Die kulturelle Vielfalt prägt die Schweiz und noch stärker die katholische Kirche hierzulande. Eva Baumann-Neuhaus beschreibt und analysiert die Situation und stellt fest: «Was zur DNA der römisch-katholischen Kirche gehört, wird in der Praxis laufend ausgehandelt»[1]
Kulturelle Vielfalt – eine statistische und soziale Tatsache
Es liegt in der Natur einer weltumspannenden Kirche, dass sie kulturell divers ist. Globalisierung und Migration haben diese Diversität jedoch in die Nachbarschaft und in die Ortskirche gebracht. Begriffe wie «postmigrantische Kirche» versuchen diese Realität zu beschreiben und gleichzeitig den damit verbundenen Herausforderung im kirchlichen Alltag eine Richtung zu geben. Zahlen und Fakten führen nicht automatisch zu spezifischen Handlungen oder einem bestimmten Verhalten. Was im sozialen Raum also im Umgang der Menschen miteinander normal ist, was gelten soll, wird durch die Akteur:innen selbst definiert und konstruiert. Und es verändert sich im Laufe der Zeit. Das zeigt auch der Blick in die Geschichte der katholischen Kirche in der Schweiz. Ihr Umgang mit der eigenen kulturellen Diversität verrät nicht nur Parallelen zur staatlichen Migrationspolitik, sondern auch Bemühungen, die kirchliche Realität an den eigenen Werten und Idealen auszurichten.
Kulturelle Vielfalt – eine (kirchen)politische Herausforderung
Es ist der Schweizer Migrationsgeschichte geschuldet, dass heute mehr als ein Drittel der Zugewanderten zur katholischen Kirche gehört. 2024 hatten 40% der katholischen Wohnbevölkerung einen Migrationshintergrund und 25% verfügten über keinen Schweizer Pass – Verhältnisse, die der Gesamtbevölkerung entsprechen.[2] Mit der Pluralisierung der Migration ist die katholische Kirche sprachlich und kulturell zunehmend diverser geworden, was sich auch in der wachsenden Zahl der Migrationsgemeinschaften widerspiegelt.
Missionen sollten den Zugewanderten eine soziale und religiöse Heimat bieten
Während sich der Schweizer Staat lange nicht um das Thema «Religion» als Faktor der Migration kümmerte, nahm sich die katholische Kirche schon sehr früh der Arbeitsmigranten aus dem europäischen Süden an und gründete sogenannte «Missionen», d.h. auf Sprache und Nationalitäten ausgerichtete katholische Migrationsgemeinschaften. Diese sollten den Zugewanderten eine soziale und religiöse Heimat bieten. Das Modell war jedoch eine auf Zeit gedachte Gemeinschaftsform, die sich am Rotationsprinzip der Schweizer Migrationspolitik orientierte und nicht von einer dauerhaften Ansiedlung und Integration der Gastarbeiter ausging. Doch die Schweizer Wirtschaft blieb auf die Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen, und die Politik reagierte mit langfristigen oder dauerhaften Aufenthaltsbewilligungen und der Möglichkeit zum Familiennachzug.
Mit der Akzeptanz der Zuwanderung als strukturelles Phänomen der Gesellschaft rückte auch die Frage der Integration ins Blickfeld. Die Kirchenleitung reagierte auf die Veränderungen mit der Aufhebung der befristeten Anstellungen von ausländischen Priestern und die Missionen übernahmen neben religiösen Aufgaben immer mehr auch zivilgesellschaftlich relevante Dienstleistungen. Sie etablierten sie sich als dauerhafte Gebilde unter dem Dach der Institution, denn im Unterschied zu vielen Ortspfarreien kannten sie die Bedürfnisse der Zugewanderten genau und konnten kompetent darauf reagieren.[3] Diese Aufgabenteilung in der Pastoral war nicht nur das Ergebnis eines strategischen Pragmatismus, sondern auch getragen von der Überzeugung, dass sie für alle hilfreich und sinnvoll sei.
Eine Pastoral, die ihre migrantische Prägung noch nicht akzeptiert hat
Auf der Rückseite dieser Pastoral zeigte sich aber eine Defizitorientierung auf die Mängel und Probleme der Zugewanderten, die letztlich auch die Existenz von Migrationsgemeinschaften rechtfertigte. Zwar ist diese Orientierung nicht per se falsch, denn Migrationserfahrungen sind für viele Betroffene problematisch. Dennoch ist sie reduktiv, da sie Migrant:innen und Migrationsgemeinschaften in einer Übergangsphase sieht und zu Objekten einer Pastoral macht, die ihre migrantische Prägung noch nicht akzeptiert hat. Nicht zuletzt erzeugt sie strukturelle Asymmetrien und Ungleichheiten, die dem Selbstanspruch und Streben der Kirche nach Gleichheit, Einheit und Gemeinschaft entgegenstehen. [4]
Mehr Miteinander – eine multidimensionale Suche
Im Laufe der Zeit ist das Selbstbewusstsein vieler Migrationsgemeinschaften gewachsen. Sie verstehen sich nicht mehr als Dauerprovisorien, die ihr Dasein legitimieren müssen. Als Subjekte der Pastoral erheben sie Anspruch auf Anerkennung und gleichberechtige Teilhabe.[5] Das Prinzip der Partizipation nimmt Abstand vom Assimilationsgedanken und betont die Beteiligung, Mitwirkung, Mitbestimmung und Mitverantwortung aller. Parallel dazu sieht sich die Kirche in der Schweiz jedoch seit Jahrzehnten mit Entwicklungen konfrontiert, die an ihren Ressourcen zehren und das institutionalisierte Nebeneinander in den Fokus einer kritischen Debatte zurückgeholt hat.
