Franz Winter nutzt seinen Forschungsaufenthalt in den USA, um sich auf die Spuren einer Vielfalt christlicher Traditionen zu begeben.
Ein mehrmonatiger Forschungsaufenthalt an der Harvard University ergab die einzigartige Möglichkeit, Einblicke in die Vielfalt christlicher Traditionen zu bekommen und dabei Kirchen und Gemeinschaften kennenzulernen, die hierzulande entweder überhaupt nicht oder nur in Spurenelementen vertreten sind. Denn weit über das, was man in Österreich kennt und kennenlernen kann, wo die dominierende katholische, aber auch die protestantische und die orthodoxe Kirche sowie verschiedene freikirchliche Gemeinschaften oder Zeugen Jehovas präsent sind, ist man in den USA mit einer um vieles größeren Bandbreite konfrontiert. Dazu zählen einige Sonderentwicklungen nicht nur, aber auch der US-amerikanischen Religionsgeschichte, die ihre je eigenen Formen und Traditionen entwickelt haben.
eine von Internationalität und Multikonfessionalität geprägte Gegend
Der Großraum Boston bietet für solche Einblicke die ideale Voraussetzung. Zum einen ist es eine von Internationalität und Multikonfessionalität geprägte Gegend, insbesondere natürlich in Cambridge mit der Harvard University, in der sich die ganze Welt zu treffen scheint. Zum anderen war dieses Gebiet eines der wichtigsten Ziele der aus dem englischen Raum kommenden frühen Einwanderer, die zu den letztlich bestimmenden Kräften für die Entstehung der USA wurden und vielfach aus religiösen Gründen in den Westen aufgebrochen sind. Sie brachten ihre zumeist sehr spezifische Tradition mit, die sich dann weiter entfalten konnte.
Anfängliche Versuche der Etablierung staatskirchlicher Formen, etwa der anglikanischen Kirche, scheiterten an der Vielfalt und dem früh gereiften Willen, Staat und Religion zu trennen, nicht zuletzt auch um Verfolgung aufgrund von Religionszugehörigkeit zu vermeiden. Das erklärt zudem die Entstehung nicht konfessionell gebundener Formen, die möglichst vielen eine Beteiligung ermöglichen sollten. Die Hauptkirche auf dem Harvard Gelände, die Harvard Memorial Church, ist eine dieser „interdenominational“ Einrichtungen, deren Liturgie vom Ablauf her primär protestantisch geprägt ist.
Die bestimmende Einheit ist die einzelne Gemeinde.
Die Vielfalt wird auch durch die interne Heterogenität der bestimmenden Traditionen bestärkt. Dazu kommt, was zwar etwas klischeehaft scheint, aber sich gerade in Bezug auf die Religionsgeschichte der USA eindeutig beobachten lässt: Der ausgeprägte Individualismus, der sich mit einem spezifischen Grundsatzoptimismus vermengt. Deshalb sind auch viele größere Gemeinschaften in ihrem Selbstverständnis presbyterianisch oder kongregationalistisch angelegt, das heißt, die bestimmende Einheit ist die einzelne Gemeinde, die als autonom wahrgenommen wird.
Dies führt zuweilen zu eigenwilligen Sonderformen, etwa im Zusammenhang mit einer der bekanntesten Sehenswürdigkeiten im Zentrum Bostons, der King’s Chapel. Diese wurde im 17. Jh. ursprünglich als erste anglikanische Kirche in der neuen Welt gegründet, im 18. Jh. aber von Unitariern übernommen. Die Unitarier behielten wiederum den liturgischen Ablauf der anglikanischen Tradition bei und entwickelten dafür sogar eine eigene, bis heute verwendete Sonderausgabe des anglikanischen Common Book of Prayer.
Das Faszinosum, in wie viele Interpretationsvarianten das Christentum aufgefächert werden kann.
