Moni Egger über Wiborada – eine Frau im frühen Mittelalter. Eine Frau, die ihre Grenzen klar markiert und die sich gerade in und dank dieser Abgrenzung der Welt zuwenden kann.
Vom Projekt wiborada.sg erreichte mich die Anfrage, ob ich eine Erzählung erarbeiten würde zur St. Galler Stadtheiligen, die im frühen 10. Jahrhundert als Inklusin lebte. Einige Wochen später las ich die Wiborada-Legende.[1] Und je mehr ich las, desto mehr bereute ich meine Zusage. Wie um Himmels Willen sollte ich aus diesem „frommen Gesülze“ eine brauchbare Erzählung machen?!?
Ein wissenschaftliches Polster
Alles in mir sträubte sich, mich innerlich auf Wiborada einzulassen: fromm, züchtig, Selbstkasteiung, Weltabgewandtheit, Todessehnsucht, … nichts, woran ich anknüpfen mochte. Also las ich mich erst einmal ein in die damalige Zeit: politische Unsicherheit, Pornokratie im Vatikan, Machtkämpfe zwischen kirchlicher und weltlicher Herrschaft. Ich las über das Klosterdorf St. Gallen und seine Ausstrahlung. Und über Angst und Schrecken, die zu jener Zeit die Reitertruppen der Magyaren bei den sog. Ungarneinfällen in weiten Teilen Europas verbreiteten.[2]
historische Eckdaten
Ich las die wenigen historischen Eckdaten zu Wiboradas Leben und Herkunft:[3] Wiborada stammte aus einem wohlhabenden Elternhaus irgendwo im heutigen Thurgau. Ihr Bruder Hitto war Mönch im Kloster St. Gallen und Pfarrer in der St.Mangen-Kirche vor den Toren des damaligen Klosterdorfes. Zum Haushalt gehörte auch Dienstpersonal. Die Schwestern Kebini und Pertherad werden in der Legende namentlich genannt als Dienerinnen, die Wiborada über lange Jahre begleiten. Auch als Inklusin konnte sie auf mehrere Dienerinnen zählen.
Ein Anknüpfungspunkt
Gestärkt mit diesem wissenschaftlichen Polster las ich die Legende zum zweiten Mal. Sie wurde mit grosser Wahrscheinlichkeit bereits um 960 herum aufgeschrieben, also nur knapp 40 Jahre nach Wiboradas Tod. Jetzt konnte ich die Anekdoten vor dem historischen Hintergrund lesen und dort auch die in meinen Ohren so frömmelnde Sprache einordnen.
Bereits im zweiten Abschnitt machte es ein erstes Mal Klick. Dort heisst es: „… unterdrückte sie mit bescheidener Bedachtheit alle Verlockungen übermütiger Ausschweifung, alle Leichtfertigkeit des Kindesalters und bändigte sie mit einer gewissen Strenge und Reife. …“[4] Wenn ich die Aussage ernst nehme und nicht als katholisches Wunschdenken abtue, dann bekommt die kleine Wiborada einen Charakterzug, den ich von mir selbst auch kenne: Sie ist lieber mit sich selbst beschäftigt, als mit lauten Kinderhorden. Sie weiss, was ihr gut tut und verschliesst die Ohren vor dem, was sie nicht verträgt.
Aus dem unsympathischen Kind wird ein hochsensibles Mädchen.
Natürlich, Frommsein und Weltabgewandtheit bereits als Kind gehört zu den typischen Gattungsmerkmalen von Heiligenlegenden (vor allem, wenn es um heilige Frauen geht). Nichts desto trotz öffnete mir diese Passage ein erstes Schlüsselloch zu dieser sperrigen Frau. Wenn ich die Beschreibung ganz ohne moralischen Unterton lese, wird aus dem unsympathischen Kind ein hochsensibles Mädchen. Wiborada lernt, mit dem Zuviel an Eindrücken umzugehen. Im Lauf ihres Lebens macht sie ihre hohe Sensibilität zur Stärke, bis hin zur Klarsichtigkeit. Und diese kommt in dem Moment so richtig zum Zug, als sie sich in ihrer Klause ihren eigenen Raum absteckt. Aber so weit sind wir noch nicht.
Verhängnisvolle Romreise?
Die Legende erwähnt, dass Wiborada zusammen mit ihrem Bruder Hitto nach Rom pilgerte. Eine aufwändige Unternehmung, nicht ungefährlich. Die Legende tut die Reise mit zwei Sätzen ab. Über Rom selbst – nichts.[5] Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt, dass zur Zeit um die Jahrhundertwende im Vatikan üble Zustände herrschten. In meiner Erzählung setze ich die Reise unter Papst Sergius III. an, also zwischen 904 und 911. Wie seine unmittelbaren Vorgänger und Nachfolger hatte auch Sergius III. mehr als geistliche Höhen die weltlichen Lüste im Sinn. Mord und Vergewaltigung, bordellähnliche Zustände und politische Ränkespiele gehörten beinahe zur Tagesordnung.[6]
Ein zweiter Ansatzpunkt für mein Verständnis von Wiboradas Rückzug.
Für mich lärmt das Schweigen über die Romreise! Es wurde zu einem zweiten Ansatzpunkt für mein Verständnis von Wiboradas Rückzug: Ich stelle mir vor, wie sie von dieser Reise komplett desillusioniert zurückkam. Vielleicht ging es ihr ähnlich, wie mir heute: Allzuleicht droht sich angesichts der Zustände ein Ekelgefühl auszubreiten, das den klaren Blick auf die Welt verstellt. Damit dieses nicht überhand nimmt, braucht es einen klaren Rahmen, einen geschützen Ort.
