Rassismus in der Kirche? Égide Muziazia reflektiert auf eigene Erfahrungen.
Als ich im Sommer 2023 mit großer Freude meinen Dienst als Pfarrer in einer neuen Pfarrei antrat, ahnte ich nicht, dass ich mich mit heiklen Themen wie Rassismus auseinandersetzen müsste. Im Jahr 2020 gab ich sogar ein Interview für eine kirchliche Zeitung, in dem ich behauptete, dass es meiner Erfahrung nach keinen Rassismus in der Seelsorge gäbe. Leider musste ich diese Aussage aufgrund wiederholter Anfeindungen an meiner neuen Dienststelle revidieren. Ich bin in Deutschland ausgebildet, zum Priester geweiht, tief verankert in der Pastoral und im System, aber das Entscheidende scheint zu sein: Ich bin nicht von hier. Aber was heißt das – und für wen? In dieser Frage schwingt ein tiefes Misstrauen mit. Es ist nicht nur Neugier, sondern eine stille Grenzziehung.
Die Ambivalenz des Fremden – zwischen Furcht und Faszination
Rassismus in der Seelsorge ist ein Phänomen, das selten spektakulär in Erscheinung tritt. Es sind Blicke, die sich verweigern, Worte, die ausweichen, Frage „wann gehen Sie wieder zurück?“ oder Entscheidungen, die ohne Begründung getroffen werden: „Den wollen wir nicht – nicht bei der Taufe, nicht bei der Hochzeit, nicht bei der Beerdigung“. Was als individuelles Unbehagen erscheint, ist oft das Echo kollektiver Erzählungen. Und plötzlich wird ein Seelsorger zum Symbol. Für das Andere. Für das, was nicht dazugehört. All dies sind keine Beweise im strafrechtlichen Sinne, aber sie sind Zeichen einer Atmosphäre, die für die Seelsorge belastend ist.
Rassismus in der Seelsorge zeigt sich zudem in der Art und Weise, wie die Kultur der Akzeptanz gewährt oder verweigert wird. Emmanuel Levinas beschreibt die ethische Dimension des Anderen als ein Durchbrechen der eigenen Selbstgenügsamkeit: „Das Antlitz des Anderen ist das, was mich aus meiner Selbstherrlichkeit reißt“ (Levinas 1978: 154).
Dem Blick des Fremden ausgesetzt
In diesem Sinne ist jede seelsorgliche Begegnung als ein ethisches Wagnis zu betrachten, da sie ein dem Blick des Fremden Ausgesetztsein bedeutet, der nicht zum Eigenen gemacht werden kann. Wird diese Begegnung verweigert, wird der andere Mensch auf seine Herkunft, seinen Akzent oder seine Hautfarbe reduziert. In dieser Situation verfehlt das Potenzial zur Gastfreundschaft seinen Zweck und es entsteht eine Haltung der Abwehr. Reinhard Feiter hat darauf hingewiesen, dass das Fremde nicht nur geographisch oder kulturell gedacht werden darf, sondern existenziell ist: „Fremdheit ist etwas durchaus Alltägliches und Vertrautes“ (Feiter 2002: 249). Demzufolge betrachte ich die Seelsorge als einen Raum, in dem das Eigene durch die Reflexion des Anderen zu einer Weiterentwicklung gelangt. Allerdings besteht die Herausforderung in der Angst, die das Eigene zu einer Festung werden lassen kann.
Wachsende Stimmung des Misstrauens in der Gesellschaft
Die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Diskurse über Migration in europäischen Kontexten sind durch Polarisierung, Emotionalisierung und latente bis offene Xenophobie gekennzeichnet. Pauschalisierende Rhetoriken, die Migrantinnen und Migranten als Bedrohung der sozialen Ordnung, der kulturellen Identität oder der wirtschaftlichen Stabilität stigmatisieren, prägen alltägliche gesellschaftliche Wahrnehmungen. Dies führt zur Bildung nationaler Wir-Gruppen, die sich von einem als problematisch etikettierten „Anderen“ abgrenzen. Dabei ist nicht nur von persönlichen Antipathien die Rede, sondern von kulturellen Codes, die eine tiefere Bedeutung haben. Wie Carolin Emcke beschreibt, zeigt sich diese Form des Hasses als eine vertikale Blickachse: „Gehasst wird aufwärts oder abwärts, in jedem Fall gegen ‚die da oben‘ oder ‚die da unten‘, immer ist es das kategorial Andere“ (Emcke 2016: 12).
Die zuvor genannten gesellschaftspolitischen Mechanismen beeinflussen auch den kirchlichen Alltag. Seelsorgerinnen und Seelsorger mit ausländischer Herkunft, insbesondere solche mit afrikanischem, asiatischem oder anderem Hintergrund, sind zunehmend von subtilen oder offenen Formen des Rassismus betroffen. In der Folge werden nicht selten ihre pastorale Kompetenz in Frage gestellt und ihre kulturelle Herkunft zum Gegenstand abwertender Kommentare oder paternalistischer Zuschreibungen gemacht.
Strukturelle Mechanismen
Diese Erfahrungen stellen nicht nur singuläre Vorfälle dar, sie spiegeln strukturelle Mechanismen wider, die durch gesellschaftliche Diskurse vorbereitet und durch hegemoniale Überlegenheitsgefühle produziert werden. So bleibt Rassismus in der Seelsorge eine enorme Herausforderung für die Kirche. Denn sie veranschaulicht die Ambivalenz einer Kirche, die sich theologisch auf die Universalität des Evangeliums und die Zugehörigkeit zur Weltkirche beruft, sich in ihrer Praxis jedoch mit der Komplexität von Rassismus konfrontiert sieht. Es sei jedoch angemerkt, dass Rassismus in der kirchlichen Landschaft nicht institutionell produziert wird, sondern aus dem Kontext und dem Milieu entsteht, in denen betroffenen Seelsorgerinnen und Seelsorger ihre pastoralen Dienste verrichten.
