Michel de Certeau SJ (1925-1986) war einer der originellsten Theolog:innen des 20. Jahrhunderts. Feinschwarz.net begeht seinen hundertsten Geburtstag am 17. Mai 2025 mit einer Artikelreihe. Unser Autor heute: Marian Füssel.
Der Jesuit und Historiker Michel de Certeau (1925-1986) war – für einen katholischen Ordensmann auf den ersten Blick vielleicht ein wenig überraschend – offensichtlich auch ein interessierter Kinogänger und Fernsehzuschauer. Während er seit den 1980er Jahren nicht zuletzt auf Grund seines Begriffs der taktischen Aneignung und seiner Raumtheorie zu den festen theoretischen Bezugsgrößen in der Film- und Fernsehwissenschaft gehört, ist seine eigene Filmrezeption bislang kaum thematisiert worden.
Diverse Filmbesprechungen
In de Certeaus Werk finden sich jedoch diverse Filmbesprechungen, und er nutzt immer wieder Filme als ‚Denkbilder‘ im Sinne Walter Benjamins, um einen historischen Sachverhalt, eine Problematik, eine Relation zu verdeutlichen. [1] So dienen häufig Filmszenen oder Bildbeschreibungen als Einstieg oder Ausblick eines Themas. Das Repertoire der Filme reicht vom Stummfilmklassiker bis zum Horrorfilm der 1970er Jahre.
In der Zeitschrift Ça cinéma hat Certeau 1977 zusammen mit dem Asien-Historiker Jean Chesneaux (1922-2007) ein Interview zur Problematik des Historienfilms gegeben. [2] Für Certeau hat das Medium Film ähnliche Probleme wie jede narrative Geschichtsschreibung: Seine sinnkonstruierenden Erzählstrategien gehen auf Kosten der Alterität des Historischen. Gleichwohl eignet dem Film eine phänomenologische Bildgewaltigkeit, der selbst analytische, poetische und historisierende Qualität zukommen kann.
Chaplin und die Geschichte
Immer wieder greift de Certeau auf die Filme Charlie Chaplins zurück. So nutzt er The Gold Rush (1925) und Modern Times (1936) in La Prise de Parole (1968), um die Situation der 68er Revolte zu symbolisieren. In Goldrausch verbringt der Tramp eine Nacht in einer Hütte am Rande einer Klippe, als er erwacht und die Tür öffnen will, beginnt die ganze Hütte sich unter seinen Schritten Richtung Abgrund zu senken. Öffnet er die Tür stürzt er herab, tritt er zurück, bleibt er in einer verzweifelten Situation gefangen. Die Szene steht für Certeau für die gesellschaftliche Erfahrung im Mai 1968. Gibt es denn keine Alternative zwischen einem Tor ins offene Chaos und einem Verharren in der „im Konformismus verankerten Sicherheit“? [3]
Versuch der Zeitdiagnose
In seinem Versuch der Zeitdiagnose des Ereignisses 68‘ streift er ex negativo auch Chaplins Moderne Zeiten, denn selbst wenn man aus den Bildern dieses Films eine Parabel entnehmen würde, würde es nicht ausreichen, das Neuartige dieser historischen ‚Entgleisung‘ ohne Vorbild einzufangen. In L’ecriture de l’histoire versinnbildlicht Certeau die Grenzsituation der Geschichte zwischen Fakten und Fiktionen mit Chaplins The Pilgrim (1923): „Sie spielt zwischen beiden, auf der Grenze, die diese beiden Reduktionen trennt, wie Charlie Chaplin, der am Ende von The Pilgrim an der mexikanischen Grenze, zwischen zwei Ländern, die ihn jagen, hin- und herläuft und mit seinen Zick-Zack-Bewegungen ihren Unterschied und die sie verbindende Naht markiert. [4].
