Papst Franziskus rief die Welt in «Laudato si’» vor zehn Jahren dazu auf, «singend und kämpfend» für die Zukunft unseres Planeten einzustehen. Seine Mitwelt-Enzyklika greift dazu auf das Schöpfungslied seines Vorbildes zurück. Von Niklaus Kuster.
Der sorgsame Umgang mit unserer Umwelt steht weit oben auf dem Sorgenbarometer: in der Schweiz, Europa und der südlichen Welt, wo sich Klimakatastrophen dramatisch mehren. Franz von Assisi dichtete den Sonnengesang im Frühling 1225, vor genau 800 Jahren. Was kennzeichnet dieses poetische Werk, das zur Weltliteratur gehört? Und wie kann eine Komposition des Mittelalters in die Nöte der Gegenwart sprechen?
Dieses poetische Werk, das zur Weltliteratur gehört.
Es gibt kaum ein Lied aus dem Mittelalter, das heute weltweit in so vielen Sprachen gesungen, vertont, getanzt, in Bildern und Glasfenstern dargestellt oder in Gärten erlebbar gemacht wird. Das Cantico di frate Sole heisst im ältesten Manuskript laudes creaturarum – Lobgesang der Geschöpfe. Jugendliche, die das Laudato si‘ am Lagerfeuer beschwingt singen, wären überrascht zu hören, dass Franz dieses Lied halbblind und schwer krank komponierte. Mit entzündeten Augen wochenlang in einer dunklen Hütte bei San Damiano gepflegt, konnte er kein Geschöpf sehen, mit dem er sich im Lied verband. Nicht einmal das Licht von „Bruder Feuer“ ertrug er in jenen Wochen zwischen März und Mai 1225.
Das Loblied, das den Schöpfer mit, für und durch alle Geschöpfe preist, ist ein Alterswerk des Mystikers. Nach seinem Bruch mit Assisi verbrachte Franz sein Leben entweder wandernd unterwegs oder zurückgezogen in kargen Eremitagen, die aus Höhlen an Berghängen bestanden. Das Leben mitten in der Natur führte in zwei Jahrzehnten zu einer tiefen Vertrautheit mit der Schöpfung.
Thomas von Celano, der erste Biograf, schildert die Naturmystik, die der Poverello in seinem Wanderleben und seinen eremitischen Zeiten entfaltete, wie folgt:
Dieser glückliche Wanderer hatte seine Freude an den Dingen, die in der Welt sind (…). Er sah die Welt als klaren Spiegel von Gottes Güte. In jedem Kunstwerk lobte er den Künstler. Was er in der geschaffenen Welt fand, führte er zurück auf den Schöpfer. Er pries in allen Werken die Hände des Herrn, und durch das, was sich seinem Auge an Lieblichem bot, schaute er hindurch auf den Urgrund und die Lebensquelle aller Dinge. Er erkannte im Schönen den Schönsten selbst. Alles Gute rief ihm zu: ‚Der uns erschaffen hat, ist der Beste.‘ Auf den Spuren, die den Dingen eingeprägt sind, folgte er überall dem Geliebten nach und machte alles zu einer Leiter, um auf ihr zu seinem Thron zu gelangen.[1]
Frucht dieser Mystik ist die „Laudes creaturarum“ vom Frühling 1225, die sich in seiner Endgestalt als feinsinniges Credo erweist. Die altumbrische Originalversion eröffnet die Geschichte der italienischen Poesie:
Sonnengesang des Franz von Assisi – Altumbrische Originalversion
1Altissimu, onnipotente, bon Signore,
2Tue so’ le laude, la gloria e l’honore et onne benedizione.
3Ad te solo, Altissimo, se konfane
4et nullu homo ène dignu Te mentovare.
5Laudato sie, mi’ Signore, cum tutte le Tue creature,
6spezialmente messor lo frate Sole,
7lo qual è iorno et allumini noi per lui.
8Et ellu è bellu e radiante cum grande splendore:
9de Te, Altissimo, porta significazione.
10Laudato si’, mi’ Signore, per sora Luna e le stelle:
11in celu l’ài formate clarite e preziose e belle.
