Florian Flohr hat das Format „Die Predigt“ in der Luzerner Peterskapelle mitbegründet. Er schreibt über die Intentionen von „Die Predigt“ und lädt ein zur Reflexion über die „gewöhnlichen“ Predigten.
Vor fünf Jahren meldete sich ein bekannter Luzerner Theatermacher beim Leiter der Citykirche Peterskapelle in Luzern, um ein spezielles Projekt zu besprechen. Die Idee war so einfach wie bestechend. Einmal im Monat sollten an einem Sonntagvormittag – also zur üblichen Zeit – in der Kapelle Predigten gehalten werden, allerdings nicht für das übliche Publikum und nicht mit den üblichen Redner:innen.
Livio Andreina – zuletzt als Regisseur des Welttheaters in Einsiedeln auf der grossen Bühne aktiv und seit Jahrzehnten in der freien Theaterarbeit engagiert – kam mit einem klaren Konzept, das aus einer Idee bei einem Glas Wein mit dem Luzerner Journalisten und Theaterautor Christoph Fellmann entstanden war. Ein Kuratorium ohne kirchliche Beteiligung soll für die Auswahl der Prediger:innen sorgen. Gefragt werden bekannte und engagierte Persönlichkeiten aus Kultur, Politik, Sport und Wissenschaft, die etwas zu den «Zeichen der Zeit» zu sagen haben. Sie sind frei, im Rahmen von 25 bis 35 Minuten ein Thema, einen Gedanken, einen Appell zu explizieren – gerahmt von zeitgenössischer Musik von ausgezeichneten Solisten:innen und mit der Möglichkeit zum Austausch beim anschliessenden Apéro, offen für ein diverses Publikum ausserhalb des «kirchlichen Kuchens».
bekannte und engagierte Persönlichkeiten aus Kultur, Politik, Sport und Wissenschaft
In einem kurzen Initialtext fasste ich damals die Intentionen des Projekts zusammen. Er soll als Raster dienen, um «Die Predigt» im fünften Jahr ihrer Durchführung zu reflektieren. Zugleich sei er mit zwei Vorbemerkungen versehen: Zunächst geht es im das Image der kirchlichen Predigten und nicht um ein Pauschalurteil über die tatsächliche Qualität des Predigens in der heutigen Praxis. Das «Wir» des Textes spricht jene grosse Gruppe von kirchenfernen und agnostischen Menschen an, die «Predigt» nur mit diesem Image kennen.
Nein, das müssen wir uns nicht antun – uns bepredigen lassen, von oben herab, mit moralischem Zeigefinger und religiöser Besserwisserei. Die Zahl der Zuhörer:innen schwindet nicht umsonst; die Predigt hat ein schlechtes Image. Ist es nicht gut, dass diese monologische, dogmatische Form der Rede verschwindet?
Wir meinen: Nein. Eine gute Rede, die persönliche Überzeugung, anregende Reflexion, gepflegte Sprache und Charisma verbindet, ist und bleibt hörens- und sehenswert. Existenzielle und gesellschaftspolitische Fragen, ethische und philosophische Themen rufen danach, aus einer klaren und zugleich gesprächsbereiten Position heraus beleuchtet zu werden.
Gute Predigt fängt beim Hören an, beim genauen Hinhören auf die Zeichen der Zeit, auf die eigenen Beweggründe und Prägungen, auf historische Konstellationen und die besten Traditionen der Menschheit. Gute Predigt vergegenwärtigt die Diversität der Zuhörenden, die unendlich vielfältigen biografischen und kulturellen Facetten, aus denen heraus sich zuhörendes Verstehen entwickelt. Gute Predigt pflanzt Gedanken- und Gefühlsmotive ein, die weiterwirken. Gute Predigt kann Klage und Anklage, Kritik, Aufklärung, Ermutigung und Trost sein; immer aber baut sie auf eine offene Zuhörerschaft, die sich bewegen lässt.
