Mathias Winkler (Regensburg) reagiert auf den Beitrag von Thomas Söding.
Die Wahrnehmung Thomas Södings, dass die Bibel gerade von vielen Seiten für viele verschiedene Positionen und in vielen verschiedenen Diskursen in Anspruch genommen wird (ob zu Recht oder zu Unrecht sei erstmal dahingestellt), können viele, kann ich unterschreiben. In dieser Situation die wichtige Rolle der fachwissenschaftlichen Exegese hervorzuheben, ist sinnvoll. Ich bin mir sicher, dass zwischen mir und Thomas Söding auch Konsens herrscht über das, was ich doch anders akzentuieren möchte. Einiges würde ich gerne mit ihm diskutieren, aber eine Sache möchte ich herausheben, weil ich dies für dringend nötig halte: die Rede vom „Wächteramt“ der Exegese. Eine seltsame Redeweise.
Was ich anders bewerte bzw. kritischer sehe als Thomas Söding in seinem Artikel, ist der Status der Exegese. Exegese – und damit meine ich mit Thomas Söding die wissenschaftliche Fachexegese – ist nicht neutral und auch nicht immer unschuldig. Sie kann tief in Strukturen verstrickt sein, die Fundamentalismus begünstigen oder sogar aktiv dazu beitragen oder andere problematische, praktische Auswüchse zeitigen. Exegese gibt es nicht ohne Exeget*innen, die bei aller wissenschaftlichen Redlichkeit auch Teil anderer Strukturen sind, die in ihre Arbeit einfließen. Ein Beispiel: Carol Dempsey schreibt für mich Bezeichnendes hinsichtlich des Zusammenhangs hegemonialer Männlichkeitsbilder in Kirche und Theologie: „The institution’s hegemonic masculinity has shaped many of the church’s theologians and scholars, and many of them perpetuate this oppressive culture through their writings. Thus, within the Roman Catholic Church’s structure, including its educational system, theological traditions and practices, hegemonic masculinity is systemic.“[1] Wir Exeget*innen und Theolog*innen wurden und werden durch ein System, durch mehrere Systeme geformt und geprägt, denen wir nicht auskommen. Wenn wir Exeget*innen darin verstrickt sind, dann ist Exegese nicht nur Lösung, sondern zugleich Teil des Problems; das gilt für das obige Beispiel und generell. Der Blick in die Geschichte der eigenen Disziplin zeigt starke und problematische Verstrickungen. Insofern ist neben der von Thomas Söding benannten Aufgabe der Exegese auch eine zweite Aufgabe wichtig: die ständige Selbstkritik eigener Hermeneutiken und Methoden durch die Exegese selbst. Der Wächter muss sich auch selbst überwachen.
Ersetzt man „Wächter“ durch „Türsteher“, dann wird ein weiteres Problem des Bildes klarer. Exegese als gate keeper. Das kann „zivilisierende“ und regulierende Funktion haben, aber auch exkludierende. Im Club sieht man dieselben Gesichter, manche sieht man nie. Manche aus gutem Grund nie, manche nie, weil … ja warum eigentlich nicht? Pluralitätsoffenheit, ein wichtiges Mittel gegen Fundamentalismus, ist hier nicht automatisch gegeben.
Die Kraft der Exegese liegt in der kritischen Sicht auf ihren Gegenstand (die Bibel), dem sie nicht nur in einer „Hermeneutik des Einverständnisses“ folgt. Ihre Superkraft liegt in ihrer beständigen selbstkritischen Reflexion auf ihre Hermeneutiken und Methoden und deren Wirkung in soziale und praktische Räume sowie eine Haltung der Pluralitätsoffenheit. Beides macht sie glaubwürdig, letzteres macht sie (hoffentlich) fundamentalismusresistent.
Prof. Dr. Mathias Winkler (Regensburg)
Beitragsbild: Giotto, Einzug in Jerusalem, Quelle: Wikimedia commons
[1]Dempsey, Carol J., Exposing Roman Catholic Hegemonic Masculinity. A Feminist Analysis of Select Commentaries on Isaiah, in: Scholz, Susanne (Hg.), Doing Biblical Masculinity Studies as Feminist Biblical Studies. Critical Interrogations, Sheffield 2023, 128–146, hier: 128.