Michel de Certeau SJ (1925-1986) hätte heute seinen 100. Geburtstag gefeiert. Aus diesem Anlass präsentiert Christian Bauer in Auszügen eine noch immer in die Zukunft weisende, bislang unübersetzte Wortmeldung Certeaus aus dem Jahr 1973.
Der französische Jesuit und Mystikforscher Michel de Certeau war ein „père papillon“ (François Dosse) – ein leichtflügeliger ‚Pater Schmetterling‘, dessen bunt schillerndes Denken noch immer zu inspirieren vermag. Längst ist er vom kulturwissenschaftlichen Geheimtipp zur theologischen Pflichtlektüre avanciert. Denn er war schon spätmodern (d. h. auch heute noch gegenwartsfähig), als man in Theologie und Kirche erst einmal modern sein wollte. Seiner Zeit kreativ vorauseilend, hatte er nicht nur die Mystik der frühen Neuzeit („La fable mystique“) neu erschlossen, sondern auch den Alltag der späten Moderne („L’invention du quotidien“).
French theory at its best
Um mystische Erfahrungen des Christentums von dorther besser einordnen zu können, wurde er Gründungsmitglied von Jacques Lacans berühmter École Freudienne. Seit 1968 („La prise de parole“) galt er als einer der öffentlichen Intellektuellen Frankreichs im „langen Sommer der Theorie“ (Phillip Felsch): French theory at its best. Der folgende Text dieses ‚katholischen Michel Foucault‘ setzt sich aus Aussagen einer am 22. Mai 1973 ausgestrahlten Radiodiskussion mit Jean-Marie Domenach zusammen, deren Wortbeiträge 1974 unter dem Titel Le christianisme éclaté publiziert wurden. Dieses Interview besiegelte nicht nur Certeaus Zerwürfnis mit seinem Lehrer und Freund Henri de Lubac SJ, es bietet auch wertvolle Erinnerungen an die Zukunft eines zerborstenen Christentums.
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Es scheint mir, dass wir heute eine sehr wichtige Entwicklung der Lage des Christentums in Frankreich erleben. […] Diese Situation unterscheidet sich von jener, in der wir uns noch vor einigen Jahren befanden, als der christliche Glaube noch solide […] besonderen Verhaltensweisen verankert war. Damals hing man einer Sprache [des Christlichen] an – oder man bekämpfte sie. Sie flottierte nicht so frei wie heute. […] Dieses Kulturchristentum ist heute nicht mehr an den Glauben einer bestimmten Gruppe gebunden. Es stellt sich daher die Frage: Hat sich das Christentum in eine Folklore der aktuellen Gesellschaft verwandelt? […]
Kaum noch eine religiöse Sprache
Unter den Gläubigen findet sich kaum noch eine religiöse Sprache. Diese wirkt stattdessen anderswo weiter. Die Gläubigen sprechen von Gerechtigkeit oder Befreiung, während die Referenz auf den Teufel, auf Jesus oder den Papst überall im öffentlichen Leben […] auftaucht – aber ohne Zusammenhang mit dem Christentum. Eine ganze Population von Symbolen vollzieht einen Ortswechsel. […] Die Aktivist:innen der großen christlichen Bewegungen verlassen die zerfallenden kirchlichen Institutionen und verlagern ihr Engagement ins Politische, Soziale und Kulturelle. […] Sie verlassen christliche Orte aus explizit christlichen Motivationen. […]
Immer mehr Christ:innen ‚praktizieren’ immer weniger, während sie aber zugleich immer gläubiger werden. Ihr eigener Glaube entfernt sie von der sakramentalen oder liturgischen Praxis. […] Die Verbindung von religiösem Verhalten und Glauben löst sich auf. Natürlich kann man daraus nicht schließen, dass es überhaupt keine Verbindung mehr zwischen ihnen gibt. […] Aber es handelt sich um obskure, bisweilen dramatische, zunehmend ambivalente und allmählich gekappte Verbindungen. Die Teile des Systems fallen auseinander. […] Die kirchliche Konstellation zerstreut sich […] nach dem Maß, in dem sich seine Elemente aus diesem Orbit entfernen. […]
Christentum als kultureller Exotismus
Kirchen, Texte und Liturgie bieten das Material für theatrale Schöpfungen, geheime Poetiken der Lektüre und neue Kompositionen der sozialen Imagination. Sie sind keine Zeugen einer Offenbarung, d. h. keine Zeichen einer dem christlichen Glauben gegebenen Wahrheit mehr, sondern staunenswerte Ruinen einer Symbolik, die für alle neue Möglichkeiten der Erfindung und des Ausdrucks eröffnet. Die christliche Sprache wird [….] von Nichtchrist:innen gesprochen – wie ein Text, der nur noch deren Weg und nicht mehr seine eigene Wahrheit erzählt. Das Christentum gewinnt in Westeuropa die Gestalt eines kulturellen Exotismus.