Humanistische Interventionen sind nötiger denn je – aus welchem religiösen oder weltanschaulichen Repertoire sie dabei auch schöpfen. Deshalb laden wir zur Predigt ein. Einmal im Monat, mit anschliessendem Gespräch.
1. Kritisches Selbstbild
Wer die abnehmende Reichweite kirchlicher Praxis und die schwindende gesellschaftliche Bedeutung der Kirchen ernst nimmt und nicht in ein resigniertes «Weiter-wie-bisher» verfallen will, muss klassische Formate wie die Predigt im Gottesdienst (selbst-)kritisch unter die Lupe nehmen. Wen erreicht dieses Format noch, und vor allem: wen nicht mehr? Und mit welchen Erwartungshaltungen und prägenden Erfahrungen hat das zu tun?
Das hat die Predigt ins Abseits gespielt.
Predigten haben dabei emblematischen Charakter. Das Bild von Kirchenvertreter:innen, die von oben herab sprechen (auch wenn es nicht mehr unbedingt von der architektonisch erhöhten Kanzel her geschieht), im vermeintlichen Wissen, was für die Zuhörenden «da unten» richtig und wichtig ist, begründet in einem religiösen Überlegenheitsbewusstsein und wenig alltagstauglich: das hat die Predigt ins Abseits gespielt und die Rolle der Kirchen als sinnstiftende und zukunftsweisende gesellschaftliche Kräfte in Frage gestellt.
Die Projektidee «Die Predigt» griff dieses Scheitern und das daraus entstandene nachhaltig schlechte Image auf. Wenn Kulturschaffende auf diese Weise eine kirchliche Tradition kritisch beleuchten und zugleich kreativ transformieren, dann gibt es zwei mögliche Reaktionen: Entweder eine defensive, apologetische Ablehnung von «fremder Einmischung in die inneren Angelegenheiten», oder offenen Dialog und Kooperation um der vielen Menschen willen, die Orientierung nicht mehr auf den klassischen Kirchenpfaden suchen.
2. «Von aussen»
Die Kooperation mit nichtkirchlichen Kreisen geht von einem Grundgedanken aus. Die Kirchen können sich nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Bedeutungslosigkeit und des negativen Images ziehen. Sie brauchen «unverdächtige» Partner:innen aus der Zivilgesellschaft, die ihnen auf der Suche nach einer neuen Rolle, nach dem unverbrauchten Teil der eigenen Quellen und bei der Kontaktaufnahme mit entfremdeten Milieus helfen.
Macht- und Kontrollansprüche loslassen
Dies setzt eine echte Partnerschaft voraus. Es geht darum, Macht- und Kontrollansprüche loszulassen und auf Freiheit und Vertrauen zu setzen. Für «Die Predigt» hiess das: Trägerschaft ist ein eigener, finanziell unabhängiger Verein; das Kuratorium entscheidet unabhängig und besteht aus nicht bei der Kirche angestellten Kulturschaffenden. Die Peterskapelle stellt den Raum mit der nötigen Infrastruktur zur Verfügung und bewirbt das Projekt.
ein wunderbares Spektrum von sehr unterschiedlichen «Predigten»
Aus dieser Konstellation entstand ein wunderbares Spektrum von sehr unterschiedlichen «Predigten», mit einem sehr gemischten Publikum von 30 bis 220 Personen und angeregten Nachgesprächen im Kulturhof Hinter Musegg. Schon die erste Staffel 2021 spannte den Bogen vom Präsidenten einer nationalen Partei über zwei Schriftsteller, eine Ökonomin, einem Punk-Künstler, eine Amerikanistin, einem Multimediakünstler bis zu einer Musikerin, die sich als Diversitätsaktivistin versteht.
