Sie tritt langsam ab, die Boomer-Generation, auch in der Theologie. Hans-Joachim Sander blickt zurück – und nach vorn.
Es ist nichts Besonderes: Menschen sind nach einem längeren Arbeitsleben in den Ruhestand getreten so wie ich und wie nun viele meiner Generation. Das ist gesellschaftlicher Alltag und es gibt keinen Grund, sich zu haben. Es steht Rückschau an und das Gefühl, von der Zeit langsam, aber unerbittlich zur letzten Generation geschoben zu werden, also jener ohne das großgeschriebene Adjektiv.
Wir Boomer kennen und können Getümmel
Rainer Bucher hatte eine illustre Runde von Kolleg:innen eingeladen, die schon oder bald aus dem aktiven Dienst ausgeschieden sind. Es ging darum zurückzublicken, nicht zurückzuschauen. Nur das geht: Es gibt keinen Feldherrnhügel, wo sich der Verlauf der Schlacht erschließt, die meine Generation kulturell und kirchlich, wirtschaftlich und politisch, global und lokal geschlagen hat. Wir Boomer kennen nur das Getümmel, wir waren von Kindheit an viele, in allen Vorschul-, Schul-, Lebens-, Gesellschafts-, Politik-, Ausbildungs-, Bewerbungs-, Konkurrenz-, Arbeits-, Freizeit-, Beziehungs-Lagen.
Wir werden auch viele bleiben in Altenheimen oder selbst organisierten Wohnprojekten, in Rentenkassen oder auf Palliativstationen. Wir kennen Getümmel und wir können Getümmel. Darin sind wir Meister:innen. Wenn sich alles irgendwie wegschleicht wie heute die Einschreibzahlen an den Fakultäten, die schütteren Gesängen der Sonntagsmessen, aber auch nach bemüht-organisierten kirchlichen Massenaufläufen ist das unsere Welt nicht, auch wenn sie uns natürlich schon längst seit Jahren erwischt hat.
Die unheilige Trinität
Wir haben von der langen Friedensperiode profitiert, die Europa bis Februar 2022 in so vieler Hinsicht aufatmen ließ. Unsere Lebensräume blieben verlässlich unangetastet. Über den Rubikon müssen jetzt alle derzeitigen Generationen gehen. Bei all dem Autoritären, das lauernd mit den Hufen scharrt, wird es aber erneut auf meine Generation ankommen. Es wird weiter auf uns ankommen, weil wir uns nicht beirren ließen, wenn alles sich ändert und prekär wird. Das hat uns ständig begleitet – 68er-Revolution, Grenzen des Wachstums, Tschernobyl, 1989, Balkankriege, Tsunami, social media. Es ist geradezu unser Lebensgefühl. Wir können das und wir haben es noch immer geschafft, das hinter uns zu lassen. Darauf kommt es an in der unheiligen Trinität von Sex-Macht-Geld, die alle auf diesem Planeten so unbarmherzig im Griff hat. Ich bleibe jetzt bei den religiös-katholischen Modi dieser Trinität und wie meine Generation darauf reagierte und reagiert.
Sex
Humanae vitae hatten wir schon geerbt, als wir sexuell aktiv wurden. Aber beeindruckt hat es nicht. Wir taten das einzige, was dieser Text und seine Sexualmoral verdienen – sie wie lästigen Staub abschütteln und die klebrigen Disziplinaransprüche ignorieren. Anders ist das dann mit dem sexuellen Missbrauch im Katholisch-Kirchlichen gewesen, als es sich im Spotlight des Boston Globe am Dreikönigstag 2002 zu winden begann wie ein ertappter Sünder, der sich nicht vorstellen konnte, dass ihm so etwas Empörendes wie diese verachtete Aufklärung jemals geschehen könnte.
Man war doch über Jahrzehnte mit der lange erfolgreich eingeübten Heuchelei davongekommen. Sie hängt direkt und ursächlich mit jener von Humanae vitae und ihren Folgen zusammen. Heuchelei ist eine Grundsignatur des katholischen Willens zur Macht über das Intime. Viele aus meiner Generation kannten Täter und waren ihnen oft näher, als ihnen lieb war. Der Tsunami der Enthüllungen ist noch längst nicht vorüber, weil all die Abbé Pierres und Dillingers, Pilzens und Rupniks, Philippes und Macials noch längst nicht aus den Untiefen des Dunkelfeldes aufgetaucht sind. Seit 2002 wurde der Grad der Heuchelei zur bestimmenden Kategorie, um die Hochhierarchie einzuschätzen. Davon erholt sich die Kirchlichkeit meiner Generation nicht mehr. Und das ist gut so, denn damit lässt sich kein Frieden schließen.