Die Vielfalt ist eine Herausforderung und sie macht auch wählerisch. Die Tatsache, dass so viele Traditionen nebeneinander bestehen, ermöglicht auf der einen Seite einen beständigen Wechsel, der durchaus etwas mit Konsumieren und der Suche nach dem besseren Angebot zu tun hat. Auf der anderen Seite bleibt das Faszinosum, in wie viele unterschiedliche Interpretationsvarianten das Christentum aufgefächert werden kann. Man kann das natürlich als Ausdruck von Zersplitterung interpretieren. Doch ist es umgekehrt auch ein Zeichen für das enorme Potential, das in der christlichen Tradition, ihren Grundlagentexten und ihrer historischen Entfaltung gegeben ist.
in den USA entstandene Formen
Zum breiten Spektrum des Christentums gehören auch die in den USA entstandenen Formen. So etwa die Tradition der sogenannten Christian Science, eine von Mary Baker Eddy (1821–1910) gegründete Bewegung, die im Selbstverständnis eine grundlegende Neuinterpretation des Christentums darstellt. Sie ist geprägt von Elementen aus Spiritualismus und Heilungsbewegungen des 19. Jh. Die First Church of Christ, Scientist ist die Mutterkirche der Christian Science Bewegung und liegt direkt neben dem Harvard Gelände. Der hier jeden Sonntag gefeierte Gottesdienst besteht im Wesentlichen aus Bibellektüre, die parallel zu Texten von Baker gemeinsam gelesen werden. Letztere sind allerdings in einer sehr schwierigen Sprache mit spezifischer Terminologie gehalten. Eine Form der Erklärung, die diese Texte für die Gegenwart zugänglicher machen würde, fehlt eindeutig.
Ausläufer bis in die New Age Bewegung
Auf dem zentralen Harvard Yard selbst findet sich in einer prominenten Lage ein sehr beeindruckender kleinerer Kirchenbau der Church of the New Jerusalem. Diese geht auf den schwedischen Mystiker Emmanuel Swedenborg (1688–1772) zurück. Nach einem erfolgreichen Leben als Erfinder und Naturwissenschaftler nahm er in der Mitte seiner Fünfziger religiöse Visionen wahr, die zu einer Reihe von bedeutenden Veröffentlichungen führten. In diesen beschreibt er unter anderem seine spirituellen Reisen durch Himmel und Hölle und entwickelt ein sehr stark von ausgeprägten Hierarchien und Beziehungsgefügen geprägtes spirituelles Weltbild. Seine Schriften waren sehr einflussreich und wurden zu wichtigen Quellen etwa der esoterischen Strömungen des 19. Jahrhunderts mit Ausläufern bis in die New Age Bewegung des ausgehenden 20. Jahrhunderts.
Darum herum entwickelten sich auch verschiedene regelrechte „Kirchen“ mit ihren je eigenen Liturgien, die neben der Bibel unter anderem Swedenborgs Texte im Zentrum haben. Sie alle blieben immer kleine Bewegungen und aktuell scheint gerade die in Harvard präsente Church of the New Jerusalem so gut wie nicht mehr aktiv zu sein, während wiederum andere Swedenborg-Kirchen – in Boston etwa – durchaus zu funktionieren scheinen.
bedeutender gesellschaftlicher und auch politischer Faktor
Mit der auch hierzulande präsenten Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, die man oft pauschal als Mormonen bezeichnet, präsentiert sich eine weitere Form des Christentums, die in den USA zu einem bedeutenden gesellschaftlichen und auch politischen Faktor wurde. Dass sich direkt in Harvard eine solche Vertretung findet, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass diese Kirche ihren Mitgliedern ein sehr positives Weltbild vermittelt, das sie zur Beteiligung an der Gesellschaft aufruft und das noch dazu verbunden mit einem ausgeprägten Elitenbewusstsein. Deshalb ist der Anteil von Mormonen an der Studierendenschaft in Harvard unverhältnismäßig groß und dementsprechend ist man um deren Eingliederung in eine Gemeinde vor Ort bemüht.
In Boston selbst findet sich auch einer der vielen (für Nichtmitglieder nicht zugänglichen) „Tempel“ der Organisation. Im Stadtteil Belmont, nördlich von Cambridge gelegen, leben zudem viele Mormonen, die auch sehr stark in die politischen und gesellschaftlichen Eliten Bostons eingebunden sind. Aus diesem Kontext stammt übrigens auch Mitt Romney, der 2003 bis 2007 Gouverneur des Bundesstaates Massachusetts war und 2008 sogar Präsidentschaftskandidat der Republikaner. Der 1966 zur Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage konvertierte Politiker zählte lange Zeit zu den exponiertesten Kritikern Donald Trumps, nicht zuletzt auch auf Basis seiner christlichen Werteorientierung. Damit konterkarierte er die Unterstützung durch viele evangelikale und katholische Gruppierungen, die hier offensichtlich keine größeren Widersprüche erkennen konnten.
