Am Beispiel der Psalmen veranschaulicht Sigrid Eder, dass die Bibel Gott eine Vielzahl von Emotionen zuschreibt. Dabei entschlüsselt sie die Rede vom «Zorn Gottes» als Aspekt der göttlichen Gerechtigkeit.
„Ich fühle, also bin ich“. Diese These des Neurowissenschaftlers Antonio R. Damasio macht auf eine zentrale Dimension des Menschseins aufmerksam, die lange Zeit wenig berücksichtigt wurde: Wir Menschen sind Wesen, die leben, lieben und leiden, weil wir empfinden und fühlen. Wir sind Wesen, die in Beziehungen Emotionen leben und erleben. Biblische Texte erzählen vom Beziehungsgeschehen zwischen Gott und den Menschen und beschreiben darin eine Vielzahl von Emotionen.
Von Ekel, Verachtung und Eifersucht über Mitleid bis hin zu Barmherzigkeit und Freude
Dabei stellt die Bibel nicht nur Menschen als emotionale Wesen dar – auch Gott wird eine Vielzahl von Emotionen zugeschrieben. Diese Emotionen reichen von Ekel, Verachtung und Eifersucht über Mitleid bis hin zu Barmherzigkeit und Freude. Dass biblische Texte auch Zorn und Wut ihrem Gott zuschreiben, mag heutige Lesende verwundern.
Das Alte Testament – der erste Teil der christlichen Bibel – ist im Kontext des Alten Orients entstanden. In diesem Umfeld ist es keineswegs ungewöhnlich, dass Emotionen von Gottheiten geschildert werden. Dieser Beitrag geht der Rede vom Zorn Gottes im alttestamentlichen Buch der Psalmen nach. Auf eine Begriffsklärung und einen Überblick über die Emotionen Gottes folgen – ausgehend von ausgewählten Textstellen – theologische Verstehenshilfen für die biblische Rede vom göttlichen Zorn.
Was ist eine Emotion?
Eine einheitliche Definition von „Emotion“ gibt es nicht. [1] Gemeinsam ist den meisten Ansätzen innerhalb der Emotionsforschung jedoch, dass sich eine Emotion aus mehreren Komponenten zusammensetzt: dem subjektiven Gefühl (engl. feeling); dessen Ausdruck, also den physiologischen Veränderungen und körperlichen Reaktionen wie Herzrasen, Zittern oder Erröten; dem spontanen Handlungsimpuls wie Weglaufen aus Angst; und der kognitiven Bewertungskomponente. [2] Diese Komponenten der Emotion zeigen auch, dass Emotion nicht ohne Kognition auskommt und damit Denken und Fühlen weitestgehend zusammengehören. [3]
Emotionen und die Rede von Gott
Wenn im Alten Testament von Gottes Emotionen gesprochen wird, so ist dies als Anthropomorphismus bzw. Anthropopathismus einzuordnen. „Anthropopathismus“ heißt, dass dem Nichtmenschlichen Gefühle, Leidenschaften, Emotionen und Affekte beigelegt werden, die sonst nur Menschen eigen sind. Menschliche Körperteile und Emotionen werden also aus der menschlichen Vorstellungswelt auf Gott übertragen. Vor allem das Buch der Psalmen, aber auch die prophetischen Bücher Jesaja und Jeremia sowie das Deuteronomium sind reiche Quellen im Hinblick auf das Gefühlsspektrum Gottes. Bei der Untersuchung gelten als explizite Emotionswörter beispielsweise Gefühlssubstantive wie Freude, Zorn oder Traurigkeit, Gefühlsadjektive wie barmherzig oder langmütig oder Gefühlsverben wie verachten oder sich freuen.
Es gibt Emotionen, die nur dem Menschen zugeschrieben
und nicht von Gott ausgesagt werden.
Es zeigt sich bei der Analyse der expliziten Emotionswörter in den genannten Büchern, die mit der Gottheit in Verbindung stehen, dass mit JHWH, dem Gott Israels, als Subjekt folgende emotionale Empfindungen und Zustände ausgesagt werden:[4] Interesse/Anteilnahme/Wohlwollen; Ablehnung/Widerwillen; Freude; Zorn; Verachtung; Ekel/Abscheu; Mitleid; Reue; Begehren; Hoffnung; Liebe; Hass; Eifersucht sowie Wohlgefallen. All diese Emotionen werden in den biblischen Texten auch Menschen zugesprochen. Es gibt aber auch Emotionen, die nur dem Menschen zugeschrieben werden und die nicht von Gott ausgesagt werden. Dies sind beispielsweise Leid, Scham, Furcht, Schuld sowie Neid. Erklären lässt sich die Nicht-Zuschreibung so, dass Gott diese Emotionen nicht haben darf: „Ein leidender, ängstlicher oder schuldiger Gott ist nicht denkbar.“ [5] Sonst würde Gott seiner Rolle als Garant einer stabilen Weltordnung, als Kämpfer gegen Naturgewalten und als gerechter Richter nicht nachkommen können.
