Die Dynamiken des sexuellen und spirituellen Missbrauchs an Ordensfrauen sind bisweilen hinter einem dichten Schleier des Nicht-Wissens oder Nicht-Wissen-Wollens verborgen. Magdalena Hürten und Judith König berichten von einer Konferenz, die sich der Frage stellte, was zu Tage tritt, wenn der Schleier weggezogen wird.
Was zeigt sich, wenn der Schleier wegezogen wird? Die Frage beschäftigt uns Forscherinnen, die wir an der Universität Regensburg zu sexuellem und spirituellem Missbrauch erwachsener Frauen in der katholischen Kirche forschen, schon länger.[1] Ende Juni 2025 sind wir ihr gemeinsam mit Kolleg*innen aus allen Kontinenten – nachgegangen und haben gemeinsam mit Ute Leimgruber, Barbara Haslbeck und Sr. Philippa Haase eine Konferenz veranstaltet mit dem sprechenden Titel “Behind the Veil. Analyzing the Hidden Patterns of Spiritual and Sexual Abuse among Catholic Women Religious”. Vier intensive Tage mit engagierten Teilnehmer*innen und gewinnbringenden Begegnungen liegen nun hinter uns und zu einigen der vielen wichtigen und komplexen Themen haben sich erkennbare Muster gezeigt.
Epistemische Fragen
Das ist kein Zufall, denn die Tagung war methodisch geprägt durch den Blick auf die „hidden patterns“[2] (Ute Leimgruber). Mit „hidden patterns“ sind tief verwurzelte Ordnungen des Wissens samt ihrer „Sag- und Sichtbarkeiten“ gemeint. Sie bestimmen in ganz unterschiedlichen Kontexten, wer sprechen kann, wer gehört und wem geglaubt wird und damit auch welche Personen und Themen bzw. welches Wissen in bestimmten Diskursen berücksichtigt werden. Im Missbrauchskontext äußern sich die „hidden patterns” häufig in bestimmten Narrativen. Zum Beispiel wird im globalen Norden immer wieder behauptet, Missbrauch sei ein Problem des globalen Südens, während in weiten Teilen des globalen Südens die Auffassung verbreitet ist, Missbrauch sei ein Problem des globalen Nordens. Auch die Annahme, erwachsene Frauen könnten doch jederzeit einfach „Nein” zu sexuellen Handlungen sagen, denen sie nicht zustimmen möchten, ist so ein „hidden pattern”. Ziel der Tagung war es, diese Narrative zu dekonstruieren – oder in den Worten Ute Leimgrubers: „Our aim is to foster a new epistemic awareness and to ‘lift the veil’.”
Globale Gemeinsamkeiten und kulturelle Unterschiede
Indem die Tagung Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Nationalitäten und kultureller Hintergründe zusammenbrachte, entstand ein äußerst produktiver Austausch. Barbara Haslbeck[3] (Regensburg) und Sr. Mary Lembo[4] (Rom/Togo) präsentierten ihre jeweiligen qualitativen Studien mit Frauen, die im Ordensleben Missbrauch erfahren haben (im deutschsprachigen Raum bzw. in Subsahara Afrika), und zeigten eindrücklich auf, dass (Ordens-)frauen auf der ganzen Welt von sexuellem Missbrauch betroffen sind: „Abuse can affect all women religious” (B. Haslbeck). Gerade im Ordensbereich wirken kulturübergreifende strukturelle sowie theologische Bedingungen (z.B. die Rede von den Evangelischen Räten). Kulturelle Unterschiede zeigen sich erst auf den zweiten Blick, in der Tatanbahnung, den Vertuschungsstrategien und den Bedingungen, die Betroffene zum Schweigen bringen.
Die von Hildegund Keul[5] (Würzburg) vorgestellten Konzepte der Vulnerabilität (Verletzbarkeit), Vulneranz (Verletzungsmacht) und Resilienz stellten hilfreiche Analysewerkzeuge dar, um Dynamiken zwischen Betroffenen und Täter*innen genauer erfassen zu können. Sr. Mary Lembo betonte, dass alle Menschen aufgrund ihrer Angewiesenheit auf andere grundsätzlich vulnerabel sind und dass diese Vulnerabilität ausgenutzt werden kann, um Missbrauch zu begehen. Jedoch gibt es strukturelle Bedingungen, die die Vulnerabilität zusätzlich erhöhen können. Benannt wurden im Kontext des Ordenslebens unter anderem finanzielle Abhängigkeit, soziale Isolation oder die Tabuisierung von Sexualität. Hinzu kommen strukturelle Bedingungen innerhalb der katholischen Kirche, die die Vulneranz der Täter erhöhen, beispielsweise ein überhöhtes Priesterbild, starke soziale Netzwerke, spiritualisierte Machtpositionen etc. Kaum erforscht ist die Täterschaft von Frauen, sowohl bei sexuellem (Barbara Haslbeck) als auch bei geistlich-spirituellem Missbrauch (Judith Könemann und Juliana Osterholz/Münster[6]).
Kulturelle Spezifika zeigten sich besonders unter einer dekolonialen Perspektive. Ana Lourdes Suárez (Argentinien) und Véronique Lecaros (Peru)[7] wiesen in ihren Vorträgen mit Blick auf Lateinamerika auf die Komplizenschaft der Ordensgemeinschaften mit den Kolonialmächten hin und analysierten die komplexen Machtdynamiken (eine Kombination aus Eurozentrismus, Abwertung indigener Personen und Kulturen und Misogynie), die dadurch innerhalb der Ordensgemeinschaften entstanden. Bis heute wirken diese kolonialen Praktiken, z.B. in eurozentrisch-klerikalistischen Frömmigkeits- und Vergemeinschaftungsformen fort. Wie Missbrauch und die Rolle kirchlicher Akteur*innen in der Kolonialzeit zusammenhängen, muss dringend weiter beforscht werden.