Eine Gesamtperspektive, die Migrationspastoral nicht als Übergangspastoral betrachtet
Die Diskussion um eine Gesamtperspektive, die Migrationspastoral nicht als Übergangspastoral betrachtet und die Integration der Zugewanderten nicht mit Assimilation verwechselt, sondern als gleichberechtigte Teilhabe versteht, die aber gleichzeitig auch den veränderten finanziellen und personellen Rahmenbedingungen der Kirche gerecht wird, mündete 2021 in das von der Kirchenleitung lancierte Konzept «Auf dem Weg zu einer interkulturellen Pastoral». Es ist ein Plädoyer für mehr Miteinander und ein Programm, das weder geschichtsvergessen, noch utopisch wirkt.
Das Kind soll nicht mit dem Bad ausgeschüttet werden, dennoch geht das Dokument über die blosse Anerkennung von kultureller Diversität und gewachsenen Lösungen hinaus und fordert mehr Beteiligung, Gegenseitigkeit, Austausch und Interdependenz zwischen den Ortspfarreien und den Migrationsgemeinschaften. Wirtschaftliche, soziologische und theologische Überlegungen scheinen die Einsicht zu bestärken: Es braucht mehr «Miteinander». Warum?
Eine Gemeinschaft, die auf der Gleichheit und der Teilhabe aller im Glauben basiert
Die Aufrechterhaltung von Parallelstrukturen ist ressourcenintensiv und kann beispielsweise durch gemeinsame Nutzung von Räumlichkeiten und Personal, sowie durch gemeinsam durchgeführte Gottesdienste, Katechese usw. minimiert werden. Im Verständnis der Kirche als Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen und den Menschen untereinander, hat Ungleichheit, Ausgrenzung oder Abgrenzung keinen Platz, denn diese Gemeinschaft basiert auf der Gleichheit und der Teilhabe aller im Glauben.[6]
Doch die theologische Wirklichkeitssetzung findet ihren Sitz im Leben nicht ohne Abstriche, denn Menschen machen Kirche. Die soziale Wirklichkeit der Kirche als Ergebnis von in Interaktion und Kommunikation ausgehandelten Ordnungen und Setzungen, wird also von Menschen gemacht. Es liegt darum auch soziologisch gesehen auf der Hand, dass in einer kulturell diversen Gesellschaft und Kirche, der Begegnung und dem Austausch zwischen denen, die schon immer da waren und denen, die zugewandert sind, grosse Bedeutung zukommt, insbesondere wenn die Erfahrung von Migration in die Ordnung bzw. Wirklichkeit von Gesellschaft und Kirche eingehen soll.
In der Spannung zwischen Verbundenheit und Differenz
Die Suche nach einem Miteinander kann dabei nicht in die Uniformität führen, sondern muss in der Spannung zwischen Kollektivität und Singularität, Verbundenheit und Differenz ausgehandelt werden. Für die Kirche gilt darum: Begegnungen mit Menschen unterschiedlicher Sprache, Prägung und Herkunft zu wagen, Kooperationen zwischen den beteiligten Gruppen auszuhandeln, Differenzen auszuhalten, Konflikte auszutragen und gemeinsam Lösungen zu entwickeln. Dafür braucht es Erprobungsräume, wo gemeinsame Lernprozesse und gemeinsame Verantwortungsübernahme eingeübt und praktiziert werden können und wo im Hinblick auf ein grösseres gemeinsames Ganzes alte und neue Machtkonstellationen und Asymmetrien hinterfragt werden.[7]
Bild: Julie Matthey (SPI)
Und jetzt – wie weiter?
Die Frage, wie die katholische Kirche das Miteinander unter den Bedingungen kultureller Diversität vor Ort ausbuchstabiert, ohne dass die Eigenheiten und Potentiale der unterschiedlichen Gruppen einem essentialistisch verstandenen Einheitsgedanken geopfert werden und umgekehrt die Idee vom grossen Ganzen nicht einem wie auch immer gearteten «Club»-Denken anheimfällt, ist nicht einfach zu beantworten.