Emotionen als Beziehungsgeschehen
Werden nun der Gottheit in biblischen Texten Emotionen zugeschrieben, dann handelt es sich nicht einfach um „primitive Vermenschlichungen Gottes“. Vielmehr sind dies „funktionsgebundene Aussagen […], die ein Ergebnis theologischer Reflexion“ über das Wesen, den Willen und das Handeln Gottes darstellen. [6] Emotionen gehören zu der Art und Weise, in der Gott in der Welt und mit den Menschen agiert. „Theologisch gesprochen sind Gefühle und Emotionen Gottes daher ein Teil seiner Personalität, durch welche er sich zur Welt in Beziehung setzt.“ [7] Gottes Beziehung zur Welt und den Menschen manifestiert sich also auch in Emotionen. Sie sind daher weder als Eigenschaften Gottes noch als göttliche Haltungen zu betrachten, sondern als dynamisches Kommunikations- und Beziehungsgeschehen. Wenn sich Gott der Welt zuwendet, dann sowohl mit Barmherzigkeit und Güte als auch mit Zorn. Im altorientalischen Kontext ist die Schilderung von emotionalen Gottheiten keineswegs ungewöhnlich. So ist etwa im benachbarten Moab der Dynastiegott Kemosch im 9. Jh. v. Chr. zornig über sein Volk und gibt es infolgedessen in die Hand Israels. [8]
Psalm 90 und der Zorn
Die Rede vom Zorn Gottes verweist in biblischen Texten grundsätzlich auf zweierlei: auf die Leidenschaft Gottes und auf die Dimension der Vernichtung. Das wird zum Beispiel in Psalm 90 deutlich. In diesem Psalm lassen sich unterschiedliche Begrifflichkeiten für das Wortfeld „Zorn“ finden. Der Text bietet außerdem Deutungsversuche der Rede vom Zorn Gottes. In den Versen 7–9 heißt es: „Ja, wir sind vergangen durch deinen Zorn, und durch deine Wut wurden wir verstört. Du hast hingestellt unsere Schuld vor dich, unser Verborgenes ins Licht deines Angesichts. Ja, alle unsere Tage sind vergangen durch deinen überwallenden Zorn. Wir haben unsere Jahre beendet wie einen Seufzer.“ [9]
Dem betenden Wir droht der Untergang, und deshalb klagt es
Hinter der Zorneserfahrung steht eine Situation des Leids und des Unheils: Das Leben wird bzw. wurde unter dem Zorn Gottes als unerträglich erlebt (Vers 7). Dem betenden Wir droht der Untergang, und deshalb klagt es. Die Rede vom Zorn Gottes wird im Zusammenhang mit Schuld gesehen (Vers 8). Zorn ist daher weder eine Eigenschaft noch eine Haltung JHWHs, sondern eine Handlung oder Tat. [10] Die Zornestat ist durch die Schuld des Volkes motiviert. Schuld ist allerdings eher ein Randthema dieses Psalms. Steht möglicherweise hinter der Erfahrung des Zornes Gottes in diesem Psalm eher generell die Angst angesichts des unausweichlichen Todes oder die Erfahrung der Mühsal und Sinnlosigkeit des Lebens?
(Gottes) Zorn als Deutung einer Krisenerfahrung
Oder lässt sich noch genauer eingrenzen, welche menschlichen Erfahrungen dem göttlichen Zornesausbruch zugeordnet werden können?
