Elisabeth März hat ein Selbstfindungsseminar besucht. Vom alltäglichen Funktionieren hin zum bewussten Leben sollte es den Weg zeigen. Warum sie kritisch auf diese Erfahrung zurückblickt, erzählt sie in diesem Text.
Den ersten „Bin ich hier im falschen Film?“-Moment erlebte ich am ersten Abend des Seminars, kurz vor dem Abendbrot. Eine Teilnehmerin wurde aus dem Kreis nach vorne geholt und musste einen Arm seitlich auf Schulterhöhe ausstrecken. Die Kursleiterin, die sich hinter sie stellte, kündigte an, verschiedene Parameter am Trapezmuskel zu „testen“. Zum Beispiel den Flüssigkeitshaushalt: Mit leichtem Ziehen an den Haaren oder Zusammendrücken einer Hautfalte und gleichzeitigem Druck auf den ausgestreckten Arm lasse sich feststellen, ob der Körper dehydriert sei. Der Arm der Teilnehmerin senkte sich. Sie musste nun ein paar Schlucke trinken und der Test wurde wiederholt. Druck auf den Arm – der Arm senkte sich erneut. Trotz des eben aufgefüllten Flüssigkeitshaushalts? Die Kursleiterin blieb keine Erklärung schuldig: Saftschorle – die die Teilnehmerin getrunken hatte – könne der Körper natürlich nicht als Flüssigkeit registrieren, sondern aufgrund des Zuckergehalts nur als Nahrung. Sie hätte also pures Wasser trinken müssen, um den Flüssigkeitshaushalt in Einklang zu bringen.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich in diesem Moment meine Gesichtszüge im Griff hatte. Was wurde mir hier für ein Hokuspokus aufgetischt? Diese Skepsis wuchs im Verlauf des mehrtägigen Seminars mit Irritation, Erschrecken und Empörung zu einem Knäuel zusammen, das dieser Text ein Stück weit entwirren soll.
alles begann sehr liebevoll und gut gemeint mit einem großzügigen Geschenk
Doch vielleicht sollte ich von vorne beginnen. Denn alles begann sehr liebevoll und gut gemeint mit einem großzügigen Geschenk. „Diese Ausbildung hat mir so gut getan, das ist sicher auch etwas für dich! Da kannst du endlich mal etwas für dich machen!“ Unter professioneller Anleitung der eigenen Persönlichkeit, den eigenen Bedürfnissen und Werten auf die Spur zu kommen, das klang für mich durchaus verheißungsvoll. Der Alltag zwischen Arbeit, Haushalt und kleinem Kind hatte mich voll im Griff, und regelmäßig merkte ich erst zu spät, dass ich auf mich selbst zu wenig achtete. Ich war also dankbar über das Geschenk – sieben Tage Selbstfindungsseminar, aufgeteilt auf zwei Termine – und bereit, mich auf die Dinge einzulassen, die da auf mich zukommen würden.
Mit gemischten Gefühlen saß ich nun im Auto und fuhr zum idyllisch gelegenen Tagungsort. Dankbar und mit Vorfreude auf ein paar Tage, in denen ich nichts tun musste, außer mich mit mir selbst zu beschäftigen. Und ein bisschen mulmig angesichts von möglichen Entdeckungen und Veränderungen, die mich aus der gewohnten Bahn werfen könnten. Mit der Erschütterung, die ich tatsächlich dort erfuhr, hatte ich allerdings nicht gerechnet.
mit Vorfreude auf ein paar Tage, in denen ich nichts tun musste, außer mich mit mir selbst zu beschäftigen
Die wissenschaftlich klingenden Begriffe, mit denen der Kurs gespickt war („Submodalitäten“), scheinbare biologische Tatsachen, wie beim Muskeltest, und die Zahlen, die mit großer Überzeugung genannt wurden („80% unserer Zeit sind wir in hypnotischen Zuständen“), suggerierten zunächst einmal Professionalität, Objektivität und Evidenz. Dazu kam die breite Ausbildung der Kursleiterin und ihre jahrzehntelange Erfahrung.
Die wissenschaftlich klingenden Begriffe suggerierten zunächst einmal Professionalität, Objektivität und Evidenz.
Jedenfalls beobachtete ich ungläubig die Demonstration des „Muskeltests“, hörte mir die Theorien über Meridiane an, auf denen Energie durch den Körper fließt, und ließ mich auch selbst auf einen Versuch ein, der mir das Verfahren aber in keiner Weise einleuchtender machte. In der Abendbrotpause schließlich begann ich zu recherchieren. „Mit anerkannten naturwissenschaftlichen und medizinischen Kenntnissen nicht vereinbar“, „Fehler- und Fälschungsmöglichkeiten auf Seiten des Therapeuten und des Klienten“[1], solche Stichworte, die mir beim Überfliegen des Wikipedia-Artikels in die Augen sprangen, nährten meine Zweifel. Und beim Weiterstöbern zu den anderen, leider muss ich es so sagen: pseudowissenschaftlichen Methoden, die Inhalt des Seminars waren, wurde es nicht besser. Das „Ausbildungskonzept“, das mir als über Jahre erprobt und erfolgreich angewandt vorgestellt worden war, stellte sich als Synkretismus aus unterschiedlichen Pseudowissenschaften heraus, aus dem jemand ein Geschäftsmodell gemacht hatte.
Jetzt könnte jemand einwenden: Und wenn es aber doch offensichtlich vielen Menschen hilft, sich selbst besser zu verstehen und ihre Lebensqualität zu steigern? Es muss ja nicht für jede*n etwas sein. Warum also nicht leben und leben lassen?