Strukturanpassungen reichen nicht aus
Die Einsicht, dass dieses Miteinander mit Sitz im Leben nicht top-down verordnet werden kann, ist wohl richtig und der Ratschlag, situativ sinnvolle Lösungen zu suchen, ist wohl nicht verkehrt. Doch dafür braucht es förderliche institutionelle (auch finanzielle) Rahmenbedingungen, damit Formen des Miteinanders entwickelt, ausgehandelt, erprobt und schliesslich auch verankert werden können. Strukturanpassungen reichen jedoch nicht aus. Für nachhaltige Veränderungen braucht es immer auch den Willen aller Beteiligten, liebgewordene Bilder und Narrative zu hinterfragen und zu revidieren, Routinen zu überprüfen und auch zu verlernen sowie auf strukturelle Privilegien zu verzichten, damit sich eine neue Kultur einspielen kann, in der weder die Systempflege noch das Partikularinteresse Einzelner im Mittelpunkt steht.
Wer sich bewegt, erfährt Reibung und Widerstand
Wo aber Ortpfarreien als Gastgeberinnen der Migrationsgemeinschaften die Bedingungen des Miteinander festlegen, wo sich vitale, junge Migrationsgemeinschaften über die Ortspfarreien überheben oder wenn Gemeinschaften am liebsten monokulturell und monosprachlich unterwegs sind, verhindern sie jegliche Innovation und Transformation. Wer sich nicht bewegt, erstarrt – wer sich aber bewegt, erfährt Reibung und Widerstand. Letzteres scheint eher zu einer Kirche zu passen, die sich als «wanderndes Gottesvolk» (Augustin) sieht bzw. die das Prinzip des «semper rerformanda» und als Teil der Welt versteht.
Wie die Suche nach einem vermehrten Miteinander in der Praxis der katholischen Kirche gestaltet und gelebt wird, untersucht das Schweizerische Pastoralsoziologische Institut in St. Gallen derzeit im Rahmen eines vierjährigen Forschungsprojekts in der Romandie und der Deutschschweiz, unterstützt vom Schweizerischen Nationalfonds.[8]
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Dr. Eva Baumann-Neuhaus, Religionswissenschaftlerin und Ethnologin, ist wissenschaftliche Projektleiterin am Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut in St. Gallen. Sie forscht, publiziert und lehrt zu religiösem Wandel, Religion und Biografie, Religion und Migration, Religion und Tradierung, interkulturellen religiösen Gemeinschaften.
Beitragsbild: Unsplash.
[1]Der vorliegende Artikel basiert auf dem Aufsatz der Autorin mit dem Titel «Cultural Diversity as a Fact and Field of Organized Religion. Swiss Catholic Church Policy and Practice between Coexistence and Togetherness”, den sie im Rahmen einer Tagung zum Thema «Hermeneutics of Conviviality. Interdisciplinary Approaches» präsentiert hat. Der dazu publizierte Tagungsband «Conviviality in Contexts of Religious Plurality. Interdisciplinary Exploration” (herausgegeben von Bieler, Andrea, Hoffmann, Claudia, Ketges Lisa) umfasst zahlreiche Beiträge aus Theologie, Soziologie, Religionswissenschaft, Kulturwissenschaft, Politikwissenschaft, Sprachwissenschaft und Bildungswissenschaft und zeichnet ein vielperspektivisches und vieldimensionales Bild zum Thema des Miteinanders unter der Bedingung kultureller Diversität.
[2]Bundesamt für Migration, 2023, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/migration-integration/nach-migrationsstatuts.html
[3]Foppa, Simon (2019): Kirche und Gemeinschaft in Migration. Soziale Unterstützung in christlichen Migrationsgemeinden, St. Gallen.
[4]Kessler, Tobias (2018): Frage des Miteinanders von zugewanderten und einheimischen Katholiken in Deutschland, in: Krämer, Klaus, Vellguth, Klaus (Hrsg.): Migration und Flucht. Zwischen Heimatlosigkeit und Gastfreundschaft, Freiburg i.Br., 81-96.
[5]Bünker, Arnd (2021): Anerkennung und Partizipation. Herausforderungen einer postmigrantischen Kirche, in: Kessler, Tobias (Hg.): Lebenslänglich! Das Ringen von Migrierten und Geflüchteten um gleichberechtigte Partizipation in Gesellschaft und Kirche, Regensburg, 185-213.
[6]Schweizer Bischofskonferenz und Römisch-katholische Zentralkonferenz (2021): Auf dem Weg zu einer interkulturellen Pastoral. Gesamtkonzept für die Migrationspastoral in der Schweiz, Fribourg. Vgl. Dazu: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (2024): Auf dem Weg zu einer interkulturellen Communio. Leitlinien für die Seelsorge in anderen Sprachen und Riten, Bonn.
[7]Bieler, Andrea (2025): Conviviality: With-ness in Midst of Asymmetrie and Messiness, in: Bieler, Andrea, Hoffmann, Claudia, Ketges, Lisa (eds.): Conviviality in Contexts of Religious Plurality, Bielefeld, 23-46.
[8]https://spi-sg.ch/der-kulturellen-vielfalt-auf-der-spur-feldforschung-in-katholischen-gemeinschaften-in-der-schweiz/.