. In ersten Stellungnahmen aus dem evangelischen Bereich hieß es etwa, mit Waffen könne man keinen Frieden schaffen. Wenn man einen umfassenden theologischen Begriff des Gerechten Friedens anlegt, ist das evident. Aber wie bezeichnet man dann die Beendigung von Kampfhandlungen – auch wenn eine Situation entsteht, die vermutlich weit von dem theologischen Konzept des Gerechten Friedens entfernt sein wird, aber zumindest keine Menschen mehr getötet werden?
Die Entwicklung der Semantik des Gerechten Friedens und die Einwände gegen das theologische Konzept sprechen dafür, sich von dem umfassenden Begriff des Gerechten Friedens als ethischem Leitbild zu lösen und in alter kirchlicher Tradition von iustitia und pax zu sprechen, deren Reihenfolge ja nicht zufällig ist. Dies ermöglichte auch einen theologischen Friedensbegriff zu entfalten, der analytisch schärfer und damit auch friedenspolitisch anwendbar wird – ohne die systematische Verbindung zur Gerechtigkeit aus dem Blick zu verlieren. Dann könnten Friedensethik und Sicherheitspolitik konstruktiv zusammengedacht werden, um auf die Herausforderungen der Gegenwart angemessene Antworten entwickeln zu können.[10]
___
Apl.Prof. Dr. Michael Haspel lehrt Systematische Theologie an der Universität Erfurt und an der Friedrich Schiller-Universität Jena.
Beitragsbild: pixabay.com
[1] https://www.passblue.com/2022/05/29/a-just-peace-for-an-unjust-war-in-ukraine/ Eine gekürzte Fassung ist auf Deutsch erschienen in: VEREINTE NATIONEN 4/2022, 165.
[2] Der früheste Nachweis, den ich recherchieren konnte, stammt von Anfang April 2024: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/von-der-leyen-und-macron-auf-friedensmission-in-china,TadFiYZ Allerdings findet er sich in diesem Zeitraum vor der EU-Ukrainekonferenz vermehrt und ist seither fester Bestandteil des Diskurses.
[3] Zur Systematik vgl. Haspel, Michael: Friedensethik und Humanitäre Intervention. Der Kosovo-Krieg als Herausforderung evangelischer Friedensethik, Neukirchen-Vluyn 2002, 78-145.
[4] Vgl. De civitate Dei, XIX. Übersetzung: Augustinus: Vom Gottesstaat, eingel. und übertragen von Wilhelm Thimme, 2 Bde., (= Bde. 3 u. 4 der Werke des Augustinus), Zürich 1955; ders.: Contra Faustum Manichaeum 22, 74. Vgl. hier und auch zum Folgenden Haspel, Michael: Christliche Friedensethik. Von einer individuellen Nachfolge- zu einer nationalen Staats- und schließlich globalen Gerechtigkeitsethik, in: Bernhardt, Reinhold; Schmid, Hansjörg (Hg.): Konflikttransformation als Weg zum Frieden. Christliche und islamische Perspektiven (Beiträge zu einer Theologie der Religionen 18), Zürich 2020, 187-205.
[5] https://koerber-stiftung.de/veranstaltungen/was-ist-gerechter-frieden/
[6] Vgl. Aktion-Sühnezeichen/Friedensdienste-Pax-Christi: Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Dresden – Magdeburg – Dresden. Eine Dokumentation, Berlin 1990; Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg): Gerechter Friede, Bonn 2000; Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.): Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2007.
[7] Als Überblick zur Debatte vgl. den Sammelband Strub, Jean-Daniel; Grotefeld, Stefan (Hg.): Der gerechte Friede zwischen Pazifismus und gerechtem Krieg. Paradigmen der Friedensethik im Diskurs, Stuttgart 2007.
[8] Zum Verständnis von weitem und engem bzw. negativem und positivem Friedensbegriff vgl. Bonacker, Thorsten; Imbusch, Peter: Zentrale Begriffe der Friedens- und Konfliktforschung: Konflikt, Gewalt, Krieg, Frieden. in: Imbusch, Peter; Zoll, Ralf (Hg.): Friedens- und Konfliktforschung. Eine Einführung, Wiesbaden, 5. überarb. Aufl. 2010, 67-142, hier 126-140.
[9] Neben der Kritik am weiten Friedensbegriff finden sich auch kritische Einwände zum Begriff des Gerechten Friedens an sich. Zum einen wird gefragt, ob er nicht tautologisch sei, zum anderen wird darauf hingewiesen, dass Gerechtigkeit und Frieden durchaus in Spannung treten können, also Gerechtigkeit sogar Anlass für Unfrieden sein könne.
[10] Vgl. zum aktuellen Diskurs vgl. Daase, Christopher; Deitelhoff, Nicole; Geis, Anna: Wer hat uns verraten? Friedens- und Sicherheitsforschung in Kriegszeiten, in: ZIB 31 (2) 2024, 82-105; Haspel, Michael: Sicherheitslogik und Friedenslogik gehören zusammen. Herausforderungen für die Evangelische Friedensethik durch den Ukraine-Krieg, in: evangelische aspekte 32, H. 2, 2022, 24-26.