3. Dialog mit Agnostiker:innen
Die Mitglieder des Kuratoriums berichten jeweils, wie überrascht und auch manchmal irritiert die angefragten Redner:innen darauf reagieren, dass sie für eine Predigt angefragt werden. Fast jedes Mal ergibt sich daraus aber eine produktive Auseinandersetzung mit formalen und/oder inhaltlichen Aspekten des Formats Predigt – des öfteren auch biografisch geprägt. So ergibt sich eine Perspektive, die eigentlich bei allen Reden (und Predigten) angesprochen werden sollte: Warum stehe ich hier? Mit welcher Legitimation äussere ich einen Anspruch an meine Zuhörer:innen? Welche existenzielle Bedeutung hat das Gesagte für mich? Wie handhabe ich die Balance zwischen meinen Überzeugungen und meinen Zweifeln?
Warum stehe ich hier?
Die Prediger:innen sind also herausgefordert, ihre Rolle im Kommunikationsgeschehen «Rede» zu reflektieren und ihrer Intervention die Freiheit und Würde der Hörenden zugrunde zu legen. Damit verbietet sich jede unumstössliche Gewissheit, sei sie nun religiös oder weltanschaulich begründet. Die Grenzen des eigenen Erkennens und Verstehens stellen keinen lästigen Ballast dar, der argumentierend oder indoktrinierend abgeworfen werden könnte. Vielmehr gehören sie zum Spiel der Gedanken und Gefühle, das eine ehrliche Verbindung zum Publikum schafft und Weiterentwicklungen von persönlichen und gesellschaftlichen Haltungen und Handlungsweisen erst ermöglicht.
Vorbild für kirchliche Prediger:innen
Die reflexive Haltung nichtkirchlicher Prediger:innen kann zum Vorbild für kirchliche Prediger:innen werden und sie ermutigen, sich neben den «Gläubigen» und «Religiösen» dem grossen agnostischen Teil der Bevölkerung authentisch zu stellen. Dazu gehört auch die Suche nach neuen Orten und Gelegenheiten, wo christliche Predigt (wohl meist ohne diese Bezeichnung) vorurteilsfrei auf interessierte Zuhörende treffen könnte: Demonstrationen, kulturelle Veranstaltungen, Vereinsversammlungen …
4. Spielerisch mit Tradition und Heutigem umgehen
Die Grafikerin Nicole Brugger hat mir ihren modernen «Heiligenbildern» eine kongeniale bildnerische Ausdrucksweise für die Predigt-Werbung geschaffen. Diese Bildwelt steht exemplarisch für das spielerische Potenzial, das in der kreativen Transformation von Traditionen steckt. Die Sakristei wird einfach zum «Backstage» samt Kaffeestübchen für die Auftretenden, und sogar die Gesuche des Fundraisings (verfasst vom Schriftsteller Béla Rothenbühler) atmen den Geist kirchlicher Sprache mit Überschriften wie «Zwischengesang», «Kurie», «Kollekte», «Kanzel», «Gemeinde»… Auch das Glockenläuten vor dem Beginn gehört zum «Setting». Es tut «Der Predigt» gut, dass sie bei aller Ernsthaftigkeit auch mit einem Augenzwinkern begleitet wird.
ein Experimentier- und Lernfeld für zukünftige Formen
So ist «Die Predigt» ein Experimentier- und Lernfeld für zukünftige Formen von anregenden, dialogoffenen und überzeugenden Reden, die existenziell und gesellschaftlich virulente Themen öffentlich ansprechen – und damit das «prae-dicare», das engagierte Verkünden zeitgemäss einlösen.
Alle Predigten wurden in Kooperation mit dem Luzerner Radiosender «3fach» aufgenommen und sind auf der Website www.diepredigt.ch abrufbar.
Florian Flohr, Theologe und Marketingfachmann, leitete von der Wiedereröffnung als Citykirche (2018) bis zu seiner Pensionierung 2022 das Team der Peterskapelle in Luzern.
Beitragsbild: Grafik © Nicole Brugger