Wer Frieden will, muss die Wahrheitsfrage herschenken. So realistisch und erfahrungsgesättigt lässt sich die Erkenntnis frühneuzeitlicher Auseinandersetzungen um die Wahrheit und den Frieden seit dem Beginn des reformatorischen Geschehens zusammenfassen – und eben dieser Erkenntnis ist zudem eine zeitlose Dimension zuzuschreiben. Von Sr. Nicole Grochowina.
Warum aber? Dass im wegweisenden, weil friedensstiftenden und -erhaltenen Vertragswerk des Westfälischen Friedens von Münster und Osnabrück (1648) ein „christlicher allgemeiner und immerwährender Friede (pax sit christiana, universalis, perpetua)“ (Osnabrück, Art. I) sowie eine „wahre und aufrichtige Freundschaft“ (Art. I) ausgerufen werden konnten, die mehr war als der übliche Vertrags-Jargon, ist auch und gerade diesem Herschenken eines konfessionellen Wahrheitsanspruches und der dann möglichen Verrechtlichung der Konfessionsfrage zu verdanken. Frieden und Wahrheit gingen also nicht zusammen. Heißt: Ausgerechnet die Konfessionen sind als „Ursach und Anlaß“ (Art. V) eines Krieges erkannt und gebrandmarkt worden, der schon im 17. Jahrhundert als „langwieriger vnd hefftiger Krieg“ in die Annalen eingegangen ist. Eine derartige „Vnruhe“ war fortan zu vermeiden, solche „jnnerliche Kriege“ (Osnabrück, Präambel) mit Kriegszügen, Einquartierungen und mit der Vernichtung von Land, Ackerfläche und Menschen sollten sich auf keinen Fall wiederholen.
Frieden und Wahrheit gingen nicht zusammen
Konsequent und detailliert wurden deshalb die konfessionellen Verhältnisse im Heiligen römischen Reich deutscher Nation neu geregelt und gleichzeitig verrechtlicht. Am Ende zielte diese Verrechtlichung von 1648 darauf, Frieden „aufrichtig und ernstlich“ zu halten, so dass „jeder Teil Nutzen, Ehre und Vorteil des anderen fördere“ und am Ende „geruhliche sichere Frieds- vnd Freundschaffts-Bezeigungen“ (Art. I) blühen mögen. Mit anderen Worten: Das Recht und die Rechtstreue sollten nun die konfessionell aufgeladene Wahrheit ersetzen – und dies nicht nur im 17. Jahrhundert, sondern auch in allen nachfolgenden Zeiten. Diesem lag die Einsicht zugrunde, dass um die Wahrheit nur zu streiten ist. Niemals jedoch würde sich hier eine Lösung finden. Und das wiederum heißt geradezu zeitlos: Sich um die Wahrheit zu streiten, führt zu keiner Lösung und sichert deshalb auch keinen Frieden.
Rechtstreue und Amnestie
Um aber im 17. Jahrhundert Rechtstreue zu gewährleisten und allen neu aufflammenden Streitigkeiten das Wasser abzugraben, hält der Vertrag von 1648 fest, dass „vorgangene Injurien, Gewaltthaten / Feindseligkeiten / Schaden“ schlicht und einfach „mit ewiger Vergessenheit begraben seyn“ (Art. II) sollten. Will heißen: Wer um des Friedens willen neu anfangen muss und will, braucht neben der starken Verrechtlichung des Neuen ebenso eine innere und äußere Amnestie, um das Alte in der Vergangenheit zurück lassen zu können. Das ist ein hoher Anspruch, der bis in die Gegenwart der Logik von Schlag und Gegenschlag widerspricht. Und doch scheint eben dies unabdingbar zu sein, um Frieden zu schaffen und zu erhalten. Auch heute.
Der Blick auf das Ringen um die Wahrheit in den vorausgegangenen Jahrzehnten gibt den Verfassern des Westfälischen Friedens recht: Die Wahrheitsfrage ist seit 1529 in zahlreichen Religionsgesprächen immer wieder aufs Tableau gekommen. Marburg, Augsburg, Leipzig, Hagenau, Regensburg und Worms waren Orte, an denen intensiv um die Wahrheit gerungen wurde. Bisweilen scheiterten diese Gespräche an Verfahrensfragen. Bisweilen war aber auch unklar, auf welcher Grundlage die Debatte eigentlich zu führen war – und hinzu kamen menschliche Unzulänglichkeiten in Kommunikation und Streitkompetenz.
Religionsgespräche
Flankiert wurden die Religionsgespräche durch mehrere „Anstände“ und damit durch den Willen, über die Klärung der Wahrheitsfrage den Frieden im „Alten Reich“ nicht aus den Augen zu verlieren, sondern zu schützen. Auf diesen Willen verweisen der Nürnberger Anstand (1529) sowie der Frankfurter Anstand (1539). Dass Hinhalten und Waffenstillstände dauerhaft nicht zum Frieden führen, hat der Schmalkaldische Krieg (1546/7) gezeigt, in dem sich die Konfessionsparteien schließlich gegenüberstanden und der in das Augsburger „Interims“ (1548) und nicht in der Befriedung des „Alten Reiches“ mündete.