Hilft es den Menschen wirklich dabei, sich besser zu verstehen?
Aber: Hilft es den Menschen wirklich dabei, sich besser zu verstehen? Viele fühlen sich von der Zuordnung zu einem von fünf Persönlichkeits- oder einem von drei Wahrnehmungstypen, mit denen dieses Seminar arbeitet, genau getroffen und sehen darin ein Erklärungsmuster für Gefühle, Verhaltensweisen oder zwischenmenschliche Dynamiken. Wissenschaftlich haben diese Zuordnungen aber ungefähr den Wert eines Horoskops. „Psychologie heute“ schreibt dazu:
„Dass sich […] viele Menschen auf Anhieb mit ihrem Typ laut MBTI [Myers-Briggs-Typenindikator, ein weiteres Modell von Persönlichkeitstypen, Anm. EM] identifizieren, liegt wahrscheinlich am ‚Barnum-Effekt‘: unserer Neigung, allgemeingültige Aussagen als perfekt auf uns zugeschnitten zu empfinden. Der Barnum-Effekt kommt auch in der Astrologie zum Tragen, wenn einen der Persönlichkeitstyp laut Sternzeichen scheinbar treffsicher beschreibt. Die Charakterbeschreibungen sind dabei stets so universell und unkonkret, dass sie auf fast jeden zutreffen: Sind Sie auch gerne unter Leuten, brauchen aber hin und wieder Zeit für sich? Haben Sie Ihre Ziele im Blick, stehen sich aber manchmal selbst im Weg?“[2]
Der ‚Barnum-Effekt‘: unsere Neigung, allgemeingültige Aussagen als perfekt auf uns zugeschnitten zu empfinden.
Für eine solche vermeintliche Orientierung über die eigene Persönlichkeit sind Menschen bereit, sehr viel Geld zu bezahlen. Denn mit sieben Tagen Seminar ist es nicht getan, wenn man die Kurslogik ernst nimmt – vielmehr gibt es eine mehrstufige „Ausbildung“, die man über Jahre hinweg durchlaufen kann. Wozu diese Ausbildung genau qualifiziert, bleibt aber unklar. Jedenfalls scheint sie als Geschäftsmodell gut zu funktionieren. Und dank der flexibel einsetzbaren, empathisch wirkenden Ermutigung, man sei doch auf einem sehr guten Weg und es wäre schade, gerade jetzt aufzuhören, bleiben die Kund*innen gern bei der Stange.
Wozu diese Ausbildung genau qualifiziert, bleibt aber unklar. Jedenfalls scheint sie als Geschäftsmodell gut zu funktionieren.
Eine wirklich problematische Logik liegt meiner Einschätzung nach aber noch tiefer. Sie hat mit der im Kurs vertretenen esoterischen Überzeugung zu tun, dass alles – Innen und Außen, Körper und Geist – miteinander zusammenhänge und aufeinander einwirke. Damit soll gar nicht bestritten sein, dass es psychosomatische Zusammenhänge gibt und es sich lohnt, körperliches und psychisches Wohlbefinden im Zusammenhang zu betrachten. Hier jedoch wurden folgenschwere Kausalitäten konstruiert: Ein Infekt? Die Frequenz des Körpers ist nicht im Einklang. Eine schwere chronische Erkrankung? Hat damit zu tun, dass man sich nicht um sein inneres Gleichgewicht gekümmert oder Traumata der Vergangenheit nicht bewältigt hat. (Klar im Übrigen, dass da nur Homöopathie helfen kann und dass Impfungen krank machen.) Denkt man diese Logik zu Ende, dann schleicht sich hier der antike Tun-Ergehen-Zusammenhang wieder herein. Und Krankheit ist letztlich selbstverschuldet.
Denkt man diese Logik zu Ende, dann schleicht sich hier der antike Tun-Ergehens-Zusammenhang wieder herein.
Ebenso schwer erträglich finde ich die Konsequenzen hinsichtlich gesellschaftlicher Verantwortung. Der Glaube daran, dass das Äußere immer ein Spiegel des Inneren ist – und dass man nur auf Letzteres Einfluss nehmen kann – führt zu Vereinzelung und Ausblendung gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge. Besonders drastisch wurde es in meinem Seminar, als die (mutmaßlich weit überdurchschnittlich verdienenden) Teilnehmenden darüber sprachen, dass Reichtum eine Sache der inneren Einstellung sei. Jedes Kind werde reich geboren, weil es ja alles habe, was es brauche. Klassismus und Privilegienblindheit, getarnt als Selfcare.
Klassismus und Privilegienblindheit, getarnt als Selfcare.
Mir scheint es darum alles andere als heilsam, sich auf diese „Ganzheitlichkeit“ einzulassen, und ich halte es für mehr als eine Geschmacks- oder Typfrage, ob man von solchen Programmen profitiert. Ich rate davon ab. Denn davon profitieren, das tun zum größten Teil diejenigen, die aus der Erschöpfung und Sinnsuche der spätmodernen Menschen auf diese Weise Kapital schlagen.
Beitragsbild: Elisabeth März
[1] Wikipedia-Artikel „Kinesiologie (Parawissenschaft)“, https://de.wikipedia.org/wiki/Kinesiologie_(Parawissenschaft), Stand: 07.12.2025
[2] Corinna Hartmann: Persönlichkeitstypen, in: Psychologie heute, 08.03.2023, https://www.psychologie-heute.de/gesellschaft/artikel-detailansicht/42520-persoenlichkeitstypen.html; Stand: 07.12.2025.


