Zum heutigen runden Geburtstag von Ottmar Fuchs blickt Albert Biesinger in seinem freundschaftlichen Gratulationsbeitrag auf dessen Wirken als Pastoraltheologe und als Kollege, mit dem ihn unter anderem 16 Jahre Lehrtätigkeit in Tübingen verbinden.
Vamos Caminando war für mich der Schlüssel zum Denken und zur Persönlichkeit von Ottmar Fuchs. Dieser peruanische „Katechismus“ 1977 in Lima – und dann von der Bambamarka-Gruppe Tübingen 1983 deutsch – vorgelegt, bietet einen neuen Weg der Glaubenskommunikation, der mit indigenen Gruppen und Basisgemeinden in Peru entwickelt wurde. Ottmar Fuchs hat darin ein kritisch-konstruktiv beeindruckendes Nachwort präsentiert (vgl. S. 413-430). Seit damals ist er für mich ein großer Theologe.
Dieses Buch hüte ich wie einen Augapfel.
Vamos caminando hat mir – im Dialog mit Ottmar Fuchs – einen weiten Horizont und eine neue Welt von Glaubenskommunikation erschlossen: Evangelium als Befreiung, Theologie vom lebendigen Menschen her, die Armen als unmittelbare Empfänger des Evangeliums auf dem Weg der Befreiung, die prophetische Botschaft der Armen für uns und die biblische Gerichts- und Umkehrbotschaft für uns… Daher hüte ich dieses Buch wie einen Augapfel.
Dass wir viel später dann Kollegen mit Büro auf demselben Flur geworden sind, ist für mich im Nachhinein eine Fügung. Wie oft hat Ottmar Fuchs auf den letzten Schritten zu seinem Büro erst mal bei mir angeklopft für ein kurzes „Schwätzle“, locker und konzentriert zugleich.
Für sehr viele Studierende wurde er zu einem zugewandten, motivierenden und auch kritisch weiterführenden Hochschullehrer.
Einsatz für Doktoratsstudierende aus anderen Kulturkreisen
Dies hat sich dann auch in der beispiellos hohen Anzahl von Promotions- und Habilitationsprojekten gezeigt, die von Forschenden bei ihm begonnen und abgeschlossen worden sind. Viele unter ihnen haben wir gemeinsam intensiv begleiten und dialogisch-kritisch zu Abschlüssen führen können. Ottmar hat sich weit überdurchschnittlich für Doktoratsstudierende aus anderen Kulturkreisen eingesetzt, die ohne ihn nicht weitergekommen wären. Sein Engagement für Theologen und Theologinnen aus armen Ländern ist beispielhaft!
Statt wie mancherorts üblich, haben wir nicht rivalisiert, sondern nach Synergien und Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschieden in unseren Herangehensweisen gesucht. Seine überlegte, geduldige und sensible Kommunikation hat dem Diskurs in den Fakultätsgremien mehr als gut getan. Oft hat er lange nichts gesagt, und dann aber plötzlich treffend und weiterführend.
Authentisch und im aufrechten Gang
Als eigenständiger Denker im Suchprozess wie es gesellschaftlich und kirchlich weitergehen kann, war – und ist er noch heute – hochpräsent. Viele Texte und Erklärungen der so genannten „Vierer-Bande“ mit Ottmar Fuchs, Leo Karrer Norbert Mette und Norbert Greinacher haben manche in den Kirchenleitungen oft aufgeregt, wenige auch aufgerüttelt. So manches Mal hat der „Sumpf“ in der Kirche den Jubilar angeekelt. Die meisten haben abgeblockt. Dabei sind diese großen Herausforderungen in der Kirche bis heute auf der Tagesordnung – drängender denn je – wenigstens endlich als Themen in synodalen Prozessen angekommen. Hätte man vor Jahrzehnten auf diese Vorschläge gehört und vor allem sie umgesetzt…
Ottmar hat unter so manchen und manchem auch gelitten – sensibel und emphatisch für Menschen mit Behinderung und für Ausgegrenzte. Authentisch und im aufrechten Gang – und dennoch in Loyalität zur konkreten Kirche auf den „staubigen Wegen der Geschichte“ (Papst Franziskus).
Überraschende Fragestellungen und Zugangsweisen
Aufrüttelnde Themensetzungen in den Publikationen von Ottmar Fuchs sind mir bis heute Wegbegleiter, so etwa:
– Die Klage als Gebet
– Das Jüngste Gericht. Hoffnung auf Gerechtigkeit
– Gemeindetheologie interkulturell (mit Franz Weber)
– Im Innersten gefährdet. Für ein neues Verhältnis von Kirchenamt und Gottesvolk
– Nichts ist unmöglich, Gott!
– Momente einer Mystik der Schwebe
Sie erschließen stets originell theologisch durchreflektierte und spirituelle Perspektiven.
Der Pastoraltheologe greift überraschende Fragestellungen und Zugangsweisen auf, die man in der Praktischen Theologie sonst nicht so leicht findet. Schon sein Buch: Dabeibleiben oder Weggehen – 1989 publiziert – bleibt bis heute hochbrisant!
Mit dem schönen Buch Gott, die Welt, mein Kater und ich verbindet der Mensch Ottmar Fuchs konkrete Alltagserfahrungen mit theologischen Reflexionen. Ich habe dieses Buch an „Katzenfamilien“ verschenkt.
