Im Bemühen um eine soziale und ökologische Umkehr und die Überwindung anthropozentrischer Konzepte entwickelt Fabian Retschke einen Ausblick auf die Arbeit an Haltungen und Bewusstseinsfragen. Darin zeigen sich Schritte zu einer ökologischen Geschwisterlichkeit.
Trotz lautstarker Bemühungen, den menschengemachten Klimawandel zu leugnen, wird er allgemein als wissenschaftliche Tatsache anerkannt. Seine Folgen sind bereits spürbar in Form von Extremwettereignissen und den hervorgerufenen Notlagen und Versorgungsproblemen. Es ist bekannt, dass die hohe Ansammlung der sogenannten Treibhausgase in den irdischen Luftmassen und die Veränderungen von Oberflächen und Lebensräumen dafür sorgt, dass der Planet sich immer weiter aufheizt und sich selbst nicht mehr so gut wiederherstellen kann wie früher. Darunter leiden alle Lebewesen.
Ständige Menschwerdung
Weniger Aufmerksamkeit erhalten dagegen die kulturellen Umstände, die diese Entwicklung begünstigen. Wir befinden uns in einer ständigen Menschwerdung, sind keine abgeschlossen unveränderlichen Wesen. Unser Handeln wird geprägt von anderen Menschen und bildet sich nach ihrem Vorbild und Beispiel aus. Ganz grundsätzlich kann festgestellt und beobachtet werden, dass das Bild, das Menschen sich von sich selbst machen, Auswirkungen auf ihr Denken, Fühlen und Handeln hat.
Die Grenzen der eigenen Vorstellungskraft und Verhaltensmuster begrenzen auch die Möglichkeiten, auf bestimmte Umstände angemessen zu antworten. Damit bewegen wir uns in dem Themenfeld, dass wir als theologische Anthropologie bezeichnen, also als Denken über das Menschsein vor dem Hintergrund gläubiger und auf Gott bezogener Vorstellungen. Diese hat sich mit dem Verhältnis des Menschen zu Gott als Schöpfer und zu den anderen Geschöpfen in Gottes Schöpfung bereits beschäftigt.
Ökologische Männlichkeiten
Insbesondere die Frage nach den mit Geschlechterrollen (auch Gender) zusammenhängenden Umweltbeziehungen und dem Handeln in ihnen wurde früher bereits vom sogenannten Ökofeminismus erörtert, auch in der Theologie.[1]Bedauerlicherweise wurde hier nicht selten pauschal gegenübergestellt, Frauen verhielten sich in der Schöpfung fürsorglich, Männer aber zerstörerisch, als wären dies Eigenschaften, die von ihrer „Natur“ herrührten. Solche Stereotype zu bedienen, verstärkt eher noch das Problem, bestätigt es doch Neigungen.
Die kritischen Forschungen zu Männlichkeitsvorstellungen und entsprechenden gesellschaftlichen Erwartungen und Normen haben stattdessen darauf hingewiesen, dass unter ihrem Einfluss aufzuwachsen Bedeutung hat für die Beziehung zur Erde. Die traditionell vorherrschenden Ideale des „echt Männlichen“ wie Unabhängigkeit, Überlegenheit, Durchsetzung, Gewaltbereitschaft, Bedrohlichkeit, Beherrschung, einer geringen Bandbreite annehmbarer Gefühlsäußerungen (Ärger, Lust, Abneigung) machen einen fürsorglichen, mitfühlenden, zärtlichen und achtsamen Umgang mit dem verwundbaren anderen (inkl. Erde) mindestens nicht sehr erstrebenswert.
Wird dies also bewusst als Problem der Sozialisation, kann es verändert werden. So könnten ökologische Männlichkeiten die in allen Menschen vorhandenen Fähigkeiten, umfassend fürsorgliche Beziehungen zu entwickeln, wiederentdecken und fördern, meinen Martin Hultmann und Paul Pulé.[2] Die „ökologische“ Fürsorge soll dabei die Zusammenhänge zwischen Beziehungsstrukturen verschiedener Art in den Blick nehmen. Umweltfragen können nicht mehr getrennt von Fragen der Beziehung zu sich selbst, zu anderen Menschen und Lebewesen und auch zum spirituellen/religiösen Horizont betrachtet werden.