Wahrheit und Frieden – sie sind offenbar streitende Geschwister. Es braucht also immer ein drittes Element, um den Frieden zu sichern. Im 16. und 17. Jahrhundert war dieses Element das Recht. Und deshalb: Der Landfrieden von Augsburg (1555), der als „Religionsfrieden“ in die Geschichte eingegangen ist, zielt auf die Verrechtlichung und erkennt deshalb die „Augsburger Confession“ in dem Sinne an, dass deren „Lehr, Leben und Glauben“ nicht „beschädigt“ oder „vergewaltigt“ (Augsburg, §15) werden sollten. Damit einher ging die auch für spätere Zeiten und letztlich bis in die Gegenwart wegweisende Erkenntnis, dass im Streit um die „Hauptarticul und Sachen Unsers Heiligen Christlichen Glaubens, Ceremonien und Kirchen-Gebräuchen die endliche Vergleichung dieses trefflichen Articuls in weniger Zeit nicht wol zu finden“ (§9) sei. Will heißen:
Das Recht als drittes Element
Es brauchte jetzt die Verrechtlichung und nicht die Auseinandersetzung mit der Wahrheitsfrage, um den Frieden zu schaffen und zu sichern. Im „Passauer Vertrag“ (1552) indes wurde noch die Hoffnung geäußert, dass der „Zwyspalt der Religion“ (Passau, §6) und damit die Wahrheitsfrage durch einen Vergleich auf einem zeitnah einzuberufenden Reichstag erfolgen könnte. Bis dahin allerdings sollten alle kriegerischen Aktionen eingestellt und die Konfessionsgrenzen gewahrt werden (§9). Insofern stellt der Landfrieden von Augsburg eine Zuspitzung da, die sicherlich auch der Einsicht geschuldet war, dass gut sechs Monate nach dem „Passauer Vertrag“ eben kein Reichstag – wie gefordert – die Wahrheitsfrage geklärt hatte.
Das Vertragswerk von 1648 hat diese Einschätzung von 1555 bestätigt. Hier nun findet sich der endgültige Abgesang auf die Hoffnung, die Wahrheitsfrage final zu lösen und auf diese Weise Frieden zu wahren. Stattdessen werden die Verrechtlichung des Friedens mit seinen Gebietsregelungen, die konfessionellen Grenzen und die Festlegung des Normaljahres 1624 und damit die Klärung des konfessionellen Status der einzelnen Territorien zum „ewigen Gesetz“ erhoben, das „künfftig so wol als andere Gesetze/ vnd Constitutiones fundamentales deß Reichs verbindtlich seyn“ (Osnabrück, Art. XVII, 2) und deshalb in den nächsten Reichsabschied und in die kaiserliche Wahlkapitulation – und damit in rechtlich verbindliche Beschlüsse – eingefasst werden sollte. Damit sollte der Frieden „allgemein“ und „immerwährend“ werden. Dies gelang, denn nach 1648 hat sich die nunmehr zweitlängste Friedenszeit entfaltet, die an Dauer nur hinter dem Frieden nach 1945 zurücksteht.
Deutlich wird also, dass das Recht in der Frühen Neuzeit die Wahrheitsfrage abgelöst hat, um Frieden zu sichern. Mit dem Recht ist also neben den zwei großen Konfessionen eine dritte Größe hinzugetreten, die sich als Grundlage für ein gemeinsames, friedvolles Leben angeboten hat. Damit allerdings war keine Lösung auf Dauer gefunden, wie das Ende der Friedenszeit nach 1648 zeigt, als besagtes Recht zugunsten der kriegerischen Auseinandersetzung aufgekündigt worden ist.
Recht braucht Anerkennung
Im erneuten Aufflammen des Krieges steckt somit eine weitere Erkenntnis für die Gegenwart: Auch das Recht kann seine friedensstiftende Kraft nur in dem Maße entfalten, wie es als verbindliche Grundlage von Miteinander anerkannt wird. Fällt diese Anerkennung weg, weil Recht aufgekündigt, korrumpiert wird oder nur nach Bedarf zur Anwendung kommt, herrschen Willkür und letztlich das freie Spiel der Mächte. Zudem braucht es dann eine neue, verbindende und verbindliche Größe, die den Frieden schafft und sichert. Doch während dieser Suche entsteht ein Vakuum – und dieses Vakuum ist gefährlich, denn nicht zuletzt der Blick in die gegenwärtige Welt zeigt, dass dann neben dem Recht des Stärkeren kaum andere Optionen bleiben.
Ein gefährliches Vakuum
Zudem gilt: Die Verrechtlichung sorgt nicht dafür, dass die Wahrheitsfrage insgesamt obsolet wird. Im 17. Jahrhundert wurde diese Frage out-gesourced. Sie sollte durch ein Konzil geklärt werden. Dabei hält der Friedensschluss von Osnabrück sehr realistisch fest, dass dies nur durch die „Gnade Gottes“ gelingen könne, „zu was Zeit es [auch immer] geschehen möge“ (Art. V., §1). Dass sich die christlichen Kirchen gänzlich „in Religionsfragen verglichen“ (Art. V, §1) und somit sich und der Welt bezeugen, dass dies gelingen und für Frieden sorgen kann, steht bis in die Gegenwart noch aus.
Und auch heute wird der Kampf um die Wahrheit an vielen Orten der Welt weiterhin – und dies sogar erbittert – geführt. So bleibt das Verhältnis von Frieden und Wahrheit auch weiterhin kompliziert; immer noch braucht es eine dritte Größe, die den Frieden – zumindest auf Zeit – sichert. Was aber ist heute diese dritte Größe?
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