Angela Reinders entführt in die Welt des Balletts – für sie eine Schule des Lebens. Und auch des Glaubens.
„Schon ärgerlich, dass wir jetzt nicht in die Stadt kommen, um Weihnachtsgeschenke zu besorgen.“ Wir saßen am kleinen Tisch im Vorraum des Ballettsaals, zu viert, und nickten stumm in unsere Teetassen. Am Ende der letzten Stunde im Advent machten wir es uns gemütlich. 1999 war das und es waren Frauen dabei, die noch heute wie schon Jahre vorher mit mir üben, die noch heute meine Trainerinnen sind, mit denen ich an der Stange stehe, von denen ich Choreographien lerne.
Damals ging es um die Geiselnahme in der Landeszentralbank in Aachen. Vom 20. bis 22. Dezember hielt ein Schwerkrimineller in Aachen drei Bankmitarbeitende fest. Der Bereich um das Gebäude war weiträumig gesperrt, der Zugang in die Stadt unmöglich.
Tiefe in unseren Tassen und in unserem Gespräch
In einer ersten Runde klangen wir alle noch eher genervt. Wie man klingt, um etwas nicht allzu nah an sich herankommen zu lassen. Eine halbe Tasse Tee später erzählten wir einander davon, wie wir die Angst der Geiseln nachempfinden konnten, von der Sorge, es könne jederzeit vorbei sein mit ihrem Leben, wie wir uns denn fühlen würden. Wir erreichten mehr Tiefe in unseren Tassen und in unserem Gespräch. Um Weihnachten ging es. Was wir von seiner Botschaft glauben hinter all den Gedanken, wem ich was schenke, gerade weil es ja gerade gar nicht möglich ist. Eine erzählte von ihrem Auslandsjahr in Amerika. Dass sie nicht mitgegangen wäre, wenn ihre Gasteltern ihr vorher gesagt hätten, der Weihnachtsgottesdienst werde drei Stunden dauern. Und wie sehr sie dann in das Weihnachtsgeheimnis eintauchen konnte, weil der Gottesdienst drei Stunden dauerte. Das alles erzählten wir einander im Ballettdress, zogen uns anschließend um und gingen wieder in unsere Alltage.
Ballett begleitet mich, seit ich sechs Jahre alt bin, mit etwa 15 Jahren kam Jazztanz hinzu. Mit sechs Jahren war ich in einer Gruppe, die um mich herum dreimal neu besetzt wurde, weil ich einerseits zu klein und dünn war, um mit den Großen tanzen zu können, die Lehrerin jedoch daran Freude hatte, dass man an mir den Neuen so schön alles zeigen könne. Darüber bekam sie Krach mit meinem Vater und ich durfte in die nächsthöhere Stufe weitergehen. Meine heutige Ballettlehrerin hat wenige Jahre später in der gleichen Schule gelernt.
Vertrautheit der Umkleide
Das Tanzen selbst ist die eine Erfahrung. Die andere ist die aus der Umkleide. Gute und schlechte, seichte und tiefe Gespräche, meist aber eine Vertrautheit, die daraus lebt, dass du ein Gespür für den eigenen Körper bekommst und dafür, wer rechts und links und hinter dir gerade tanzt und deinen Raum für den eigenen Raumweg benötigt, wer rechts und links von dir in die Tanzkleidung steigt, mehr Nähe braucht oder gerade Distanz. Wer frisch verliebt ist oder gestern die Diagnose einer unheilbaren Krankheit erhalten hat, bei der irreversibel alle Haare ausfallen. Wer schwanger ist oder gerade einen schlimmen Unfall beobachten musste. Die eine mit der Promotion gerade fertig, die andere am Beginn einer Ausbildung. Die eine, deren Vater sein Coming out als schwuler Mann hatte, die andere, die gestern gerade einen Heiratsantrag bekam.