ein einstündiges gemeinsames schweigsames Sitzen
Eine völlig andere Form der christlichen Tradition stellen die sogenannten Quäker dar, die sich selbst Friends of Christ nennen. Die Gemeinschaft hat ihre Wurzeln im England des 17. Jahrhunderts und entwickelte sich um die Vorstellung eines inneren „Lichts“ (Gottes), das in ausnahmslos jedem Menschen wohnt. Die sonntägliche Zusammenkunft besteht (dabei) eigentlich nur aus einem: ein einstündiges gemeinsames schweigsames Sitzen, ein völlig sprachloses In-Sich-Gehen. Von allen Formen war es in der persönlichen Wahrnehmung zweifellos die beeindruckendste.
eine esoterische Bewegung
Ganz im Kontrast dazu steht schließlich eine eher wortreiche „Messe“, die im Selbstverständnis der Gemeinschaft eigentlich in Kontrast zur christlichen Tradition entwickelt wurde. Im etwa 30 Autominuten nördlich von Boston gelegenem Salem, einer der ältesten Hafenstädte der frühen Kolonisationsgeschichte, ergab sich die Gelegenheit, an einer sogenannten „Gnostic Mass“ teilzunehmen. Die Stadt Salem ist vor allem bekannt geworden aufgrund einer Reihe von aufsehenerregenden Hexenprozessen im Jahr 1692, denen insgesamt 19 Menschen zum Opfer fielen und die die kulturelle und auch touristische Identität der Stadt bis heute prägen.
Dass sich gerade hier eine Niederlassung des sogenannten Ordo Templi Orientis (O.T.O.) entwickelte, scheint deshalb nicht verwunderlich. Der O.T.O ist eine esoterische Bewegung, deren Gründung Anfang des 20. Jahrhunderts unter anderem mit dem Österreicher Carl Kellner (1850–1905) verbunden ist. Später wurde sie sehr stark vom britischen Okkultisten Aleister Crowley (1875–1947) geprägt. Auf ihn geht auch im Wesentlichen der Ablauf dieser „gnostischen Messe“ zurück. Dazu gehören stark ritualisierte sogenannte sexualmagische Elemente, in denen Ideen Crowleys in Bezug auf die Selbstermächtigung des Menschen durchgespielt werden (so v.a. sein Grundprinzip: „Tue was du willst, sei das ganze Gesetz“).
ein rasanter Säkularisierungsprozess
Die genannten Beispiele sind selbst nur ein Ausschnitt aus einer um vieles größeren Vielfalt in den USA, die durchaus auch Extreme kennt. Die Beteiligung an den Messen ist allerdings mit einer recht eindeutigen Beobachtung verbunden: Bei aller Vitalität, die sich in Zentren wie Boston bzw. Cambridge zeigt, ist eines offensichtlich: Säkularisierung und der Verlust an Mitgliedern sind auch hier zentrale Themen für alle diese Gemeinschaften. Das ist im Übrigen einer der eindeutigsten Befunde, der auch im wissenschaftlichen Kontext entgegentritt: Die alte These, dass die USA die große Ausnahme wäre und sich hier trotz eindeutiger „moderner“, westlicher Prägung Religionen halten und blühen, ist schlichtweg veraltet. Ein rasanter Säkularisierungsprozess verändert die sozioreligiöse Landschaft grundlegend. Darüber kann auch die hohe Bedeutung nicht hinwegtäuschen, die evangelikale Gemeinschaften aber auch konservative katholische Bewegungen im aktuellen politischen Geschehen haben – und eigentlich schon länger, zumindest seit den ausgehenden 1970er Jahren. Das aktuelle Festhalten an Trump wird all diese Gemeinschaften in der allgemeinen Wahrnehmung langfristig wohl viel an Glaubwürdigkeit kosten.
Und überhaupt: Was sich aktuell in den USA unter der neuen Regierung abspielt – das ist eine ganz andere Geschichte.
Prof. DDr. Franz Winter ist Professor für Religionswissenschaft an der Universität Graz. Das Sommmersemester 2025 verbringt er als resident research scholar an der Harvard University.
Beitragsbild und Foto: © Franz Winter