Seine Schreibproduktivität und Kreativität ist enorm…
„Gnade“ als Ankerbegriff der Verkündigung
Ottmar Fuchs hat geradezu penetrant für „Gnade“ als Ankerbegriff der Verkündigung optiert: Gnade als „verdankte Wirklichkeit“ und unbedingte Erfahrung der Liebe Gottes, konkret, im eigenen Leben. Gnade als Ressource für die soziale und individuelle Lebenspraxis. Für ihn ist bereits die Geburt unbedingter Ausdruck der Liebe Gottes.
Er legt damit den Finger auf die Wunden, die der Machbarkeitswahn, kanonistische Überregulierung und lehramtliche Versteinerungen Menschen, aber auch der Kirche als „Volk Gottes“ selbst zufügen.
Konsequent gedacht ist es angesichts unserer Vergänglichkeit eindeutig: Entweder GOTT rettet oder niemand. Diese Rettung im Tod konfrontiert mit der Liebe Gottes. Sie verläuft nicht ohne „Reue-Schmerz“ im Blick auf all das, was Menschen sich selber, anderen und der Schöpfung angetan haben. Es geht darum, Verantwortung für die Folgen der Verfehlungen zu übernehmen. (Alfons Auer sagte mir einmal in einem langen Gespräch: Im Gericht Gottes richten wir Menschen uns selber, weil uns im Lichte Gottes all das aufgeht, was und wo wir verfehlt haben.)
Opfer und Täter sind bei Gott nicht „egal“.
Das ermordete Kind in Auschwitz hat in der Konfrontation im Tod vor Gott einen anderen Status als sein KZ-Mörder.
Hoffentlich!
Opfer und Täter sind bei Gott nicht „egal“. Auf die Seite der Opfer zu treten ist aber jetzt schon gefordert: Missbrauch, Demütigung und Ausgrenzung von Frauen, auch in der Kirche, Kriegsopfer, Klimageschädigte – die Liste kann weitergeführt werden… Eindrucksvoll und dringlich hat Ottmar darauf immer wieder hingewiesen – vor allem in seinen Überlegungen zur Shoa.
Orthopraxie und Orthodoxie
Für mich war und ist er ein Diakon. Grundsätzlich ist jeder Priester ein Diakon, aber bei ihm merkt man es. Orthopraxie und Orthodoxie waren immer Spannungsbögen in seinem Denken und Handeln. Für viele, die in diakonisch caritativen Zusammenhängen unterwegs sind, wurde er zum spirituellen Wegbegleiter, der nicht nur theoretisch gut argumentieren, sondern auch einfühlsam, nachdenklich und tatkräftig da ist für jene, die es schwer haben.
Klagen können und dürfen kann man bei Ottmar lernen, nicht nur weil er darüber habilitiert hat, sondern weil er es auch selber praktiziert. Klage wird nicht mehr wie noch in meiner Kindheit als undankbare Beleidigung Gottes verstanden, sondern als Bleiben in der Gottesbeziehung gerade auch dann, wenn es dunkel ist.
„Gott haut nicht ab, wenn es dunkel wird – was wäre er für ein Gott!“ Das war einmal ein Predigtthema von mir, über das sich wohl auch Ottmar Fuchs freuen würde.
In allen Menschen das Wirken des Gottesgeist sehen und würdigen.
Grundzüge seiner Theologie der Gnade sind auch für die religiöse Bildung relevant. Sie regt dazu an, in Verkündigung, Katechese und religiöser Bildung einerseits selbst wirksam zu sein und andererseits sich immer wieder auch zurückzunehmen und GOTTES Wirken alles zuzutrauen.
Oft hat der Menschenfreund Fuchs dafür plädiert, in allen Menschen das Wirken des Gottesgeist zu sehen und zu würdigen. Dies führt interreligiös zur Versöhnung zwischen verfeindeten Gruppen, innerhalb der Kirchen zu einem innovativen Miteinander und gelingender Befreiung aus rigiden Zwängen und gegenseitigen Abwertungen.
Das eigene Sterben
Aufgreifen will ich zum Schluss seine mich nachdenklich stimmenden Gedanken, die gerade auch Menschen im höheren Lebensalter begleiten können:
„Gestorbensein hat für mich nichts Schreckliches. Schmerzlich ist aber, dass dies liebe Menschen als Verlust erfahren. Auf einem Flug vor etwa 20 Jahren nach Rom wurde das Flugzeug von einem Blitz getroffen und es war zunächst nicht klar, ob nicht dabei die ganze Elektrik zerstört war. Die ersten Gedanken, die mir (und übrigens auch den mitfliegenden Kollegen und Kolleginnen) kamen, waren nicht die des eigenen Sterbens, sondern wen ich nun zurücklassen müsse, wer nun so oder so dadurch geschädigt und im Stich gelassen sein würde. Auch deswegen hänge ich am Leben.“ (feinschwarz.net, 23.09.2023)
Lieber Ottmar: Vamos caminando!
Vgl. auch das Gespräch von Rainer Bucher mit Ottmar Fuchs im Podcast „dieseseineleben“
Dr. Albert Biesinger ist Diakon und emeritierter Professor für Religionspädagogik der Uni Tübingen. Von 1993 bis 2005 war er Vizepräsident des Internationalen Diakonatszentrums (IDZ) und Schriftleiter von «Diaconia Christi».
Beitragsbild: Privat