Der Theologe und KI-Experte Michael Brendel meint, dass die Provokation durch KI ins Herz christlichen Glaubens zielt. Anregungen zum bewussten kirchlichen Umgang mit Künstlicher Intelligenz.
Kirche und KI: Eine Leerstelle im gesellschaftlichen Diskurs
Die Debatte über die Chancen und Risiken von Künstlicher Intelligenz wird breit geführt. Zivilgesellschaftliche Organisationen fordern Regulierung und ethische Standards, während Politik und Verwaltung den Einsatz in Behörden und staatlichen Einrichtungen ausloten. In Wirtschaft, Wissenschaft und im Verbraucherschutz wird über Effizienz, Datenschutz, die Folgen für den Arbeitsmarkt und die Gefahr von Desinformation diskutiert. Beiträge aus den Kirchen hingegen sind rar und erschöpfen sich in der Regel in allgemeinen Appellen: KI müsse ethischen Grundsätzen genügen und der Menschenwürde dienen (Rome Call for AI Ethics, Vatikan, 2020), dürfe nicht über Tod und Leben von Menschen entscheiden (Antiqua et nova, Vatikan, 2025) und müsse der menschlichen Freiheit dienen (Freiheit digital, EKD, 2021). Es gibt Grund zur Hoffnung, dass Papst Leo XIV. den gesellschaftlichen Diskurs während seines Pontifikats mit konkreten Beiträgen begleiten wird.
Er hat das Thema KI zwei Tage nach seiner Wahl als ersten inhaltlichen Punkt gesetzt („weitere industrielle Revolution“, Ansprache ans Kardinalskollegium, 10.05.2025) und in den ersten drei Monaten im Amt mehrere Beiträge zu internationalen KI-Gipfeln geleistet. Er kündigte an, dass die Kirche aktiv in die Diskussionen rund um die Technologie einsteigen wolle. Ob er dabei auch an die Kirchenbasis denkt? Bislang jedenfalls reichen die Thesen der kirchlichen Verantwortungsträger nicht bis in die Gemeinden hinein: auf der Kanzel und am Ambo, in KFD und Seniorengruppen ist Künstliche Intelligenz bislang nur selten Thema. Diese pastorale und theologische Lücke ist fatal. Denn die Provokation durch KI zielt nicht nur auf Ethik und Gesellschaft, sondern ins Herz des christlichen Glaubens selbst.
Mit dem, was KI-Chatbots fabrizieren, können wir Menschen etwas anfangen!
Eine neue Macht der Sinnstiftung?
Doch was hat KI mit dem christlichen Glauben zu tun? Alles. Denn Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. Der Johannesprolog bringt eine Hauptaussage des Neuen Testaments auf den Punkt: Dass das Wort göttlich ist. Gott zeigt sich nicht nur in Dornbüschen, Feuersäulen und Naturkatastrophen, sondern er kommuniziert verbal mit den Menschen. Die Gläubigen auf der anderen Seite können ihre Anliegen, ihr Lob und ihre Klagen über das Wort vor Gott bringen.
Offenbarung, Liturgie und Lehre sind sprachlich vermittelt. Sakramente erlangen erst durch Worte ihre Gültigkeit. Und schließlich: Der Logos, das göttliche Wort, ist in Jesus Christus Mensch geworden. Das Wort Gottes wirkt also in der Sinn-, Heils- und Offenbarungsdimension. Und in diese Zone dringt nun Künstliche Intelligenz ein.
Seit 2022 kommunizieren nicht mehr nur Menschen mit Menschen über das Medium Wort, nicht mehr nur Gott und Mensch. Seit der Veröffentlichung von ChatGPT gibt es eine kommunikative Instanz, die über Sprache Bedeutung schafft. Die KI „spricht“ nicht, zumindest nicht im menschlichen Sinne, ebenso wenig wie sie etwas „weiß“ oder „versteht“, denn all ihre Prozesse sind mathematische Berechnungen. Doch mit dem, was KI-Chatbots fabrizieren, können wir Menschen etwas anfangen! Auch in die andere Richtung funktioniert die Kommunikation. Wir Nutzer*innen müssen keine Programmiersprachen mehr anwenden, keine DOS-Befehle tippen, nicht draggen und droppen, wischen oder swipen, zoomen oder pinchen – Wir können den KI-Tools einfach sagen, was wir wollen, und erhalten einen brauchbaren Output. Mehr noch, und das belegen viele Studien: Dieser Output ist bei entsprechend präzisen Befehlen von menschlichen Aussagen nicht unterscheidbar und wird diesen in Blindtests manchmal sogar vorgezogen.
