Anna Maria König lädt zu einer philosophischen Reise ins Land des Schmerzes ein.
Der Begriff leiden, vom ahd. lîdan,
bedeutet in die Fremde ziehen.[1]
Erste Station: Die Auswahl der Destination.
Ich gebe mich erst gar nicht der Illusion hin, dass die Dissertation ein Wellnessurlaub wird. Das Thema Schmerz verheißt ein großes Abenteuer, ein Vordringen in weitgehend unbekannte Gefilde – noch dazu, wenn man die Philosophie, eine Disziplin, die für Nächtigungen unter freiem Himmel bekannt ist, als Reiseunternehmen bucht. Verglichen mit dem Tod, erhält der Schmerz bis heute kaum philosophische Aufmerksamkeit. Hannah Arendt unterstreicht, dass der unerträgliche Schmerz ohne den Tod dem Menschen überhaupt untragbar wäre.[2] Dieser Gedanke weckt mein Interesse nur noch stärker. Trotz wachsendem Bewusstsein dafür, dass ich mich auf unwegsames Gelände begebe, will ich immer weiter verstehen, was die Schmerzerfahrung ausmacht.
Zweite Station: Routenplanung.
Mit der ursprünglichen Reisemotivation, dem Wesen empathischen Empfindens phänomenologisch auf den Grund zu gehen, verschiebt sich durch die Lektüre jeder greifbaren Rezension die Route rasch auf das Gebiet der Intersubjektivität der Schmerzerfahrung und auf die Frage, ob sich mit geschenktem Mitgefühl das eigene Schmerzempfinden verändert. Dies anzunehmen legt die Erfahrung nahe. Schon als Kinder reagieren wir auf Schmerz mit Tränen und dem Ruf nach elterlichem Beistand. Nicht nur, weil der Schmerz intuitiv zur Rebellion veranlasst, sondern weil wir spüren, dass die Zuwendung anderer das Ertragen desselben erleichtert. Er fordert die Mitwelt zur Anteilnahme, die es braucht, um die Bedrängnis durch ihn zu ertragen. Viktor von Weizsäcker verdeutlicht: „Es ist ein ungeheures Rätsel, dass die berührende Hand den Schmerz verdrängen kann, aber die Tatsache, dass sie es kann, begründet fast die ganze Heilkunst.“[3] Das Reisefieber hat mich alsbald gepackt und es bleibt nicht lange bei der nüchternen Distanz, mit der man dem Fremden anfänglich begegnet. Mein Ziel umfasst das Vordringen in den phänomenologischen Kern des Schmerzes, denn dadurch allein zeigt sich, wie dieser beeinflusst werden kann.
Dritte Station: Packen und Reiseantritt.
Ich bin nicht die erste, die sich dem philosophischen Abenteuer Schmerz stellt. Einen systematisch ausgearbeiteten Reiseführer gibt es nicht. Einen solchen, der mir die Navigation erleichtern und Situationen vor Ort bewältigen helfen soll, zu erstellen, zählt zu meinen ersten Packaufgaben. Eines wird allerdings rasch klar – das Gebiet, das ich bereisen will, ist schier unendlich groß. Eingrenzungen, im Sinne einer Festlegung auf ausgewählte Schmerzphänomene, müssen vorgenommen und das Reisegut auf die Route angepasst werden. Mit auf die Reise nehme ich daher bereits bestehende philosophische Schmerztheorien (Kapitel 2) und eine Phänomenologie der subjektiven Schmerzerfahrung (Kapitel 3), für die ich die Leiblichkeit, Räumlichkeit und Zeitlichkeit als zentrale Aspekte herausarbeite. Außerdem stelle ich entgegen meiner Erwartungen fest, dass Schmerz nicht nur leid- sondern auch lustvoll erlebt werden kann, was die Frage nach seinem Wesenskern nur noch herausfordernder und dringlicher macht. Die Vorbereitungen ergeben, dass der Schmerz eine einzigartige Weise der leiblichen Betroffenheit ist. Seine Sprache ist die Sprache des Leibes, der Schlüssel zum Verständnis der Intersubjektivität demnach spezifische Formen der leiblichen Begegnung. Die Spannung des Reiseantritts findet ihren Höhepunkt in der Formulierung der zentralen These, dass die Alterität des Schmerzes und die Alterität des anderen Subjektes einander wechselseitig beeinflussen.
Vierte Station: Ankommen in der Ferne.
Ob ich tatsächlich gut vorbereitet bin, zeigt erst die unmittelbare Erfahrung (Kapitel 4). Das Unbekannte, das Erleben des Schmerzes als das Widerständige, das einen „anspringt wie ein fremdes Tier“[4], versuche ich näher zu beschreiben. Die Charakterisierung des Schmerzes als Macht, die mich zur Auseinandersetzung mit ihm zwingt, verdeutlicht, dass ich mir durch den Schmerz zugleich selbst entzogen und auf einzigartige Weise gegeben bin. Dies finde ich auch in anderen philosophischen Theorien nicht hinreichend erfasst. Ich mache meine Beobachtung an drei Erfahrungsmodi fest, die mich über die Dauer der gesamten Reise begleiten sollen. Ich benenne sie als Entzogenheit, Grundlosigkeit und Machtlosigkeit. Sie bilden ganz unabhängig von der konkreten Art der Schmerzerfahrung den Kern jedes Schmerzes. Sie sind es auch, anhand derer sich eine Veränderung im Schmerz – insbesondre durch den Einfluss eines anderen Subjektes – erkennen und beschreiben lässt.
