Anlässlich des heutigen Earth Day denkt Johannes Thüne über das Subjekt und das menschliche Verhältnis zur Natur nach und begibt sich bei seiner Suche nach Alternativen zum herrschaftlichen Denken auf die Spuren relationaler Denktraditionen.
„We created the industrial revolution, the digital revolution …now we must create the next revolution: the climate revolution“, so heißt es im Video zum jährlich am 22. April stattfindenden Earth Day. 1970 als eine Student:innenbewegung in den USA entstanden, ist der Earth Day mittlerweile zu einer weltweiten Mitwelt-Volksbewegung in 168 Ländern der Erde gewachsen.
…now we must create the next revolution: the climate revolution.
Beim Blick auf die ganze Welt fällt hierbei auf: Während der menschengemachte Klimawandel im sogenannten ›Globalen Norden‹ primär als eine technische Herausforderung angesehen wird, vermitteln uns die Stimmen aus dem ›Globalen Süden‹ – so wir ihnen zuhören – eine andere Perspektive und begreifen ihn im Kontext „gesellschaftspolitischer und soziokultureller Fragen nach Armut, Grundsicherung, Ungleichheit und Gerechtigkeit“[1]. Hierbei gilt es zu betonen, dass nicht die geographische Lage die Dominanzverhältnisse prägt, sondern dass die historisch entstandenen, strukturell ausgeprägten Machtverhältnisse komplexer sind als die daher kritisch einzuordnenden Bezeichnungen ›Globaler Norden‹ und ›Globaler Süden‹ dies nahelegen[2]. Die unterschiedlichen Blickwinkel und Wirklichkeitswahrnehmungen basieren neben historischen auch auf geistesgeschichtlichen Entwicklungen: So betonen wirkmächtige europäische Philosophen wie Descartes und Fichte, dass der Einzelmensch als abgeschlossenes, autonomes Wesen existiere[3] – anstatt seine Verbundenheit hervorzuheben.
UmCare: ein grundlegend anderes Denken in mit-sorgender Verbundenheit.
Patriarchale, kapitalistische und kolonialistische (Ausbeutungs)Strukturen funktionieren dabei als herrschaftliche Machtausübung und haben eine Unterdrückung von Marginalisierten aller Art zur Folge: Personen der FLINTA* und LGBTQIA+-communities, people of colour, people of disability, religiöse Minderheiten, wirtschaftlich Arme und sogar der Erde selbst. Während diese Strukturen unsere Gesellschaften maßgeblich prägen, gab es jedoch immer wieder Denker:innen, die Alternativen zu diesem auf herrschaftlichem Zugriff beruhenden Überzeugungen vertraten[4]. In unterschiedlicher Sprache liefern sie Anstöße, die als Blaupause für eine UmCare – für ein grundlegend anderes Denken in mit-sorgender Verbundenheit – dienen können.
In welcher Welt wollen wir leben? Sind wir bereit, die Systemfrage zu stellen?
Gesellschaftlich zeigt sich gegenwärtig eine Gleichzeitigkeit sehr divergenter Entwicklungen: Parallel zu hoffnungsvollen Bewegungen der letzten Jahre, die für eine öffentliche Aufmerksamkeit der Perspektiven marginalisierter Gruppen gesorgt haben, wie #MeToo, #BlackLivesMatter oder #FridaysForFuture, bäumt sich das ‚angeschossene Patriarchat‘ (Franziska Schutzbach) gegen diese Entwicklungen auf. Daher stehen wir als Gesellschaft vor Weichenstellungen und zentrale Fragen lauten: In welcher Welt wollen wir leben? Wie wollen wir umgehen mit Menschen, die vor Krieg, Hunger und Klimawandel fliehen? Welche Welt wollen wir kommenden Generationen hinterlassen? Wollen wir in der Tradition eines herrschaftlichen Denkens nach dem Motto verfahren: Neben uns die Sintflut (Stephan Lessenich)? Oder sind wir bereit, die Systemfrage zu stellen?
Theologie – eher Diganose als Therapie?
Im Rahmen der Uni-Veranstaltung „Weltbeziehung und Gʼttesbeziehung. Ein sozio-theologisches Seminar“ kam der Fundamentaltheologe Markus Knapp für ein Gespräch zu uns nach Kassel und formulierte in unserem Austausch: Theologie sei in einer medizinischen Metapher eher mit der Diagnose, als mit der Therapie beauftragt. Übertragen auf die Herausforderungen des Klimawandels führte er aus, dass wir unseren CO2-Verbrauch reduzieren, Energie einsparen und auf Fleisch verzichten können, doch dass wir damit lediglich einzelne Symptome behandeln, falls wir nicht unser grundlegend ausbeuterisches Verhältnis zur Natur verändern – das Grundproblem des Übels bleibe bestehen. Die Frage – sowohl für den Umgang mit unserer Mit-Welt als auch mit unseren Mit-Menschen – lautet daher: Wie können wir aus dem herrschaftlichen Zirkel, der unser Denken bestimmt, aussteigen und es zu einem Denken in Beziehungen, in mit-sorgender Verbundenheit zu unseren Mit-Geschöpfen transformieren? Im Folgenden präsentiere ich schlaglichtartig Denktraditionen, auf die hierfür Bezug genommen werden kann.
