Wolfgang Pauly über Parmenides und Heraklit: Was zwei alte Griechen uns heute sagen könnten, brennend Aktuelles nämlich.
Bereits 1985 beschrieb Jürgen Habermas in einer Zeitdiagnose den Zustand von Gesellschaft, Politik und Kultur als „neue Unübersichtlichkeit“ (Habermas, 1985, bes. S. 139-163). Vierzig Jahre später scheint sich dieses Phänomen noch um ein Vielfaches verstärkt zu haben. Eine wahrgenommene Beschleunigung von Veränderungen in allen Lebensbereichen führt bei den einen zu Erschöpfung und Ratlosigkeit, andere drängen auf Besitzstandswahrung und Stabilisierung des Erreichten. Besinnung auf das je Eigene und Ausgrenzung des als Bedrohung empfundenen Anderen erscheinen als Alternativen. Inhaltlich gefüllt werden diese z.B. mit Begriffen wie ´Heimat´ oder ´christliches Abendland´.
Jede Zeit einzigartig und nie eine Wiederholung der Geschichte
Jede Zeit ist neu und einzigartig und nie eine Wiederholung der Geschichte. Trotzdem kann ein Blick zurück Perspektiven nach vorne eröffnen. Die vorsokratischen Philosophen Parmenides und Heraklit stehen für zwei gegensätzliche Denk- und Lebensformen, die auch aktuell als idealtypische Reaktionen auf die beschriebene neue Unübersichtlichkeit gelesen werden können.
Der in einer griechischen Kolonie im süditalienischen Ela lebende Parmenides (550-460) beschreibt die Grundzüge seines Denkens in einem Gedicht. Zu einer Kutschenfahrt auf einen Berg eingeladen, soll er „hinter sich lassen das Haus der Nacht, dem Lichte zu“. Gleichzeitig soll er den Schleier von den Augen reißen und so immer mehr die Wahrheit erkennen. (Parmenides 1974, B. 1.10, S. 9). Diese zeigt sich nur demjenigen, der die Niederungen des Alltags und die Welt der sinnlichen Erfahrung verlässt. Wahrheit gibt es für ihn nur jenseits alles Irdischen, das seinerseits nur Nebel und Scheinwelt ist (´doxa´). Sie muss deswegen von allen Trübungen und sinnlichen Verhaftungen gereinigt werden (´a-letheia´) Dieser Weg steht allerdings nur wenigen offen, er liegt „abseits vom Wandel der Menschen“ (Parmenides B 1.28, S. 13). Letztlich sind es nur die Philosophen, die diesen Weg beschreiten, keine Überraschung in der Hierarchie der antiken Sklavengesellschaft. Diese wenigen aber erkennen das wahre Sein, denn „dasselbe ist Erkennen und Sein“ (Parmenides, B 3, S.17).
Parmenides als Philosoph der antiken Sklavengesellschaft
So werden die Philosophen zu Wahrheitsexperten und vermitteln ihr Wissen denjenigen, die aufgrund ihrer irdischen Blindheit keinen Blick für die Wahrheit entwickeln. Das eine wahre Sein ist ewig und unveränderlich vorgegeben. Die Wahrheit über dieses Sein ist fix und fertig. Nur deswegen kann sie Orientierung und festen Halt in der Unübersichtlichkeit der polyethnischen und multikulturellen Welt der Antike bieten. Der Mensch hat somit einen eindeutigen Maßstab zur Beurteilung von Wahrheitsansprüchen. Die Vorgabe garantiert zugleich auch ein sinnvolles Leben. Er muss sich ihr nur unterordnen und den Anweisungen der Philosophen folgen. Aus Dankbarkeit für dieses Versprechen von Sicherheit ehrte die Stadt Elea Parmenides mit einem bis heute erhaltenen Denkmal.