Die Besessenen und der Horror der Gegenwart
Mit seiner Studie über die Besessenen von Loudun (1970) in den 1630er Jahren hatte sich Certeau zu einem gefragten Experten zu Fragen der dämonischen Besessenheit und des Teuflischen gemacht. [5] Es verwundert also nicht, dass viele seiner Filmbesprechungen in das Genre des Horrorfilms fallen. 1971 bespricht er in Le Monde eine filmische Umsetzung der Loudun-Geschichte durch den britischen Regisseur Ken Russel (1927-2011). [6]
Der Film setzt auf sexualisierte antiklerikale Provokation und das Lexikon des internationalen Films beschreibt ihn als „blutrünstiges, bombastisch-obszönes Melodram. […] Ein effektgeladenes und grell-übersteigertes ‚Sitten‘-Bild, durchaus mit einigen formalen und schauspielerischen Qualitäten, das aber weder historisches noch philosophisches Bewusstsein erkennen lässt.“ [7]
Stillstellen jeglicher Ambiguität
Es ist aber nicht diese Ästhetik, die Certeau moniert, sondern die Eindeutigkeit der historischen Akteure im diabolischen Theater von Loudun – der Patriot und Liebhaber Grandier, die hysterische Jeanne des Anges und Laubardemont als sadistischer Vollstrecker Richelieus – und damit letztlich das Stillstellen jeglicher Ambiguität: „Russell ne saisit pas l’énigme désignée par „les diables“: l’ambiguïté même, l’indécision entre le réel et l’imaginaire, l’impossibilité de „classer““.
Auch den Exorzisten, einen US-Horrorfilm des Regisseurs William Friedkin aus dem Jahr 1973, basierend auf dem gleichnamigen Roman und Drehbuch von William Peter Blatty (1928-2017), hatte Certeau schon aus fachlichem Interesse heraus zur Kenntnis genommen. [8]
In die französischen Kinos kam der Film am 11. September 1974. Der Exorzist wurde zu einem der erfolgreichsten und meistdiskutierten Filme der frühen 1970er Jahre. Seine Protagonistin ist die 12jährige Regan, die an einer dämonischen Besessenheit leidet und daher einem Exorzismus unterzogen wird, den zwei Jesuiten durchführen sollen. Die Jesuiten Merrin und Karras bezahlen ihre erfolgreiche Austreibung schließlich mit dem Leben, doch das Mädchen Regan wird geheilt. Parallelen zu den Besessenen von Loudon sind offensichtlich.
Diabolische Alterität
Im Märzheft der Etudes erscheint 1975 ein Interview mit Michel de Certeau „A propos du film ‚L’Exorciste‘“ mit dem Obertitel L’alterité diabolique. Certeau reflektiert darin allgemein über den Satanismus als historisches wie als Phänomen der eigenen Alltagskultur und kommt eher am Rande auf den eigentlichen Film zu sprechen. Denn, so Certeau, der Autor dieses Films interessiere sich gar „nicht für die Fragen, die sich aus der Besessenheit ergeben“. Zwar wolle er den Anschein erwecken, daran zu glauben, aber für Certeau ist klar, „dass er die Möglichkeit einer solchen Erfahrung nicht wirklich in Betracht“ ziehe. Die „Absicht des Films“ sei es vielmehr, „Kritik an Medizin und Psychiatrie zu üben“. Wenn es überhaupt eine wirkliche Horrorsequenz in diesem Film gebe, dann sei es nicht die, in der das Mädchen grüne Flüssigkeit usw. erbreche, sondern die, in der das Kind „in die psychiatrische Maschinerie gerate, gefangen in metallenen Apparaten inmitten eines fantastischen Lärms“. Die „Monstrosität jener psychiatrischen ‚Wissenschaft‘ lasse jede teuflische Legende flüchtig werden.