Europäisches Denken … in Richtung Abgeschlossenheit und Autonomie der Einzelwesen.
Der hier präsentierte Ansatz zielt auf das ‚Subjekt‘-Denken: Dieses bewegt sich zwischen einem Sein (a) als (autonom und abgeschlossen gedachtes) Einzelwesen einerseits, (b) andererseits (ent)steht es in relationaler Verbundenheit. Mit Martin Buber lässt sich sagen, dass das ‚Ich‘ im ‚Du‘ entsteht[5]. Meine These lautet, dass das europäische, männlich geprägte Denken tendenziell durch eine Schlagseite in Richtung der Abgeschlossenheit und Autonomie des Einzelwesens geprägt ist – und dass damit eine größere Gefahr einhergeht, die Welt in einem herrschaftlich-ausbeutenden Zugriffsmodus (als Um-Welt und nicht als Mit-Welt) zu begreifen. Mit Blick auf die Herausforderungen der aktuellen Zeit – wie bspw. dem menschengemachten Klimawandel, der auf einem herrschaftlichen Verhältnis des Menschen zur Natur beruht –, möchte ich Alternativen des Subjekt-Denkens benennen, deren Neigung in Richtung der Verbundenheit zielen und in deren Tradition sich eine Transformation unseres herrschaftlichen Denkens stellen kann. Im Anschluss an diese Skizzierungen gehe ich abschließend auf den UmCare-Begriff ein.
Jüdisches Denken betont die relationale Verbundenheit stärker.
Eine mögliche Alternative sehe ich in der jüdischen Tradition[6]. Im Gegenüber zum hellenistischen Denken, das einen metaphysischen Grundzug besitzt, ist jüdisches Denken stärker gemeinschaftlich geprägt und jüdische Denker:innen, wie bspw. Martin Buber, betonen die relationale Verbundenheit.
Wichtige theologische Beiträge zu der hier angestrebten Transformation können mit Bezugnahme auf die zwei (jüdischen) Schöpfungserzählungen zu Beginn des Buches Genesis erfolgen. Der Gedanke der Ebenbildlichkeit des Geschöpfes Mensch erfordert von ihm einen verantwortungsvollen Umgang mit der Schöpfung[7]. Der zweite Schöpfungsmythos bezeichnet den Menschen als »Erdling«, denn er kommt aus der אֲדָמָה (»ādāmāh«, der Erde). Daher votiert Julia Enxing für eine »erdgesättigte« Theologie[8].
Epistemology of Care
Der Philosoph Martin Böhnert, der zur ‚Epistemology of Care‘ arbeitet, begreift den Klimawandel als eine Angelegenheit der Mit-Sorge. In Anlehnung an Bruno Latours Begriff der ‚Matters of Concern‘ und der feministisch überarbeiteten Lesart als ‚Matters of Care‘ durch María Puig de la Bellacasa sowie Bezug nehmend auf Donna Haraways Schlüsselkonzept der ‚Sympoiesis‘ als ›becoming-with‹, ›making-with‹, ›thinking-with‹ und ›wording-with‹, verdeutlicht Böhnert den Mehrwert dieser veränderten Perspektive auf den Klimawandel. Er formuliert:
„[D]ie Transformierung des Verständnisses von Klimakrise von einer bloß faktischen Angelegenheit hin zu einer Angelegenheit der Sorge, Besorgnis und Fürsorge [ermöglicht] auch eine Transformation von Denk- und Lebensgewohnheiten und zwar unter Umständen eben solcher, die uns als Gesellschaft seit rund 125 Jahren unfähig machen, der sich entwickelnden Klimakrise angemessen zu begegnen. […] Mit Puig de la Bellacasa lässt sich sagen, dass die Idee einer Angelegenheit der Sorge, Besorgnis und Fürsorge ein Vorschlag zum gemeinsamen denken-mit ist.“[9]
Weitere Denker:innen, die Anregungen für eine Transformation zum relationalen mit-Denken bieten, sind bspw. Dorothee Sölle[10], Leonardo Boff[11], bell hooks[12] und Jürgen Manemann[13]. Zum Abschluss verweise ich auf Papst Franziskus, der in seiner (Mitwelt)Enzyklika Laudato siʼ formuliert: Die Mitweltkrise ist „ein Aufruf zu einer tiefgreifenden inneren Umkehr. […] Die Berufung, Beschützer[:in] des Werkes Gottes zu sein, praktisch umzusetzen gehört wesentlich zu einem tugendhaften Leben; sie ist nicht etwas Fakultatives, noch ein sekundärer Aspekt der christlichen Erfahrung.“ (LS 217)
In diesem Sinne verstehe ich den Begriff UmCare[14] – als eine Bezeichnung, die den biblischen Begriff der Umkehr[15] mit dem englischen care (sich und für andere sorgen) zusammenbringt, um auf diese Weise eine – wie in diesem Artikel skizzierte – Transformation unseres Denkens in eine mit-sorgende Verbundenheit auszudrücken. Noch einmal Papst Franziskus: „Wenn wir uns hingegen allem, was existiert, innerlich verbunden fühlen, werden Genügsamkeit und Fürsorge von selbst aufkommen. Die Armut und die Einfachheit des heiligen Franziskus waren keine bloß äußerliche Askese, sondern etwas viel Radikaleres: ein Verzicht darauf, die Wirklichkeit in […] ein Objekt der Herrschaft zu verwandeln.“ (LS 11)
Johannes Thüne ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Systematischen Theologie an der Universität Kassel und Mitglied der IAG Climate Thinking. Theologisch inspiriert ihn die Theologie der Befreiung.