Auf alle Fälle wird die in Vers 7 geschilderte Krise als Auswirkung des Zornes interpretiert. [11] In Ps 90 gilt der Mensch sowohl als Empfänger als auch als Auslöser des Zornes Gottes. Mit der rhetorischen Doppelfrage in Vers 11 wird die Wende im Duktus des Psalms herbeigeführt: „Wer erkennend die Kraft deines Zorns und gemäß der Furcht vor dir deinen überwallenden Zorn?“ Der Vers weist darauf hin, dass Gott unverfügbar ist und kein Mensch die Macht des göttlichen Zornes erfassen kann. Der Vers verweist damit auf die Unbegreiflichkeit Gottes. Die Deutung der Rede vom Zorn Gottes in Ps 90 führt uns zur Studie von Stefan Wälchli über Gottes Zorn in den Psalmen. Wälchli arbeitet drei Grundtypen des göttlichen Zorns heraus: [12]
Gottes Zorn in den Psalmen
Zum einen werden das Leiden und die Unheilssituation des Einzelnen wie auch des Volkes auf den Zorn Gottes zurückgeführt, als dessen Ursache wiederum menschliche Verfehlung oder Schuld erkannt werden. Das trifft in der großen Mehrheit der Fälle zu.
Zum zweiten ist der Grund für die Zorneshandlung Gottes manchmal auch unbekannt (z.B. Ps 6; 74; 88).
Und zum dritten wird Gottes Zorn zur Rettung vor Feinden heraufgerufen.
So heißt es beispielsweise in Ps 69,19.25.30: „Nahe dich meiner Seele, erlöse sie; wegen meiner Feinde befreie mich! Schütte über sie aus meine Verwünschung, und deines Zornes Glut soll sie erreichen! Ich aber bin elend, und mir ist wehe; deine Rettung, Gott, schütze mich!“ [13] In Ps 7,7 steht: „JHWH, steh auf in deinem Zorn, erheb dich gegen die Wut meiner Bedränger! Wach auf zu mir hin! Du hast zum Gericht gerufen.“ [14] Hier trifft die vernichtende Dimension der Zorneshandlung Gottes die Feinde und deren Wut. Das betende Ich oder Wir wird gerettet oder geheilt, und der Zorn Gottes wird zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit herbeigewünscht.
Verstehenshilfen für Aussagen über den Zorn Gottes im Alten Testament
Zusammenfassend lässt sich das Ergebnis in sechs Punkten festhalten:[15]
1. Der Zorn Gottes ist im Alten Orient ein Aspekt der göttlichen Gerechtigkeit – es geht darum, die gute Schöpfungsordnung zu verteidigen und/oder wiederherzustellen.
2. Die Rede vom Zorn Gottes beschreibt in den biblischen Texten weder eine Wesenseigenschaft noch eine Haltung Gottes, sondern eine Tat JHWHs. Diese ist meist eine Reaktion auf die Schuld oder das Fehlverhalten des Volkes. Damit schwingt hier auch ein politischer Aspekt mit.
3. Entsprechend ist Gottes Zorn nicht „irrational“, sondern innerhalb des biblischen Denkrahmens eine gerechtfertigte Reaktion auf das Vorhandensein von Unrecht.
4. Was müssen Menschen erlebt haben, dass sie ihren Gott als zornig und wutentbrannt darstellen? Welche Erfahrungen stehen hinter dieser Rede von Gott? Der Zorn Gottes kann als Deutungshilfe im Rückblick verstanden werden. So werden etwa die erfahrenen politischen Katastrophen des Untergangs der beiden Staaten Israel und Juda (8. bzw. 6. Jh. v. Chr.) als Folge des Zornes Gottes interpretiert. Der Zorn Gottes gilt damit als Interpretationsmittel im Rückblick z.B. für die Katastrophe des babylonischen Exils.
5. Manchmal steht der Zorn Gottes auch für Unerklärliches: Wenn betende Personen in den Psalmen ihr Leid nicht erklären können, wird auf die Rede vom Zorn Gottes zurückgegriffen.
6. Nicht zuletzt sagt die Rede vom Zorn Gottes auch etwas aus über den ungerechten Zustand der Welt – damals wie heute. Sie rechnet mit Gott und spiegelt die Hoffnung wider, dass Gott in die Geschichte eingreift und dem unheilvollen Zustand verändernd entgegentritt.
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Sigrid Eder ist seit 2022 Professorin für Altes Testament an der Universität Fribourg / Schweiz. Neu erschienen ist der Sammelband «Ist die Bibel frauenfeindlich? Biblische Frauenbilder und was wirklich dahinter steckt» im Verlag Katholisches Bibelwerk (Stuttgart 2025), den sie zusammen mit Prof. Agnethe Siquans herausgegeben hat (Bild: Stéphane Schmutz)
[1]In der Emotionsforschung versucht fast jede Disziplin, ein Modell für Emotionen zu schaffen, welches sie der eigenen Forschungspraxis näherbringt und nachvollziehbar macht. Vgl. Scheer, Monique: Emotion als kulturelle Praxis, in: Kappelhof, Hermann u.a. (Hg.): Emotionen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Berlin 2019, 352–362, 352.