Heraklit wundert sich über die großen Theorien seiner philosophischen Kollegen
Zeitgleich mit Parmenides lebt in Ephesus an der kleinasiatischen Küste des Mittelmeeres Heraklit (520- ?). Obwohl sie Zeitgenossen sind, bezweifelt die Forschung, dass beide sich persönlich gekannt haben. Heraklit wundert sich über die großen Theorien seiner philosophischen Kollegen. Übersehen diese doch durch den Blick auf den Berg der Wahrheit das, was ihnen in ihrer Alltagserfahrung zu Füßen liegt: „Mit dem sie am engsten verkehren, dem Sinn (´logos´), von dem kehren sie sich ab, und worauf sie täglich stoßen, das scheint ihnen fremd“ (Heraklit, B72, S.25).
Was aber zeichnet die häufig übersehene Alltagserfahrung aus? ´Panta rhei´, alles fließt und ist in Bewegung (Heraklit A 3, S.39). Warum aber ist alles in fließender Veränderung? Bereits das Alltagsleben zeigt nach Heraklit, dass die Wirklichkeit nicht eindimensional ist, sondern dass sie sich dynamisch und stets neu zwischen spannungsreichen Polen vollzieht: Tag wird Nacht, Nasses wird trocken, Kaltes wird warm – und jeweils auch umgekehrt. Unterschiede, Uneindeutigkeit, Pluralität und das jeweils Andere sind gerade nichts, von dem man sich abwenden müsste, um zur Erkenntnis der Wahrheit und zum Sinn des Lebens zu kommen. Wahrheit ereignet sich nicht jenseits von Welt und Mensch, sondern mitten drin. Wahrheit hat einen Zeitkern und ist geschichtlich.
Gerade Vielfalt und Unterschiedlichkeit lassen kreativ Neues und Schönes entstehen
Heraklit nennt anschauliche Beispiele für die Einsicht, dass gerade Vielfalt und Unterschiedlichkeit kreativ Neues und Schönes entstehen lassen: einen Ton auf einem Saiteninstrument kann man nur erzeugen, wenn die Saite zwischen zwei Pole gespannt ist (Heraklit, B 51, S. 19). Das gilt nicht nur für ein einzelnes Instrument, sondern auch für ein ganzes Orchester: gerade die spannungsreiche Unterschiedlichkeit der einzelnen Instrumente erzeugt die schönste Melodie (Heraklit, B 8, S.9).
Das Feuer wird zu einem Symbol seiner Philosophie eines Lebens, das stets neu wird. Feuer existiert nur, wenn es brennt. Der Vollzug des Brennens ist sein Sein (Heraklit, B 30, S. 15). Oder auch das Bild eines Flusses: man kann nicht zweimal in denselben Fluss hineinsteigen (Heraklit, B 12, S.9). Nichts an einem Fluss ist schon nach geringer Zeit dasselbe, außer dass er immer noch fließt. Alles, was gleichgeblieben ist wie das Ufer oder die Brücken über ihm, sind eben nicht der Fluss. Ein Fluss ist kein Objekt, sondern ein Geschehen.
Der Mensch lebt grundsätzlich in Ambivalenz und Mehrdeutigkeit
Auch der Mensch ist für Heraklit kein Objekt, das auf eine vorgegebene Wahrheit fixiert ist. Er ist vielmehr ein Wesen, das mitten in polaren Spannungen steht und gleichsam wie von Dämonen hin und her gerissen wird (Heraklit, B119, S.37). Der Mensch lebt grundsätzlich in Ambivalenz und Mehrdeutigkeit. Lebenssinn bringt dann nicht ein Ausstieg aus dieser polaren Wirklichkeit, sondern gerade mitten in dieser Spannung findet er Erfüllung und Eindeutigkeit. Nicht die Nachahmung vorgegebener Lebens- und Denkmuster macht das Leben sinnvoll, sondern die Gestaltung dieses spannungsreichen Lebens. Nur so wird das Leben kreativ und stets neu und frisch und damit frei von allen fixen Vorgaben. Dieses wahre Leben steht grundsätzlich allen Menschen offen und ist nicht einer elitären Philosophenschicht vorbehalten.