Priester und Bischöfe zum Beispiel spielen im Theater der Massenmedien die Rolle von ‚Indianern‘ im eigenen Land. […] Diese ‚Folklorisierung‘ der Kleriker berührt den Glauben nicht direkt, sie ändert nur seine Bedingungen und seine Sprache. […] Man nähert sich […] der entscheidenden Frage, wenn man die Debatte über den Priester als das Symptom einer Debatte über das Wesen der Kirche versteht. […] Braucht es überhaupt eine soziale Vermittlung zwischen Mensch und Gott? Wie auch immer sie ausgeübt wird, steht die priesterliche Funktion für diese Vermittlung […]. Mit dieser speziellen Funktion in der Kirche ist aber auch die Funktion der Kirche selbst zuinnerst verbunden. […] Die Zahl der ‚Christ:innen ohne Kirche’ vervielfacht sich. […]
Risiko, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben
Die Kirche orientiert ihre Institution in die Richtung einer technischen Administration […]. Andererseits aber bringt sie die Gläubigen dazu, sich von ihrer […] Körperschaft zu entfernen und anderswo auf die Suche zu gehen – in kleinen Gemeinschaften oder in der Form von […] vielfältigen Engagements. […] Mir scheint, dass sich allgemein beobachten lässt, wie sich einerseits die großen technokratischen Organisationen der Produktion, des Konsums und der öffentlichen Dienste ausbreiten und wie sich andererseits auch die kleinen Gruppen mit einer gemeinsamen Option und persönlichen Beziehungen vervielfältigen. […]
Während heute nicht wenige Unternehmen […] die Rolle von neuen Kirchen spielen, […] gewinnt die Frage nach dem Sinn die Form eines anderen sozialen Modells […]. Es lokalisiert sich in kleinen Gruppen. […] Das Risiko, dem eigenen Leben einen Sinn zugeben, wird nicht mehr durch Ideologien zugedeckt, welche die […] Institutionen von einst besetzt hielten. […] Daher sollte man sich heute vor allem fragen, wie sich in diesen kommunitären Laboratorien eine neue Sprache des Sinns entwickelt […]. […]
Anonyme Bewegung des christlichen Flusses
Es gibt keine christliche Erfahrung ohne einen Kampf, der dem Anderen Platz macht, ohne eine zugleich verwundete wie auch jubilierende Gastfreundschaft und ohne den Geschmack und die Pracht eines Lebens, das sich verschwendet. Ohne Zweifel wird man von hier aus in den Blick bekommen, wie diese Erfahrung gemeinschaftliche Formen finden und sich im sozialen Einsatz von Praktiken artikulieren kann. […] Es gibt heute unzählige von Christ:innen gelebte […] Praktiken, die weder ein christliches Gesicht tragen noch eine Unterschrift und sich in der Menge verlieren. […] Diese anonyme Bewegung des christlichen Flusses, die sich in das allgemein menschliche Meer hinein auflöst, ist als das Rumoren einer Stille hinter den [kirchlichen] Diskursen und Disputen hörbar. […]
Irgendetwas anderes an die Stelle Jesu Christi zu setzen, […] wäre gegen alles gerichtet, was ich glaube. Es reicht aber […] auch nicht aus, immer nur ‚Jesus Christus’, ‚Jesus Christus’ zu wiederholen oder immer nur jene Diskurse zu reproduzieren, die mit der Praxis […] anderer Christen in der Vergangenheit korrespondieren. Wir müssen vielmehr herausfinden, was uns diese heute noch zu sagen hat. Die Einsprüche der Vergangenheit entpflichten uns nicht davon, in unserer Gesellschaft eine eigene Spur des Glaubensaktes zu legen. […]
Andersheit, die anders macht
Ich frage mich, […] warum ich eigentlich glaube. Strenggenommen ist es keine Option unter anderen. Erst recht spät habe ich durch die Tradition des Evangeliums […] etwas entdeckt, ohne das ich nicht mehr leben könnte und das kein Objekt irgendeiner Wahl war. Das machte eine Existenz wahrscheinlich und notwendig, die vom Anderen geweckt wurde und nicht mehr im Kreis des Selben gefangen war. Eine Wunde der Sehnsucht, die im Kommen des Anderen einen Raum der Erwartung und des Antwortens öffnet.