Macht
Im schwerkatholischen Milieu, in dem viele von uns wie auch ich noch groß geworden sind, war sie pianisch. Nach dem Konzil trug sie Synodengewänder und sang neue geistliche Lieder. Sie versprach überfällige Reformen, aber verhinderte sie schwerfällig. Sie wurden auf eine Bank geschoben, die gar nicht lang genug sein konnte und viele fleißige Tischler in Rom und den Bischofskonferenzen bauten schnell weiter, sobald es fürs Sitzenbleiben eng wurde. Funktionierte das Synodalformat einmal wie in Medellín, kamen dann bei den Pueblas, Santo Domingos, Apparecidas der Weltkirche jene emsig um die Ecke, die nach der Regel des Johannes Paul II zu Bischöfen geworden waren: Vorrangig soll ernannt werden, wer dafür nicht geeignet ist, denn solchen Amtsträgern bleibt nur Romtreue übrig. Ausnahmen gab es natürlich; sie bestätigen die Regel und blieben blockiert.
Die säkulare oder religionsfriedliche Wertschätzung schrieb diesen Papst zu einem der Hauptakteure bei der Abwahl eines Jahrhunderts hoch (Garton Ash). Aber sie schaute partout nicht hinter die Kulissen der katholischen Macht oder wollte es nicht. Dort sprießten die Neuen Geistlichen Gemeinschaften nur so und die nach Regel auserwählten Bischöfe konnten sich nicht emsig genug den Rang ablaufen, wer sie am besten fördert. Jahrzehnte später wurde sichtbar wie bei den Legionären, der Arche, der Famille St. Jean, der Integrierten Gemeinde, den Seligpreisungen, dem Werk, dem Sodalicio, auch in Taizé und anderswo, wohin die geistliche Erwählung tatsächlich führte.
Aufräumen, was an spirituellem Missbrauch dabei angeschwemmt wurde, wird lange dauern. Es ging um die Machtpotentiale, die aus der Verachtung der Moderne und ihrer individuellen Freiheitsräume entstehen und sich für diese Verachtung der modernsten Kommunikationsmittel bedient, die es gibt. Das hatte der globale Medienpapst mit Ayatollah Khomeini, dem religious zionism und der evangelikalen Moral Majority gemeinsam. Die Schlachtgesänge der cultural wars, die seit damals aufgesetzt wurden, sind noch nicht ausgesungen, sie werden neu vertont und schriller vertont in den social media. Meine Generation hat vor ihren Sirenengesängen die Ohren verstopft und wie schon Odysseus werden auch wir gewinnen. Aber bekanntlich dauert die Odysee lang.
Geld
Georg Simmel hat vor gut hundert Jahren beschrieben, was meine Generation erlebt hat: Gott kann durch Geld ersetzt werden. Lebensrisiken werden nicht vor Gott, sondern mit Versicherungen rückversichert. Gottes Ersetzung durch Geld geht dort – und nur dort – gut aus, wo die Freiheitsgrade des Geldes mehr bringen als die Demütigungen, mit denen Gott gegen die Moderne in Szene gesetzt worden ist. Das ist keine so schwierige Übung geworden, weil die säkulare Welt der Religion so viel Platz lässt, dass noch nicht einmal Märtyrer dagegenhalten. Überhaupt muss man dem demütigenden Gott nicht nachtrauern und auch nicht seinem Sündenbock-Proxy.
Der Hauptwiderspruch, auf den die 68er so gerne verwiesen, verläuft nicht zwischen Gott und Mammon. Er verläuft zwischen einem Gott, der im Verbund mit Geld demütigend eingesetzt wird (oder umgekehrt), und jenen Ermächtigungen aus einer Gott-Geld-Koalition, die Menschen gegen ökonomische Mächte und religiöse Gewalten stärkt, die sie klein halten. Es geht um die Alternative autoritäre Herrschaft, in der Superreichtum mit Religion kombiniert wird, oder demokratische Herrschaft, in der man mit Gott gegen sich bereichernde Ungerechtigkeiten agiert.
Für das erste gibt es bereits viele Beispiele: das pentekostale Geschäftsmodell, den evangelikalen Rechtspopulismus à la Bolsonaro, das Prosperity-Gospel, den Moskauer Patriarchatsoligarchen, Irans Mullah-Herrschaft und alle Golfstaaten, die Fox-News-Kopie des Vincent Bolloré für die Übernahme Frankreichs durch eine katholische Reaktion, den libertären Neointegralismus à la JD Vance. All das will nicht einfach die religiöse Position im Staat verbessern, sondern den Staat parasitär übernehmen, um dann religiöse Präferenzen mit Macht durchzusetzen.
Gegen die autoritäre Herrschaft, in der Rechtspopulismus religiös aufgeladen wird, ist eine andere Theologie nötig, als meiner Generation mit politischen Theologien zur Verfügung stand. Wir treten jetzt theologisch-universitär ab, aber es kann sein, dass unsere Widerspenstigkeit gegen autoritäre Religionsmodi gerade erst in die finale Runde kommt, die auch noch alles toppt, was wir bis hierher hinter uns ließen.
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Hans-Joachim Sander ist pensionierter Professor für Dogmatik an der Universität Salzburg.
Foto: © PLUS/S. Haigermoser
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