Verschiedene Phasen des Ordenslebens als Risikopunkte
Wenn man die “hidden patterns” des Missbrauchs an Ordensfrauen verstehen will, bedürfen die verschiedenen Phasen des Ordenslebens eines besonders intensiven Blicks. Bisher wurde beispielsweise kaum untersucht, in welchem Ausmaß hoch betagte Ordensfrauen von Missbrauch betroffen sind. Mindestens ebenso wichtig ist der Fokus auf die erste, enorm vulnerante Phase des Ordenslebens, vor allem Formation und Ausbildung, in der viele systemische Faktoren die Abhängigkeit und damit die Vulnerabilität der Kandidatinnen bzw. Novizinnen erhöhen.
Theologische Themen und offene Fragen
Durch viele Konferenzbeiträge – sei es aus journalistischer, praktischer oder forschungsorientierter Perspektive – zogen sich zudem wiederkehrende theologische Themen. Insbesondere die Rede vom „Willen Gottes” ist in den Händen von Täter*innen ein Werkzeug von beinahe grenzenloser Vulneranz (Monika Bialkowska[8]). Dass dieses Werkzeug – gerade in Ordenskontexten nicht selten kritiklos – eingesetzt wird, enthüllt eine theologische Leerstelle: Was ist das, der „Wille Gottes”? Worauf bezieht er sich? Und wer kann für wen interpretieren, was als „Wille Gottes” gelten kann? Ist eine solche Interpretation für andere überhaupt möglich und zulässig? Muss nicht vielmehr die Suche nach dem „Willen Gottes” beschränkt bleiben auf die jeweilige eigene „verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist” (GS 16)? Was für Konsequenzen ergäben sich daraus für die geistliche Begleitung (nicht nur) von Frauen im Ordensleben?
Damit verbunden ist das Thema Gehorsam: Mal offen unter Berufung auf die Gelübde von Ordensschwestern, mal verschleiert durch emotionale Kontrolle und Manipulation, ermöglicht das Einfordern von Gehorsam Missbrauch bzw. stabilisiert missbräuchliche Situationen. Nicht zuletzt erhöht die eingeübte, habitualisierte Kultur eines (blinden) Gehorsams die Vulnerabilität der Ordensfrauen.
Wie geht es weiter? Räume für das Sprechen über Missbrauch
In allen Diskussionen wurde deutlich, wie riskant es für Betroffene meist immer noch ist, über ihre Missbrauchserfahrungen zu sprechen. Die Tagungsteilnehmer*innen waren sich einig, dass es in der Verantwortung des Umfelds und insbesondere auch der Institutionen (Ordensgemeinschaften, Bistümer, Weltkirche, sowie unabhängiger Organisationen etc.) liegt, sicherere Räume für das Sprechen über eigene Missbrauchserfahrungen zu schaffen. Dazu gehört nicht nur, die Berichte der Frauen ernst zu nehmen, sondern auch der Aufbau tragfähiger Betroffenennetzwerke, die es für erwachsene Frauen bisher nicht gibt.
Das Sprechen über Missbrauchserfahrungen für die Betroffenen sicherer zu machen, ist nicht nur moralische Pflicht für die Institutionen, die Betroffene nicht vor Missbrauch geschützt haben. Das Schaffen sicherer(er) Räume, um sprechen zu können, ist auch eine unverzichtbare Grundlage aller Forschung zum Thema Missbrauch. Wie es die Journalistin Federica Tourn (Turin) eindrücklich und mit Blick auf ihre Interviews mit betroffenen Ordensfrauen formulierte: “We would know nothing withouth the courage of the nuns!”
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Dr. Magdalena Hürten ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt “From Epistemic Injustice to Epistemic Awareness” an der Universität Regensburg. Kürzlich erschien ihre Dissertation, in der sie historische Fälle von Missbrauch an Ordensfrauen unter epistemischer Perspektive analysiert.
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Titelbild: Cecile Hournau auf Unsplash
[1] Vgl. etwa den Special Issue der Zeitschrift religions mit dem Titel Sexual and Spiritual Violence against Adult Men and Women in the Catholic Church (hg. Von Ute Leimgruber und Doris Reisinger).
[2] Leimgruber, Ute, „Hidden Patterns“ – Überlegungen zu einer machtsensiblen Pastoraltheologie, in: ET-Studies 11 (2/2020), 207-224; Haslbeck, Barbara/Hürten, Magdalena/Leimgruber, Ute, Missbrauchsmuster – hidden patterns of abuse, in: feinschwarz.net am 20.12.2022, www.feinschwarz.net/missbrauchsmuster/.
[3] https://www.herder.de/religion-spiritualitaet/shop/p3/88837-sexueller-missbrauch-an-ordensfrauen-im-deutschsprachigen-raum-gebundene-ausgabe/
[4] Vgl. Lembo, Mary Makamatine, Sexueller Missbrauch Von Ordensfrauen in Afrika. Sehen, Verstehen, Verändern, Münster 2024.
[5] Vgl. Keul, Hildegund, Vulnerabilität, Vulneranz, Resilienz. Paradoxe Machtwirkungen, Baden Baden 2025 (erscheint im September) und https://vulnerabilitätsdiskurs.de
[6] https://www.uni-muenster.de/FB2/gm_projekt/
[7] Vgl. Lecaros, Véronique/Suárez, Ana Lourdes (Hg.), Abuse in the Latin American Church. An Evolving Crisis at the Core of Catholicism, London 2024.
[8] Vgl. Białkowska, Monika, Siostry. o nadużyciach w żeńskich klasztorach, Krakau 2023.