Missbräuchliches
Die schlechteste Erfahrung hatte ich mit ungefähr 15 oder 16 Jahren im Studio, in das ich damals auf Empfehlung der Sportlehrerin kam und das ich später verlassen habe. Ich habe das subtil erlebt. Wir alle bekamen von der Trainerin ständig gesagt, wir seien zu plump für die Bühne. Aus meinem latenten Untergewicht wurde ein Dauerzustand, zwei aus unserer Gruppe trieb sie in eine echte Essstörung. Bei den Aufführungen hatten wir zwei „Pausenclowns“, ein Duo, zwei Männer. Ich habe nie erfahren, was sie während unserer Umziehpausen auf der Bühne machten.
Allerdings verfolgte unsere damalige Lehrerin ihre Mission, uns weniger prüde sein zu lassen und einen entspannten Umgang mit unseren Körpern einzuüben. Dafür hielt sie es für das passende Mittel, uns die beiden um 15 Jahre älteren Männer zu jedem Auftritt mit in unseren Umkleideraum zu setzen. Ich fühlte mich in meinem Körper noch nicht so zu Hause, dass es mir nichts ausgemacht hätte, mich in ihrer Anwesenheit zu jedem Tanz meist komplett umzuziehen. Den einen von beiden habe ich später solo erlebt, finde ihn sehr lustig, mag ihn und habe ihm schließlich erzählt, wie ich die Situation empfand. Es stellte sich heraus, dass er sich umgekehrt auch unwohl gefühlt hatte.
Ich fühle mich benutzt
In diesem Studio hatten wir einen Tanz, den wir bei jeder Aufführung tanzten, mit Improvisationselementen zu „Samba pa ti“ von Carlos Santana. Ich kann Santana nicht hören, ohne dass ich wieder genau da bin, mich seltsam benutzt fühle. Es wird nicht weniger, je älter ich werde, im Gegenteil. In seltenen Fällen traue ich mich, zu bitten, doch etwas anderes anzumachen. Häufig bekomme ich dann Vorträge gehalten, wie toll die Musik von Santana doch ist, wie lange er schon auftritt, mit welch großartigen Musikern. Das bekomme ich selbst dann erzählt, wenn ich in noch selteneren Fällen erzähle, warum ich Santana nicht gut hören kann. Der Klang dieser Erfahrung. Es ist nicht zu vermitteln und ich ahne, wie sich diejenigen fühlen, die durch Missbrauch körperlich versehrt wurden und kein Gehör finden.
Doch überall ist auch Wertvolles zu lernen: In der Umkleide vor den Auftritten lauerte die damalige Trainerin durch den Vorhang und meldete, wie das Publikum war. Einmal waren wesentlich weniger Stühle besetzt als erwartet und sie bereitete uns darauf vor: Tanzt, wie ihr immer tanzt. Die zwanzig, die dort sitzen, können nichts dafür, dass die zweihundert anderen nicht erschienen sind.
Gute Augen
In der Ballettschule, in der ich heute trainiere, habe ich Geschwisterkindrabatt. Will sagen: Ich werde in der Abrechnung behandelt wie die älteste Schwester meiner Töchter, die dort auch tanzen. So zwischen den Generationen hänge ich genau: An manchen Gesprächen bin ich beteiligt, an manchen nicht. Ich habe von einigen die Bachelor- und Masterarbeiten Korrektur gelesen und frage dann vor jeder Aufführung, ob es denn immer noch in Ordnung ist, ob ich mittanze. Meist ernte ich verständnislose Blicke. „Klar, du gehörst doch zu uns.“
Meine Kinder und diejenigen, die mit ihnen tanzen, kennen einander vom Kindergartenalter an. Auch bei vielen Eltern ist das so, dass sie mit ihren Kindern in ein Beziehungsgeflecht eingestiegen sind, und die Ballettlehrerin ist, was Erziehung braucht: eine Miterzieherin.