Das Evangelium […] hatte Worte dafür. Sie ermöglichten […] das Risiko einer Andersheit, die anders macht – eines Glaubens. […] Ich bin […] ein Glaubender mit vielen anderen, weil der Ruf des Evangeliums […] uns zu leben erlaubt. Nichts könnte an seine Stelle treten. Zugleich bindet uns eine intime Dankbarkeit an jene Institution, von der wir diese Gute Nachricht empfangen haben – auch wenn die Erfahrung des Glaubens […] alles […] anprangert […], was in dieser Institution jene […] Botschaft verdeckt, deren Trägerin sie ist. […]
Vagabunden einer Sehnsucht
Wenn ich über jene Verschiebungen spreche, welche die Funktionäre des Sinns […] in Frage stellen, beziehe ich keine ‚außerirdische’ Position. Es ist mein eigener Ort, der sich verändert. Ich bin Priester. […] Unsere Konzeption und Praxis des Priestertums stammen aus dem 17. Jahrhundert. Sie sind am Vergehen. Ihre Entwicklung […] führt viele Priester – darunter auch mich – zu etwas, das mehr […] dem Vagabunden einer Sehnsucht […] ähnelt. Keine Vermittler mehr, sondern christliche Suchende […]. […]
In denselben sozialen und politischen Herausforderungen finden sich Inspirationen verschiedenen Ursprungs. […] Das unterscheidend Christliche verschwindet aus dem sozialen Feld, um darin zu einer Arbeit zu werden, die inmitten einer gegebenen Aufgabe die Sehnsucht nach dem Anderen weckt. […] Nur weil wir Christ:innen sind, dispensiert uns das nicht davon, Risiken einzugehen – selbst wenn niemand von uns die Sicherheit haben kann, damit die Umrisse einer zukünftigen Gestalt des Christentums zu zeichnen. […]
Das Evangelium inspiriert zu leben
Abschließend muss ich wiederholen – und das ist eine persönliche Meinung –, dass mir bis heute nichts begegnet ist, was das ersetzen könnte, was ich dank des Evangeliums entdeckt habe. Dieses jedoch definiert immer weniger eine bestimmte ‚Situation’ (das ist es ja, was sich gerade auflöst), es inspiriert vielmehr eine bestimmte Art und Weise, jene Situationen zu leben, in denen wir uns vorfinden, eine Arbeit der Sehnsucht in diesen objektiven Begrenzungen und ein aktives Schweigen in der Sprache.
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Einleitung und Übersetzung:
Christian Bauer ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Münster, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Pastoraltheologie, theologischer Blogger und Mitglied der Redaktion von Feinschwarz.net.
Weiterführende Literatur:
Auf je eigene Weise lesenswert sind drei neuere Dissertationen zu Michel de Certeau: Isabella Bruckner,
Melanie Spranger, ‚Räume der Sehnsucht‘. Eine systematisch-theologische Untersuchung zur ‚mystischen Geografie‘ bei Michel de Certeau, Ostfildern 2023 (eine gute Gesamteinführung) und Carlos Álvarez,Einen breiten (gleichwohl nicht umfassenden) Überblick über verschiedene Perspektiven ermöglicht der erste theologische Sammelband zu Michel de Certeau im deutschen Sprachraum: Christian Bauer/Marco Sorace (Hg.), Gott, anderswo? Theologie im Gespräch mit Michel de Certeau, Grünewald-Verlag, Ostfildern 2019.
Ein demnächst erscheinendes Themenheft des Journal for Religion and Transformation in Contemporary Society (JRAT) versammelt den aktuellen interdisziplinären und internationalen Forschungsstand zu Michel de Certeau. Die meisten Artikel können bereits hier in digitaler Form gelesen werden, darunter auch ein Beitrag vom Übersetzer des obigen Textes mit dem Titel „Comment penser notre pratique? Michel de Certeau and the Adventures of Practical Theology“.
Beitragsbild: Jésuites EOF