Können computergenerierte Worte also tatsächlich Spiritualität transportieren?
Spirituelle Sprache aus der Maschine
Dass Computer nun das „Gottesgeschenk Sprache“ nutzen, ist für den Glauben nicht irrelevant. Besonders dann nicht, wenn es sich um spirituelle Sprache handelt. Im Rahmen der Weltausstellung Reformation wurde 2017 in Wittenberg der „Segensroboter“ BlessU-2 in Dienst gestellt. Ein blechgrauer Kasten mit weißem Plastikkopf fragt die Nutzer*innen nach der Art von Segen, den sie erbitten, hebt seine mechanischen Arme und spricht, während seine Hände leuchten, den Segensspruch. All das ohne KI. Doch schon damals fragten sich Journalist*innen und Theolog*innen, ob diese Art von Segen von derselben Art sei wie ein menschlich gesprochener Segen. Heute können Gläubige (und Ungläubige) über die Bot-Plattform Character.ai mit der Gottesmutter telefonieren oder auf dem Twitch-Kanal AskJesus Chatnachrichten an Jesus schicken, die ein animierter Avatar dann freundlich beantwortet. Die Anfragen im Chatfeld deuten darauf hin, dass zumindest einige der Nutzer*innen in dem Angebot mehr sehen als einen Spaß.
Ein anderes, persönliches Beispiel: In KI-Seminaren mit Gruppen aus dem theologischen Bereich führe ich mit den Teilnehmer*innen gelegentlich ein kleines Experiment durch. Zunächst gebe ich einem KI-Chatbot (meist nutze ich Anthropics Claude) ein paar Hinweise zum Thema und zur Zielgruppe der Veranstaltung. Dann weise ich ihn an, ein Gebet zu erstellen, das ich unmittelbar nach der Generierung vorlese. Die Teilnehmer*innen habe ich vorher gebeten, das KI-Gebet mit einem „Amen“ zu beenden, wenn es sie spirituell berührt. Das Ergebnis: Ein Teil der Anwesenden, häufig mehr als die Hälfte, spricht die Schlussformel. Können computergenerierte Worte also tatsächlich Spiritualität transportieren? Welche transzendentale Bedeutung kommt religiöser Sprache zu, wenn nicht Gott oder die Menschen, sondern Maschinen sie nutzen? Und, im Blick auf die statistischen Modelle, auf denen KI-Chatbots beruhen: Was bedeutet es für religiöse Sprache, wenn Worte keinen immanenten Wert mehr haben, sondern nur Ergebnis statistischer Berechnungen sind? Eine vierte Frage richtet sich auf die enormen Personalisierungsmöglichkeiten, die mit Künstlicher Intelligenz einhergehen. Wenn die datenhungrigen KI-Algorithmen in Smartphone, Internet und Social Media die Nutzer*innen besser kennen als ihre Freundeskreise, wie es bereits vor Jahren für Facebook behauptet wurde, ist computergenerierte spirituelle Sprache dann nicht auch persönlicher als die von Prediger*innen und Seelsorger*innen genutzte? Wir haben es mit Fragen zu tun, die nach einem weiten Raum im innerkirchlichen Diskurs verlangen.
Man muss eine Haltung gegenüber nichtmenschlicher Intelligenz und nichtmenschlicher (religiöser) Sprache finden, um dieser Technologie nicht sprachlos gegenüberzustehen.