Inkluse – Klare Grenzen
Laut Legende dauerte es noch zehn Jahre, bis Wiborada diesen geschützten Ort für sich fand. Sie bat den Bischof, als Inklusin leben zu dürfen, auf 10 m2, ohne direktes Sonnenlicht in einer Zelle ohne Tür, aber mit zwei Fenstern: Eines zur Strasse hin – hierher kamen die Menschen aus der Umgebung, um sich bei Wiborada Rat und gesegnetes Brot zu holen. Das zweite führte hinein in die St.Mangen-Kirche, an deren Mauer die Zelle angebaut worden war – über dieses Fenster konnte Wiborada den Gottesdienst mitfeiern. So hatte sie ihn nun: Ihren eigenen, klar abgegrenzten Raum, der es ihr trotzdem – oder gerade durch seine klaren Grenzen – ermöglichte, sowohl am kirchlichen wie auch am weltlichen Leben Teil zu nehmen.[7]
Selbstbestimmt – auch in der Liturgie
Bereits in jungen Jahren hatte sich Wiborada von ihrem Bruder Hitto die Psalmen beibringen lassen. Es heisst, die ersten fünfzig habe er sie gelehrt, die anderen hundert habe sie mit heiliger Geistkraft selbst gelernt. Ist es zu viel an Phantasie, wenn ich mir vorstelle, dass sie durch das gemeinsame Studium nicht nur die Psalmen, sondern auch das Lesen gelernt hat? Auf jeden Fall gibt es mehrere Szenen, die Wiborada mit einem Buch beschreiben.
…, dass Wiborada selbst Eucharistie gefeiert hat.
Eine andere Anekdote lässt darauf schliessen, dass Wiborada selbst Eucharistie gefeiert hat: Im Traum erscheint ihr eine verstorbene Dienerin und heisst sie, Patene, Korporale und Manipel „womit du das Opfer darzubringen gewohnt bist“[8] noch einmal reinigen und neue Hostien bringen zu lassen, da beides nicht richtig vorbereitet worden sei. Ich stelle mir vor: An Tagen, an denen es in der Kirche keine Eucharistiefeier gab, hat Wiborada selbst eine gefeiert, zusammen mit Kebini und Pertherad und vielleicht auch noch anderen Frauen.
Klarsichtig und Zukunftsweisend
In ihrer Inklusinnenzeit schärfte sich Wiboradas Klar- und Hellsichtigkeit. Schon vorher wurden ihre speziellen Träume erwähnt. Aber jetzt erhielten diese eine Transparenz in die Wirklichkeit, die Wiborada nicht nur befähigte, Ereignisse vorauszusehen, sondern sie auch zu einer gefragten Ratgeberin machte.
Durch Wiborada wurde die St. Galler Büchersammlung gerettet.
In einem hellsichtigen Traum sah Wiborada den Überfall der Magyaren im Jahr 926 voraus. Sie nutzte ihren Einfluss, um den Abt des Klosters und die Bevölkerung zu warnen. Anders als viele andere Bibliotheken auf der Raubroute wurde dadurch die St. Galler Büchersammlung gerettet und so kann sie in der Stiftsbibliothek bis heute bewundert werden. Obwohl ein Inklusinnengelübde bei Feuer und Krieg aufgehoben wird, weigerte sich Wiborada, zusammen mit der Bevölkerung zu fliehen. Sie erwartete die Plünderer in ihrer Klause und wurde von ihnen erschlagen. Denn – so erzählt die Legende – in der Vision des Überfalls wurde ihr auch der „Ruhm ihres Martyrium“ angekündigt, als „Lohn für ihre Mühe und ihren Kampf“.[9]
Wiborada bleibt sperrig – und doch ist sie mir lieb geworden. Mehr als das: Das Bild der Klause, deren Schutzmauern erst den Kontakt nach aussen ermöglichen, leitet mich durch die Unruhe der aktuellen Zeit.
Moni Egger, Dr. theol., Erzählerin, Dozentin für Bibeldidaktik am Religionspädagogischen Institut sowie für biblisches Hebräisch an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.
Foto: © Roberto Conciatori
Beitragsbild: © Teresa Serpa
[1] Berschin, Walter, Vitae Sanctae Wiboradea. Die ältesten Lebensbeschreibungen der heiligen Wiborada. St. Gallen 1983.
[2] Siehe dazu: https://blog.nationalmuseum.ch/2022/11/als-die-magyaren-st-gallen-ueberfielen/
[3] Eine Übersicht über die historisch gesicherten Angaben zu Wiboradas Leben gibt: Cornel Dora, Was wir über Wiborada wissen. Ein Blick in die historischen Quellen, in: Gässlein, Ann-Katrin, und Georg Emmenegger (Hg), Wiborada von St. Gallen. Neuentdeckung einer Heiligen, Basel 2022. online verfügbar: https://www.wiborada.sg/DE/66/SammelbandWiboradavonStGallen.htm
[4] Berschin, a.a.O., II.
[5] Berschin, a.a.O., IX.
[6] Dazu der Podcast: https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/vatikan-p%C3%A4pste-und-die-pornokratie
[7] Einblick in den Alltag und die Lebensumstände als Inklusin gibt: Irblich, Eva, Die Vitae Sanctae Wiboradae. Ein Heiligen-Leben des 10. Jahrhunderts als Zeitbild. St.Gallen 1970.
[8] Berschin, a.a.O., XXIII: „O domina karissima calicem et patenam uel corporale sed et fanonem cum quo solita es offerre omnia pura et munda aqua lauare praecipias.“
[9] Berschin, a.a.O., XXIX.