Fünfte Station: Die großen Entdeckungen
Langsam akklimatisiert und die Sprache des Leibes internalisiert, bin ich bereit herauszufinden, was mich am Schmerz fasziniert. Ich teile das Gebiet in zwei Forschungsfragen auf. Zum einen was geschieht, wenn jemand anderes meinen Schmerz gezielt herbeiführt, wie es etwa in der Folter oder der häuslichen Gewalt der Fall ist. Zum anderen will ich erfahren, wie das Schmerzerleben sich durch die Absicht eines:r Anderen, meinen Schmerz zu lindern, ändert. Für dieses Gebiet stehen die Phänomene Aufmerksamkeit und Berührung im Fokus. Obgleich ich stets im Land des Schmerzes bin, bedingt der Einfluss anderer, dass mir die Gebiete wie völlig unterschiedliche Welten erscheinen. Die Fremdheit des Schmerzes, die sich an den Alteritätsmodi verdeutlicht hat, stellt die geeignete Grundlage für den Vergleich dieser Welten dar.
Unerwartete Entdeckungen lassen den Blick auf das Phänomen immer noch differenzierter werden. Etwa jene, dass ich mir selbst in der Selbstzufügung von Schmerz wie auch im Selbstmitgefühl zum:r Anderen werden kann, niemals jedoch in der gleichen Weise wie es ein leiblich von mir unterschiedenes Subjekt für mich ist. Noch während ich dabei bin, beide Welten zu durchstreifen, entdeckte ich, dass es ein Phänomen gibt, das sich weder der einen, noch der anderen Welt eindeutig zuordnen lässt, sondern beide eigentümlich miteinander vereint und zugleich ein ganz eigenes Gebiet formt, nämlich der Geburtsschmerz. Auf meiner Reise nimmt die Beschäftigung mit ihm eine Sonderstellung ein, denn ihn beeinflussen gleich mehrere Aspekte von Alterität: Das Fremdwerden des eigenen Leibes, das durch den eigenen Leib zur Welt drängende Kind und die Anwesenheit von Geburtsbegleiter:innen. Meine Streifzüge durch das Land des Schmerzes stärken zugleich das Gefühl, diesen Ort immer besser zu verstehen und doch am besten für immer hier zu bleiben, gäbe es doch noch so viel zu entdecken.
Sechste Station: Abschied und Heimreise.
Voll bepackt mit Eindrücken, wird es Zeit, die Reise zu beenden und zurückzukehren. Die Müdigkeit der bisherigen Strapazen erleichtern den Aufbruch nicht. Noch klarer als während des gesamten Erkundungszeit wird deutlich, wo Erwartung und Realität sich trafen. Die Intersubjektivität des Schmerzes ist facettenreicher als zu Beginn angenommen. Die Fremde ist nicht länger Fremde, sondern nun auch Teil von mir. Sie lässt mich sensibler sein für ihre Spuren in meiner Welt. Die Sehnsucht nach einer Rückkehr ist getrieben von der Neugierde auf die unentdeckt gebliebenen Orte. Es sind beispielsweise die Gebiete der Lust sowie der Geschlechtlichkeit von Schmerzerfahrung, denen ich nur kurze Exkursionen widmen konnte. So träume ich schon jetzt von meiner nächsten Reise. Jetzt aber mache ich erst einmal Urlaub vom „Urlaub“.
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Dr.in Anna Maria König hat am Institut für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz promoviert. Aktuell ist sie als Universitätsassistentin im Fachbereich Dogmatik am Institut für Systematische Theologie und Liturgiewissenschaft in Graz tätig.
Das Buch zur Reise ist im Mai 2025 im Brill/Fink-Verlag erschienen: Anna Maria König, Mein Schmerz und die Anderen. Zur Alteritätserfahrung leiblich-affektiver Betroffenheit.
[1] Vgl. Duden, Art. Leiden, in: Der Duden in 12 Bänden: Das Standardwerk der deutschen Sprache. 7. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Hrsg. v. d. Dudenredaktion, Berlin: Dudenverlag 72020, 430.
[2] Arendt, Hannah: Menschen in finsteren Zeiten. Übers. a. d. Amerikanischen v. Meino Büning. Hrsg. v. Ursula Ludz, München: Piper 1989, 147.
[3] Weizsäcker, Viktor von: Die Schmerzen, in: Weizsäcker, Viktor von: Der Arzt und der Kranke. Stücke einer medizinischen Anthropologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987 (Gesammelte Schriften 5), 27–47, 28.
[4] Böhme, Gernot: Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Zug: Die Graue Edition 2003 (Die graue Reihe 38), 84.