Es ist aber nicht nur die Kritik an der Medikalisierung, die für Certeau ein anderes Thema als die Besessenheit ist, sondern die Frage nach dem Innen oder Außen, der in der Besessenheit und durch sie wirkenden Kraft. Aus diesem Grund beziehe er sich in der Diskussion nicht so sehr auf den Film, obwohl er von ihm ausgegangen sei. So glaube der Autor des Exorzisten, die Besessenheit sei eine „Art Herrschaft durch eine rein externe Kraft“, dargestellt in einem „mehr oder weniger dramatisch-malerischen Modus“. Genau das sieht Certeau anders. Für ihn kommt zumindest im historischen Beispiel Louduns die Besessenheit nicht von außen, sondern aus dem inneren der Besessenen. Aus dieser Perspektive verfehlt Der Exorzist sowohl die psychologische wie die theologische Logik des Phänomens. Auch auf die Fortsetzung des Exorzisten The Heretic von 1977 ging Certeau ein. [9]
Der Teufel möglicherweise
Andere von Certeau besprochene Filme der 70er haben eher sozialkritischen Charakter: Darunter La Cecilia von Jean-Louis Comolli (1976), der von italienischen Anarchisten handelt, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Brasilien auswandern und dort eine libertäre Gemeinschaft gründen oder A bientôt j’espère von Chris Marker (1968), einer Dokumentation über einen Streik in der Textilfabrik Rhodiacéta in Besançon im März 1967. [10]
Eine Filmbesprechung von eigener lyrischer Qualität publiziert Certeau 1977 zu Robert Bressons Le Diable probablement (1977) [11]. Die Geschichte des 20jährigen Umweltaktivisten Charles, der sich aus Verzweiflung auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise von einem Freund erschießen lässt, ist eine geradezu dystopische Abrechnung mit der modernen Gesellschaft. Für Certeau ist der Film „mehr als eine Geschichte, es ist ein faszinierender und eiskalter Albtraum“. Certeau bewundert die „seltsame Schönheit des Helden, unentschlossen, nebulös“, die die „eines Schattens“ ist. „Charles ist abwesend, kommt aus dem Jenseits (und seinem Tod) und hinterlässt eine Spur der Stille in dieser Welt, die immer mehr bewohnt und immer weniger bewohnbar wird. Er durchquert alle Szenen wie ein Geist.“
Neue Blickwinkel
Für Certeau offenbart der Film eine geradezu albtraumhafte Struktur: „Kein Lachen ist in diesem Land zu hören. Nichts in der Stadt zeugt von Leidenschaften oder Freuden. Diese gespenstische Kulisse ist die Bühne, auf der Angst und Furcht auftreten – ‚wahrscheinlich der Teufel‘, wie der anonyme Reisende in einem dröhnenden Bus, der ins Ungewisse fährt, beiläufig bemerkt.“ Doch man muss selbst kein Fan dieser Filme mit heute teils fern liegendem ästhetisch-politischen Zeitkern sein, um zu spüren, dass uns ein Gang mit Michel de Certeau ins Kino, neue Blickwinkel auf das Denken und Schreiben eines intellektuellen Grenzgängers eröffnet.
Marian Füssel ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der Wissenschaftsgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Von ihm erschien Zur Aktualität von Michel de Certeau (Wiesbaden. Springer, 2018) und (Hg.), Michel de Certeau. Geschichte – Kultur – Religion (Konstanz: UVK, 2007).
[1] Vgl. die Nachweise in Luce Giard, Bibliographie complète de Michel de Certeau, in: Dies. (Hg.), La voyage mystique, Michel de Certeau, Paris 1988, S. 191–243; vgl. auch Marian Füssel, Zur Aktualität von Michel de Certeau, Wiesbaden 2018, S. 19.
[2] Michel de Certeau und Jean Chesneaux, Le film historique et ses problèmes, in: Ça cinéma 12-13 (1977), S. 3-15.
[3] Michel de Certeau, La prise de parole et autres écrits politiques, Paris 1994, S. 58, 60 u. S. 77.
[4] Michel de Certeau, Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt a. M. 1991, S. 65.
[5] Michel de Certeau, La Possession de Loudun, Paris 1970.
[6] Michel de Certeau, Une fȇte prissoniere in Le Monde 28. Oktober 1971, https://www.lemonde.fr/archives/article/1971/10/28/michel-de-certeau-une-fete-prisonniere_2474369_1819218.html
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Teufel_(Film)
[8] Michel de Certeau, L’altérité diabolique. A propos du film ‘L’exorciste’ (Interview), in: Études 1975, S. 407-420.
[9] John Boormans Exorcist II: The Heretic (1977), in: Lorsque l’ordre et la science mettent l’homme en prison, les démons se réveillent in: Télérama Nr. 1463, 25. Januar 1978.
[10] Rencontres avec Michel de Certeau et Jacques Revel (entretien), in: Ça cinéma 10-11 November 1976, S. 26-44.
[11] Michel de Certeau, La cimetière des images, in: Les Nouvelle littéraires 23-30, Juni 1977. https://www.sabzian.be/text/le-cimeti%C3%A8re-des-images
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