KI als Götzenbild? Theologische Analogien und ihre Grenzen
Doch Künstliche Intelligenz stellt nicht nur Anfragen an die Glaubensvermittlung. Auch Glaubensinhalte bedürfen im Spiegel der Technologie einer Neubetrachtung. Die evangelische Publizistin Johanna Haberer etwa fragt pointiert, ob der Mensch sich mit KI nicht ein Ebenbild schaffe, so wie Gott sich mit den Menschen ein Ebenbild geschaffen habe. Natürlich ist der Unterschied zwischen beiden Schöpfungsakten fundamental. Ihre Schlussfolgerung trifft aber ins Schwarze: Hier wie dort stelle sich die Frage nach Verantwortung und Kontrolle. Ein interessanter Gedanke, der gerade im Lichte des im Silicon Valley deutlich artikulierten Ziels übermenschlich intelligenter KI-Systeme zu Gesprächen einlädt. Und dieses Ziel hat es in sich. Denn die unter anderem von OpenAI, Google und Anthropic angestrebte Allgemeine Künstliche Intelligenz bzw. Superintelligenz hat für viele Menschen sogar göttliche Züge. Das vom US-Futuristen Ray Kurzweil häufig platzierte Bonmot „Gibt es einen Gott? Noch nicht!“ bringt die transhumanistische Heilslehre auf den Punkt: Wir Menschen schaffen ein überintelligentes Wesen, mit dem wir, sobald unser Gehirn digitalisiert ist, verschmelzen. Ermöglichen sollen das Gehirn-Computer-Schnittstellen, an denen derzeit (wenn auch primär für andere Anwendungsszenarien) intensiv geforscht wird.
Auf Christen wirkt diese Vision auf den ersten Blick wie eine blasphemische Karikatur. Doch die Idee ist dem Christentum nicht fremd: Wir Gläubigen wissen, dass wir Gott niemals begreifen können – dennoch können wir als Getaufte (physisch sogar in der Eucharistie) Anteil an ihm haben.
Weitere Analogien erscheinen am Horizont, wenn der Blick auf die rasante Entwicklungsgeschwindigkeit und die unvorhersehbare Zukunft der KI-Technologie gerichtet wird.
- Die mit Internetdaten trainierten aktuellen KI-Modelle haben einen großen Teil des medial vermittelten menschlichen Wissens gespeichert. Darüber hinaus kennen KI-gesteuerte Social-Media-Algorithmen die Tagesabläufe, Interessen und Abneigungen von Milliarden Menschen. Wie weit ist es vom Status Quo bis zur göttlichen Allwissenheit?
- Schon heute steuern KI-Algorithmen Produktionsprozesse, beeinflussen KI-Bilder und -Texte Internetnutzer*innen, rauben Facebook, Instagram und Tiktok ihren Mitgliedern wertvolle Lebenszeit. KI hat schon heute Macht. Wird diese irgendwann zur Allmacht?
- KI-Chatbots sind immer erreichbar, immer freundlich, immer hilfsbereit und scheinbar stets auf der Seite der Anwender*innen – Ist das vielleicht schon Allgüte?
Ein Appell zur Verhältnisbestimmung
Provokante Vergleiche wie diese regen zum Widerspruch an, zur leidenschaftlichen Verteidigung der persönlichen Dimension Gottes. Mindestens sind sie ein Angebot zur Vergegenwärtigung der eigenen Glaubenssätze und den Austausch mit anderen Christen über das, was Menschen menschlich und Gott göttlich macht. Genau dafür ist es jetzt an der Zeit. Leitung, Personal und Mitglieder der Kirchen, Theologie Studierende und Lehrende sind herausgefordert, eine Haltung gegenüber nichtmenschlicher Intelligenz und nichtmenschlicher (religiöser) Sprache zu finden, um dieser weltverändernden Technologie nicht sprachlos gegenüberzustehen.
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Michael Brendel (Jg. 1977), Studium der Kath. Theologie und der Musikwissenschaften in Köln und Berlin; Hörfunkvolontariat und mehrjährige leitende Redaktionstätigkeit in Berlin; seit 2012 Studienleiter im Ludwig-Windthorst-Haus, Lingen (Schwerpunkte: Digitale Transformation und Medienpädagogik).
Podcast Das glaub‘ ich gern. (seit 2022) / aktuelles Buch: ChatGPT, Generative KI – und wir! Kreative Künstliche Intelligenz verantwortungsvoll nutzen (2024)
Beitragsbild: Erstellt von OpenAI („Glaube und KI“)