Zu diesem Ergebnis kam im Grunde auch Papst Franziskus in seiner Enzyklika Laudato Si‘ (LS), dem jüngsten Höhepunkt katholischer Soziallehre zu diesem Thema: „Alles ist miteinander verbunden“ (LS 16; 91; 117; 138; 240). Ohne Männlichkeit zu erwähnen, stellte er fest: „Es gibt keine Ökologie ohne eine angemessene Anthropologie” (LS 118). Unangemessen ist, wenn die Vertreter*innen des fossilen Kapitalismus sich über Ansprüche anderer erhaben und überlegen wähnen, als ginge es sie nichts an, dass andere zugrunde gehen.
Anthropozentrische Ideologisierung
Dahinter steht eine anthropozentrische Ideologisierung, die alle Beziehungsordnungen nachhaltig gestört und unser Verhältnis zur Wirklichkeit verzerrt hat. So wurden (bestimmte) Menschen als freie, individuelle Subjekte und „Geistwesen“ dem Stofflich-Körperlichen als unbelebte Verfügungsmasse gegenübergestellt und davon getrennt. Diese Abwertung in der Seinsordnung (ontologische Degradierung) schaffte die gedanklichen Voraussetzungen, um den Planeten zu Privateigentum erklären und ihn nach Belieben auszubeuten zu dürfen. Claudia Brunner nennt diesen Vorgang treffend „epistemische Gewalt“.[3]
Die Antwort auf dieses substanzialistische Paradigma, also ein von unveränderlichen Substanzen in geschlossenen Systemen ausgehendes Denken, muss ein relationales Paradigma sein. Dieses geht davon aus, dass die Beziehungen ursprünglicher sind und alles Singuläre (einzelne Dinge etc.) erst aus sich hervorbringen und immer in sich erhalten, weil sie alles mit allem verbinden. Ein solches für die Ökologie bekanntes Denken von Wirklichkeit als Gefüge offener Systeme wird gerade in der Soziologie, der Biologie, der Philosophie und anderen wissenschaftlichen Richtungen durchdacht.
Menschen als Teil
einer größeren Wirklichkeit
Auch die theologische Anthropologie kann daraus viel gewinnen, nicht zuletzt, weil sie in einem trinitarischen Gott einen Urgrund allen Seins findet, der in sich auch eine komplexe Einheit von Beziehungen ist. Das bedeutet allerdings nicht, dass Menschen sich nurmehr in Beziehungen oder Prozesse auflösen. Vielmehr verstehen wir uns Menschen dann selbst als Teil einer größeren Wirklichkeit, die immer nur in und dank Beziehungen bestehen kann, als hineinverwoben in die komplexe Fabrikation planetaren Lebens in Lebensräumen, Kohlenstoff-Klima- ebenso wie in Stoffwechselkreisläufen, Produktionsketten, und eingebettet in familiäre wie gesellschaftliche Beziehungsnetze, nicht zuletzt in göttliche Beziehungen.
Dieses Vom-Anderen-her-Begründet-Sein legt unsere gegenseitige Abhängigkeit und Verwundbarkeit offen, wiederum nicht als abstrakte Wesenseigenschaft, sondern als Ergebnis der konkreten Bedingungen der uns jeweils bestimmenden Beziehungen. Wie verwundbar und bedroht Meeresbewohner oder Küstenbevölkerung sind, hängt von unserem Tun ab. Wir nennen das Anthropozän, aber aus Unbehagen ob dieser Verantwortung. In diesem Zeitalter kann sich eine relationale theologische Anthropologie nicht als ideologiefrei verstehen.