Heraklits Apell, selbst zu leben und sich nicht von Vorgaben fremdbestimmen zu lassen, ist gefährlich. Ohne das feste Netz fixer Absicherungen kann die Lebenspraxis scheitern. Leben ist lebensgefährlich. Wer aber nicht selbst lebt, ist bereits mitten im Leben tot. Gefährlich ist Heraklits Lebensphilosophie auch für die politischen Eliten und für alle von der Lebenspraxis abgehobenen Institutionen. Wenn ´alles fließt´, dann stehen auch alle Macht- und Herrschaftsstrukturen unter geschichtlichem Vorbehalt. Stellen sie sich dem Fluss des Lebens entgegen, werden sie vom diesem fortgerissen. Dieses regimekritische Potential Heraklits haben die Führer seiner Heimatstadt Ephesus erkannt: sie schickten ihn in die Verbannung. Sein Todesdatum und sein Sterbeort sind bis heute unbekannt.
Parmenides und Heraklit – zwei idealtypische Lebensmodelle
Parmenides und Heraklit – zwei idealtypische Lebensmodelle und Denkstrukturen aus vorsokratischer Zeit. Zentral ihr gegensätzliches Verständnis von Wahrheit: unveränderlich, vorgegeben und nur wenigen zugänglich einerseits, oder Ausdruck einer Erfahrung mitten im Fluss des Lebens und inmitten von dessen ambivalenter Polarität und damit offen für alle geistvollen Menschen andererseits.
Theoretisch standen beide philosophische Ansätze in der frühen Theologie als Referenzrahmen bereit, um die biblische Botschaft auszudrücken und damit adäquat deuten zu können. Praktisch hat sich über die Vermittlung Platons bis zur Gegenwart das Modell des Parmenides durchgesetzt. Auch die aktuelle Unübersichtlichkeit führt oft zum Rückgriff auf fixe und für nicht hinterfragbar gehaltene Vorgaben. Begriffe wie z.B. ´das christliche Abendland´ werden von ihren geschichtlichen und pluralen Wurzeln getrennt und damit zum Zwecke der Ausgrenzung ideologisiert.
Kirchlich hat sich das statische Modell des Parmenides durchgesetzt
Auch das Lehramt der Großkirchen ist häufig vom Geist des Parmenides geprägt. Menschen werden so nicht gestärkt und ermutigt, gemeinsam mit anderen in Freiheit neue Wege zu gehen. Wenn kirchliche Lehre und deren institutionelle Verfassung aber nicht als Geh-Hilfen auf diesem Weg wahrgenommen werden, fühlen sich die Menschen zurückgelassen und lassen folglich auch ihre eigene religiöse Sozialisierung als irrelevant zurück. Gerade Aussagen über Gott werden oft im Modell des Parmenides formuliert. So werden sie für viele überflüssig, da sie nicht in das soziale Leben konkreter Menschen überfließen und erfahrbar werden (vgl. Pauly 2024). Leerstellen im Leben können aber Sogwirkung entfalten. Jürgen Habermas beschreibt dieses Desiderat: „Wenn die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus“ (Habermas 1985, S.161). Die Aussage des Christus im Johannesevangelium, die Wahrheit mit Weg und Leben verbindet (Joh 14,6), könnte hinweisen auf ein gelingendes Leben inmitten aller Unübersichtlichkeit.
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Habermas, Jürgen: Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt 1985.
Heraklit: Fragmente. Griechisch und Deutsch, herausgegeben von Bruno Snell, München 1965.
Parmenides: Fragmente, herausgegeben von Ernst Heitsch, München 1974.
Pauly, Wolfgang: Der über-flüssige Gott. Die Lebenstauglichkeit eines fragwürdigen Wortes. Freiburg 2024.
Bild: Gaetano auf Pixabay.
Prof. Dr. Wolfgang Pauly lehrte von 1989 bis 2020 am Institut für Katholische Theologie an der Universität Koblenz Landau, Abt. Landau, Fundamentaltheologie, Dogmatik und Religionswissenschaft.