Die Verletzlichkeit und gegenseitige Anerkennung
Die Seelsorge ist grundsätzlich auf die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen sowie die Durchführung dialogischer Begegnungen ausgerichtet. In ihr offenbart sich die Struktur menschlicher Existenz als Angewiesensein auf wechselseitige Anerkennung. Sie gründet auf der Bereitschaft, sich auf die Verletzlichkeit des Anderen einzulassen – und auf die eigene. Drei Sphären, in denen sich personale Identität entfaltet, hat Axel Honneth in seiner Anerkennungstheorie beschrieben: Liebe, Recht und Solidarität. Gerade im Kontext der Seelsorge ist die Dimension der Liebe von entscheidender Bedeutung: „Erst durch Liebe entsteht jene emotionale Sicherheit, die eine Selbstachtung ermöglicht“ (Honneth 2021: 148f.).
Selbstachtung entwickeln
Paul Ricœur verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der Dialektik zwischen Selbst und Anderem. Das Selbst konstituiert sich demnach erst im Angesicht des Anderen ein Selbstsein, das nur durch die Annahme seiner Verwiesenheit auf den Anderen möglich ist (Ricoeur 2006: 204). Für die Seelsorge bedeutet dies: Nur in einem Umfeld, in dem ein Mensch sich in seiner Verletzlichkeit und Einzigartigkeit angenommen weiß, kann er auch zur Sprache kommen und Selbstachtung entwickeln.
Was aber bedeutet es für die Selbstachtung einer Seelsorgerin, eines Seelsorgers, wenn ihre bzw. seine seelsorgliche Kompetenz systematisch in Frage gestellt wird – nicht wegen inhaltlicher Mängel, sondern wegen Herkunft oder Hautfarbe? Was bedeutet es für die Würde des Anderen, wenn die Gemeinde zwar den Segen empfängt, den Segensspender aber mit Argwohn betrachtet?
Perspektiven einer rassismuskritischen Seelsorge
Eine rassismuskritische Seelsorge ist keine Spezialform für interkulturelle Fälle, sondern Grundvoraussetzung jeder authentischen Seelsorgepraxis. Sie fragt nicht nur: Wie kann ich helfen?, sondern auch: Welche Kraft bringe ich mit? Sie setzt nicht voraus, dass der Andere anders ist, sondern fragt, wo ich selbst der Andere bin.
Räume für kritische Auseinandersetzung
Sowohl die Theologie als wissenschaftliche Disziplin als auch die Kirche als Institution tragen die Verantwortung, Räume für eine solche kritische Auseinandersetzung zu schaffen. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei die curriculare Verankerung rassismuskritischer Inhalte in der Aus- und Fortbildung von Seelsorgerinnen und Seelsorgern. Ebenso ist die strukturelle Öffnung kirchlicher Institutionen für eine größere Vielfalt von Personen, Perspektiven und Praktiken von Bedeutung. Die Verbindung des universalistischen Anspruchs christlicher Nächstenliebe mit den in den ortskirchlichen weiterhin bestehenden kontextuellen Praktiken stellt eine Herausforderung dar.
Eine Kirche für viele
Die biblische Tradition kennt keine nationale Exklusivität Gottes. Im Buch Genesis wird der Mensch als Ebenbild Gottes – imago Dei – geschaffen, unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Ethnie (Gen 1,27). Der Galaterbrief hebt soziale und kulturelle Differenzen auf und postuliert eine neue Gemeinschaft, die durch die Taufe in Christus Jesus entsteht und in der alle Menschen gleich sind (Gal 3,28).
Unterschätzte Realität
In der Seelsorge stellt Rassismus eine bedrückende und oft unterschätzte Realität dar. In einem Arbeitsfeld, welches auf Empathie, Akzeptanz und heilende Begleitung fokussiert ist, werden nicht selten rassistische Denkweisen unbemerkt fortgeführt. Eine konsequent dekonstruktive und rassismuskritische Seelsorgepraxis ist daher erforderlich, welche bestehende Machtverhältnisse reflektiert, diskriminierungssensible Perspektiven integriert und sich aktiv um die Anerkennung und Würdigung vielfältiger Lebensrealitäten bemüht.
Aus der Perspektive einer biographisch-kontextuellen theologischen Forschung wird klar, dass ein Nachdenken über Seelsorge heute ohne den Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu kurz greift. Denn auch scheinbar geschützte Räume pastoraler Arbeit können von Rassismus betroffen sein. Eine rassismuskritische Haltung impliziert daher auch die Dekonstruktion eigener Privilegien sowie die Bereitschaft, marginalisierte Stimmen nicht nur zu hören, sondern aktiv in die Konzeption und Umsetzung pastoraler Angebote einzubeziehen.
Dr. Égide Muziazia ist Priester des Bistums Münster und Lehrbeauftragter in praktisch-theologischen Fächern an der Katholisch-theologischen Fakultät Münster.
Literaturhinweise:
- Emcke Carolin (20164): Gegen den Hass. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag.
- Feiter, Reinhard (2002): Antwortendes Handeln. Praktische Theologie als Kontextuelle Theologie. Münster : LIT Verlag.
- Honneth, Axel (20214): Kampf um eine Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Ricœur, Paul (2006): Wege der Anerkennung. Berlin: Suhrkamp.
Beitragsbild: Image by Pete Linforth on Pixabay