Vielmehr wird sie kritische Deutung der Gegenwart mit dem Ziel, eine soziale und ökologische Umkehr zu fördern, im Anschluss an Ignacio Ellacuria also, „auf verbessernde Weise ideologisch […], nämlich als transformatives Moment der geschichtlichen Wirklichkeit“.[4] Anderes Denken inspirieren, um so die kollektive Praxis zu verändern, dazu hilft das Werk von Franz Hinkelammert (1931-2023). Mit Bezug auf Paulus (v.a. Röm; Gal) und Marx nimmt er eine Kritik des Fetischismus (in biblischen Begriffen: Bloßstellung der Götzenverehrung) vor.
Entweder stirbt das System, oder wir.
So legt er offen, inwiefern die institutionalisierten Beziehungen im globalisierten Neoliberalismus uns davon entfremden, dass wir als „körperlich bedürftige Wesen“ stets die Ergänzung durch viele andere in den lebenserhaltenden Vorgängen des Erdsystems brauchen.[5] Nicht die Übertretung des Gesetzes ist Sünde, sondern dessen Erfüllung, sagt Hinkelammert, denn mit dem blinden Gehorsam gegenüber den Marktgesetzen zerstören wir die Grundlagen unseres Überlebens und opfern mit kühl berechnender Vernunft die lebendigen Träger von Würde einer zum System gewordenen Habgier. Entweder stirbt das System, das die Bedingungen unseres Überlebens unterm Strich ignoriert, oder wir.
Nur die nachhaltige Entwicklung eines neuen Bewusstseins unserer gegenseitigen Abhängigkeit (Interdependenz) und von Beziehungsstrukturen, die Fürsorge und Gerechtigkeit fördern, kann die Bedingungen würdigen Lebens erhalten. In der Begegnung mit dem leidenden Subjekt (Lk 10,29-37) bleibt eine relationale Gnade wirksam, die eine ökologische Geschwisterlichkeit aufbauen hilft.
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Fabian Retschke ist Theologe und Ordenspriester in der Gesellschaft Jesu und arbeitet in Berlin beim Jesuiten-Flüchtlingsdienst sowie als Seelsorger in einer Pfarrei. Der vorliegende Artikel ist Ergebnis der Reflexionen seiner 2025 abgeschlossenen Dissertation.
Titelbild: gruntzooki is licensed under CC BY-SA 2.0.
[1] Zum Beispiel: Gaard, Greta. “Ecofeminism and climate change”. Women’s Studies International Forum, 49/1 (2015): 20-33. Garlick, Steve. “The Return of Nature: Feminism, Hegemonic Masculinities, and New Materialisms”. Men and Masculinities, 22/2 (2019): 380-403. Lettow, Susanne; Nessel, Sabine. “Introduction: Ecologies of Gender and the Nonhuman Turn”. In: S. Leto; S. Messel (hrsg). Ecologies of Gender. Contemporary Nature Relations and the Nonhuman Turn. 1-12. New York: Routledge, 2022. Mellor, Mary. “Ecofeminist political economy: a green and feminist agenda”. In: S. MacGregor (hrsg.). Routledge Handbook of Gender and Environment. Nueva York: Routledge, 2017. 86-100.
[2] Hultmann, Martin; Pulé, Paul. Ecological Masculinities. Theoretical Foundations and Practical Guidance. London: Routledge, 2018. Sowie: Ebd. (hrsg.) Men, Masculinities, and Earth. Contending with the (m)Anthropocene. (Palgrave Studies in the History of Science and Technology). Cham: Palgrave Macmillan, 2021.
[3] Brunner, Claudia. Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne. Bielefeld: Transcript, 2020.
[4] Ellacuría, Ignacio. „La teología como momento ideológico de la praxis eclesial“. In: Estudios Eclesiásticos 53 (1978): 457-476.
[5] Hinkelammert, Franz. La maldición que pesa sobre la ley. Las raíces del pensamiento crítico en Pablo de Tarso. San José: Editorial Arlekín, 2013. Von ihm existieren auch einige deutsche Ausgaben, in denen sein Denken auch zu finden ist.