[1] Martin Böhnert: The Science ist Clear: Climate Action Now! Versuch einer Neubeurteilung des Verhältnisses von Natur und Kultur in der Klimakrise, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 67 (2022), 27-49, 34.
[2] Vgl. Martin Böhnert / Maria Hornisch / Annika Rink: Über Leben, Überleben und Zusammenleben im Anthropozän. Zur Pluralität von Apokalypsen und der Frage nach Handlungsfähigkeit im Kontext der Klimakrise, in: Martin Böhnert / Maria Hornisch / Annika Rink (Hg.), Apokalypse und Apathie. Handlungs(un)fähigkeiten in der Klimakrise (Climates – Cultures – Contexts, Bd. 1), Bielefeld: transcript 2025, 15-35, 20f.
[3] Vgl. Aleida Assmann / Jan Assmann: Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn, München: C.H.Beck 22025 [2024], 83-102.
[4] Zu nennen sind hierfür der jüdische Denker Martin Buber, die Soziologin Franziska Schutzbach, die Philosoph:innen Eva von Redecker und Martin Böhnert sowie in der Theologie primär Denker:innen in franziskanischen, befreiungstheologischen, (öko)feministischen und postkolonialen Traditionen.
[5] „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Martin Buber: Ich und Du, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 142014 [1923], 36.
[6] Vgl. Assmann / Assmann: Gemeinsinn, 101.
[7] Vgl. Markus Knapp: Gott – Natur – Mensch. Eine theologische Standortbestimmung angesichts der Klimakrise, Freiburg/Br.: Herder 2023, 93-135.
[8] Vgl. Julia Enxing: Und Gott sah, dass es schlecht war. Warum uns der christliche Glaube verpflichtet, die Schöpfung zu bewahren, München: Kösel 2022, 32.
[9] Böhnert: Versuch einer Neubeurteilung des Verhältnisses von Natur und Kultur in der Klimakrise, 43f.
[10] Zur Theologie Dorothee Sölles (deren 22. Todestag wir am 27. April begehen) vgl. Alina Ott: Über die Verbundenheit. Zum 20. Todestag von Dorothee Sölle, in: https://www.feinschwarz.net/ueber-die-verbundenheit-zum-20-todestag-von-dorothee-soelle/ (letzter Zugriff: 18.03.2025).
[11] Vgl. Leonardo Boff: Universale Geschwisterlichkeit. Gesellschaftsordnung der Zukunft, Münsterschwarzach: Vier-Türme-Verlag 2022.
[12] Vgl. bell hooks: Dazugehören. Über eine Kultur der Verortung (Aus dem amerikanischen Englisch von Helene Albers), Münster: Unrast 2022 [am. 2009], 224-229.
[13] Vgl. Jürgen Manemann: Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer, Bielefeld: transcript Verlag 2021, 63-85; 98-113.
[14] Der Begriff hat mittlerweile in einigen Publikationen Anwendung gefunden. Hervorheben möchte ich hierfür: Ina Praetorius / Uta Meier-Gräwe: Um-Care. Wie Sorgearbeit die Wirtschaft revolutioniert, Ostfildern: Patmos Verlag 2023.
[15] Das gr. μετανοέω (metanoeō – Umkehr bzw. ändere meine/n Denkweise/Sinn) kommt etymologisch von νοῦς (noûs – Verstand, Sinn, Geist). Frère John formuliert mit Bezugnahme auf Mk 1,15: „Das bedeutet aber auch, dass wir aufgefordert sind, unser Denken, Handeln, ja unser ganzes Sein radikal zu verändern. Im Neuen Testament wird diese Neuausrichtung mit dem griechischen Wort metanoia ausgedrückt. Diese ist die grundlegende ‚Grammatik‘ christlicher Existenz.“ Frère John: Metanoia. Umkehr als Wegweiser christlichen Lebens (Übersetzung aus dem Englischen: Daniela Busse; Edition Taizé), Freiburg/Br.: Herder 2022 [frz. 2021], 16.
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