In der Umkleide herrscht immer noch diese Vertrautheit. Wenn direkt zuzuordnen ist, welches Schläppchen aus wessen Tasche gefallen ist. Wenn jemand ein BeReal macht und alle sich zusammenscharen. Wenn nach der Stunde ein Handy beharrlich piepst und alle rufen: „Emily, dein Pillenwecker“.
Theologin geht zum Ballett
Für mich war es normal, am Abend der Wahl von Papst Franziskus nicht vor dem Fernseher auszuharren, sondern zum Training zu fahren. Es sollte ja noch lange dauern, bis er sich zeigte, auch, wenn es zu Hause kritische Bemerkungen gab: Eine Theologin geht zum Ballett, während weißer Rauch aufsteigt. Wir hatten ein Tablet mit im Ballettsaal und schielten während des Aufwärmtrainings immer wieder dorthin, bis eine rief: „Da geht Licht an.“ Flugs versammelten wir uns vor dem Bildschirm und Bergoglio trat auf den Balkon.
„Och nee, wieder so ein Alter“, sagte Lucia enttäuscht. „Aber der hat gute Augen, guckt doch mal“, rief Annie, und die Stunde ging weiter. Das so zu erleben verbinde ich mit diesem Pontifikat; im Wissen, dass ich in der Nacht anschließend noch arbeiten, Predigten von der Seite des Erzbistums Buenos Aires heraussuchen und knackige Zitate zusammenstellen müsste, um näherungsweise zu sagen, wer er war, dieser neue Papst mit seinem freundlichen „buona sera“, eben dort im Ballettsaal gehört.
Transformation
Was mich in Situationen trägt, in denen ich denke, hier geht es nicht weiter, ist ein Erlebnis vor mehreren Jahren. Es gab nur noch zwei Proben vor der nächsten Aufführung. Wie lange hatten wir dafür geübt. Die Musik gefiel uns als Gruppe am Anfang so là là, mittlerweile ging sie uns allen auf die Nerven, irgendein hipper Electrofunk, der in nur wenigen Wochen schnell und schlecht gealtert war. Katharina und ich machten unsere Zweierstelle und die anderen jeweils ihre und wir tanzten lieblos herunter, was wir tanzen sollten, tauschten uns nur in der Umkleide darüber aus, trauten uns nicht, das unserer Trainerin zu sagen. Vor der Stunde bat sie uns, erst einmal auf dem Boden Platz zu nehmen, und gestand uns: Sie könne die Musik genauso wenig mehr ertragen wie wir.
Es wird leicht, es wird groß
Natürlich hatte sie uns das angemerkt. Sie hätte deshalb ein Experiment vorbereitet, ein anderes Stück, sie habe das ausprobiert, es würde funktionieren. Wir fanden es leicht wahnsinnig, doch wir ließen uns darauf ein. Siehe da: Mit einer Filmmusik in ganz anderem Stil wurde der Tanz auf einmal leicht, groß, machte eine Freude, die er von Anfang an nicht bereitet hatte. So gingen wir dann auch auf die Bühne und es wurde gut. Wären wir mutiger gewesen in der Umkleide, hätten wir es vielleicht etwas schneller so gehabt.
Manchmal denke ich das im Leben, bei Nachrichten aus der Politik, in zaghaften Schritten in der Kirche: Sei mutig und probier mal. Sprich aus, was dich bewegt, geh in die Tiefe. Und leg eine andere Musik auf. Es wird leicht, es wird groß, es wird wieder Freude machen.
Angela Reinders, geb. 1965 in Aachen, Studium der katholischen Theologie in Bonn und Münster, dort 2006 Promotion mit dem Dissertationsthema „Zugänge und Analysen der religiösen Dimension des Cyberspace“. Ausbildung zur Journalistin und Pastoralreferentin. Seit 1. November 2022 Direktorin der Bischöflichen Akademie im Bistum Aachen, Sprecherin der Fokusgruppe Ethik im digitalHUB Aachen e.V.
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