12Laudato si’, mi’ Signore, per frate Vento,
13e per aere e nubilo e sereno et onne tempo,
14per lo quale a le Tue creature dài sustentamento.
15Laudato si’, mi’ Signore, per sor’Acqua,
16la quale è multo utile et humile et preziosa et casta.
17Laudato si’, mi’ Signore, per frate Focu,
18per lo quale ennallumini la notte:
19et ello è bello e iocundo e robustoso e forte.
20Laudato si’, mi’ Signore, per sora nostra matre Terra,
21la quale ne sustenta e governa,
22e produce diverse frutti con coloriti flori et herba.
23Laudato si’, mi’ Signore, per quelli ke perdonano per lo Tuo amore
24e sostengo infirmitate e tribulazione.
25Beati quelli ke ‘l sosterrano in pace,
26ka da Te, Altissimo, sirano incoronati.
27Laudato si’, mi’ Signore, per sora nostra Morte corporale,
28da la quale nullu homo vivente po’ skampare:
29guai a quelli ke morrano ne le peccata mortali;
30beati quelli ke trovarà ne le Tue santissime voluntati,
31ka la morte secunda no ‘l farrà male.
32Laudate e benedicite mi’ Signore e rengraziate
33e serviateli cum grande humilitate.
In den mittelalterlichen Manuskripten ohne sichtbare Gliederung kopiert, erschliesst die poetische Struktur sich aus dem Wortlaut. Das Motiv des Lobpreises lässt den Aufgesang (le laude), acht Strophen (laudato) und den Abgesang (laudate) erkennen. Die Abgrenzung der Verse lässt sich im Originaltext aus dem Rhythmus und einzelnen Endreimen unterscheiden.
Deutsche Übersetzung
Höchster, allmächtiger und guter Gott,
dein sind das Lob, die Lichtfülle, alle Ehre und jeglicher Segen.
Dir allein, Höchster, gebühren sie,
und kein Mensch vermag deine Größe in Worte zu fassen.
Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen,
ganz besonders für dem Herrn Bruder Sonne:
Er bringt den Tag und du leuchtest uns durch ihn.
Wie schön ist er und strahlend mit großem Glanz:
Von dir, Höchster, ein Sinnbild.
Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Mond und die Sterne;
am Himmel hast du sie gebildet, klar und kostbar und schön.
Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Wind
und durch die Luft, heiter und wolkig, und jegliches Wetter,
durch das du deinen Geschöpfen Gedeihen gibst.
Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Wasser,
gar nützlich ist sie und demütig und kostbar und rein.
Gelobt seist du, mein Herr, durch Bruder Feuer,
durch das du die Nacht erleuchtest;
und schön ist er und fröhlich und kraftvoll und stark.
Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde,
die uns erhält und lenkt und vielfältige Früchte hervorbringt
und bunte Blumen und Kräuter.
Gelobt seist du, mein Herr, durch jene, die in der Kraft deiner Liebe verzeihen
und Krankheit oder seelische Bedrängnis ertragen.
Selig jene, die solches in Frieden tragen,
denn von dir, Höchster, werden sie gekrönt.
Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, den leiblichen Tod.
Unweigerlich erwartet sie jeden lebenden Menschen eines Tages.
Gut, wenn sie uns nicht fern von dir antrifft:
Selig sind alle, die sie in deinem Licht findet.
Denn der Tod der Seele wird ihnen nichts antun.
Lobt und preist meinen Herrn
und dankt ihm und dient ihm mit großer Demut.
Die Komposition der Urversion, welche die sechs ersten Strophen umfasste, entstand in San Damiano vor Assisis Stadtmauern, wo Klaras Gemeinschaft mit einer Gruppe Brüder das Gotteslob sang. Das harmonische Zusammenklingen von Schwestern und Brüdern hört Franziskus auch in der ganzen Schöpfung. Frate sole (Bruder Sonne) spielt mit den Schwestern luna e stelle zusammen, mit Mond und Sternen, die italienisch weiblich sind. Bruder Wind verbindet sich mit Schwester Wasser, Bruder Feuer mit Schwester Mutter Erde. Die Gestirne im weiten Kosmos ermöglichen Leben auf Erden durch den Wechsel von Tag und Nacht und den Lauf des Jahres mit Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Im Lied von dreierlei Art, verweisen Sonne, Mond und Sterne zugleich auf die Überwelt des dreieinen Gottes: lichtvoll, unendlich und ewig.