[2]Zu den genannten Komponenten vgl. Bender, Andrea: Heiliger Zorn im „Paradies“? Emotionen im Kulturvergleich, in: Wagner, Andreas (Hg.): Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche und interdisziplinäre Zugänge zur historischen Anthropologie (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten Testaments 232), Göttingen 2009, 297–318, 300; Greule, Albrecht: Empor die Herzen! Emotionen in der deutschen Sakralsprache, in: Wagner, Andreas (Hg.): Anthropologische Aufbrüche (s. zuvor in dieser Anmerkung) 2009, 319–328, 321; Levinson, Jerrold: Emotion in Response to Art. A Survey of the Terrain, in: Hjort, Mette/Laver, Sue (Hg.): Emotion and the Arts, New York/Oxford 1997, 21.
[3]Vgl. Winko, Simone: Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900 (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften 7), Berlin 2003, 71. Ebenso Carroll, Noël: Art, Narrative, and Emotion, in: Hjort, Mette/Laver, Sue (Hg.): Emotion and the Arts, New York/Oxford 1997, 190–211, 196–197.
[4]Vgl. Köhlmoos, Melanie: „Denn ich, JHWH, bin ein eifersüchtiger Gott“. Gottes Gefühle im Alten Testament, in: Wagner, Andreas (Hg.): Göttliche Körper – Göttliche Gefühle. Was leisten anthropomorphe und antropopathische Götterkonzepte im Alten Orient und im Alten Testament (Orbis biblicus et orientalis 270), Fribourg/Göttingen 2014, 191–217, 195–196.
[5]Köhlmoos, Melanie: „Denn ich, JHWH, bin ein eifersüchtiger Gott“ (s. Anmerkung 4), 215.
[6]Beides: Köhlmoos, Melanie: „Denn ich, JHWH, bin ein eifersüchtiger Gott“ (s. Anmerkung 4), 191.
[7]Köhlmoos, Melanie: „Denn ich, JHWH, bin ein eifersüchtiger Gott“ (s. Anmerkung 4), 204–205.
[8]Vgl. Gaß, Erasmus: Die Moabiter. Geschichte und Kultur eines ostjordanischen Volkes im 1. Jahrtausend v. Chr. (Abhandlungen des Deutschen Palästina-Vereins 38), Wiesbaden 2009, 8 und 18.
[9]Übersetzung von Sigrid Eder. Zur Analyse der Zornesbegrifflichkeit in Psalm 90 vgl. Eder, Sigrid: Identifikationspotenziale in den Psalmen. Emotionen, Metaphern und Textdynamik in den Psalmen 30, 64, 90 und 147 (Bonner biblische Beiträge 183), Göttingen (2. Auflage) 2019, 271–280.
[10]Vgl. Schnocks, Johannes: Vergänglichkeit und Gottesherrschaft. Studien zu Psalm 90 und dem vierten Psalmenbuch (Bonner biblische Beiträge 140), Berlin 2002, 145.
[11]Vgl. Forster, Christine: Begrenztes Leben als Herausforderung. Das Vergänglichkeitsmotiv in weisheitlichen Psalmen, Zürich 2000, 154.
[12]Wälchli, Stefan H.: Gottes Zorn in den Psalmen. Eine Studie zur Rede vom Zorn Gottes in den Psalmen im Kontext des Alten Testaments und des Alten Orients (Orbis biblicus et orientalis 244), Fribourg/Göttingen 2012, 96.
[13]In Anlehnung an die Elberfelder Bibel.
[14]In Anlehnung an die Einheitsübersetzung 2016.
[15]Vgl. Gaß, Erasmus: „Der in den Himmeln Thronende lacht über sie“ (Ps 2,4). Konkretionen göttlicher Emotionen im Alten Testament, Münchener theologische Zeitschrift 66 (2015) 194–207, 195–198 und 204–205, sowie Köhlmoos, Melanie: „Denn ich, JHWH, bin ein eifersüchtiger Gott“ (s. Anmerkung 4), 204f.
Beitragsbild: Wendy CORNIQUET auf Pixabay