Das harmonische Zusammenklingen von Schwestern und Brüdern hört Franziskus auch in der ganzen Schöpfung.
Aus den vier Urelementen sieht das Mittelalter alle irdischen Lebewesen bestehen: Pflanzen, Tiere und Menschen werden von der Erde ernährt, brauchen Wasser und atmen, sie speichern Energie und haben ihre je eigene Temperatur. Alles Geschaffene auf Erden teilt denselben Lebensraum, und jedes Geschöpf erzählt auf seine Weise vom Schöpfer.
Jedes Geschöpf erzählt auf seine Weise vom Schöpfer.
Die Strophe auf den Menschen kam Wochen später hinzu, als in Assisi ein Bürgerkrieg drohte. Der betagte Bischof Guido II. legte sich mit dem Anfang Mai 1225 gewählten Bürgermeister Oportulo di Bernardo derart aggressiv an, dass in Assisi ein Bürgerkrieg drohte. Jesu Seligpreisungen nennen Friedfertige Söhne und Töchter Gottes. Nicht Feindselige und Unversöhnliche verweisen auf ihren Schöpfer, sondern Gewaltlose und Liebende. So schön Gottes Liebe auch in Verliebten aufleuchtet, am eindrücklichsten tut sie es da, wo menschliche Liebe geprüft wird. Franz preist den Schöpfer daher für Menschen, die einander verzeihen, in Krankheiten den inneren Frieden nicht verlieren und mit allerlei Sorgen gut umgehen. Sie tun es per lo tuo amore – in der Kraft von Gottes Liebe, die in ihrem Verhalten sichtbar wird.
Nicht Feindselige und Unversöhnliche verweisen auf ihren Schöpfer, sondern Gewaltlose und Liebende.
Vor seinem Sterben fügte Franz im Sommer 1226 die letzte Strophe hinzu: So sehr das Leben auf Erden ein Geschenk ist und tief beglücken kann, es bleibt vergänglich. Die Zeilen zur Schwester Tod sehen das Sterben nicht als Katastrophe, sondern als Übergang in die neue und ewige Schöpfung Gottes. Den „leiblichen Tod“ wird Franz selbst sterbend tatsächlich als Weggefährtin willkommen heissen, die ihn an der Hand nimmt, wo seine Liebsten, die Brüder, Schwestern und Freundin Jacoba, ihn loslassen müssen. Sora morte begleitet jeden Menschen auf dem kurzen dunklen Wegstück, das in Gottes Lichtfülle führt.
Den „leiblichen Tod“ wird Franz selbst sterbend tatsächlich als Weggefährtin willkommen heissen.
In der Endgestalt zählt das Schöpfungslied 33 Verse: Das Mittelalter zählt 33 Lebensjahre Jesu auf Erden. Franz von Assisi lässt damit feinsinnig anklingen, dass diese unsere schöne und vergängliche Welt nicht nur Werk Gottes, sondern auch Heimat des Gottessohnes geworden ist. Selbst unreligiöse Menschen leben daher nicht in einer gottlosen, sondern einer von Gott geliebten Welt!
Mit Blick in die ökologische Schieflage der Welt heute sind vom Sonnengsang keine Rezepte zu erwarten. Die Botschaft ist grundlegender: Finde zurück zu einer neuen Wachheit für alles Leben, lerne neu staunen über das Schöne und Kostbare in der Schöpfung, lass dein Herz berühren! Denn wir tragen Sorge zu dem, was wir lieben!
Beitragsbild: Niklaus Kuster
Codex 338 von Assisi – Foto: Sacro Convento di San Francesco in Assisi
NB: Am Samstag 6. September 2025 findet in der Paulusakademie Zürich eine Tagung zum Sonnengesang-Jubiläum statt, die vom Autor dieses Beitrags mit begleitet wird. Nähere Infos finden sich hier.
[1] Franziskus-Quellen, hg. von Dieter Berg – Leonhard Lehmann, Kevelaer 2009, 389-390 und 247 (= 2 C 165; vgl. 1 C 80-81).