Julian Müller skizziert den paradoxen Zusammenhang von Freiheitsgewinn und Radikalisierung in gegenwärtigen, säkularen Berichten von Abkehr und Umkehr und interpretiert derartige Konversionserzählungen als post-postmoderne Formen der Selbstdarstellung.
Eines der großen Freiheitsversprechen, das die moderne Gesellschaft jedem Einzelnen macht, wie realistisch und aussichtsreich auch immer, ist es, sein Leben selbst in die Hand nehmen und womöglich auch radikal ändern zu können. Gleichzeitig ist es aber auch in der modernen Gesellschaft tatsächlich auch ein Schreckensszenario, dass sich der Einzelne aus freien Stücken womöglich gegen die Freiheit entscheiden könnte. Die wohl interessanteste Figur, an der sich das Zugleich von Freiheitsemphase und Freiheitsverzicht, von Selbstermächtigung und Selbstbeschränkung zeigt, ist zweifelsohne der Konvertit. Jede Konversion macht einerseits ernst mit dem Freiheitsversprechen der modernen Gesellschaft, hat andererseits aber nicht selten auch mit biographischer Radikalisierung zu tun. Die Abkehr durch Konversion ist daher weit mehr als nur ein Wandel des Lebensstils.
Konversion macht ernst mit dem Freiheitsversprechen der modernen Gesellschaft.
Nicht nur die Religionswissenschaft, die Religionspsychologie und die Religionssoziologie hatten seit jeher ein großes Interesse am Phänomen der Konversion, vor allem auch auf die Presse scheint derzeit ein merkwürdiger Reiz von diesem Thema auszugehen. Nach Artikeln über junge Frauen und Männer, die zum Islam konvertiert sind und also von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, auf (westliche) Freiheiten zu verzichten und genau das als Freiheitsgewinn interpretieren, muss man jedenfalls nicht lange suchen. Vielleicht lohnt es sich aber, neben diesen ganz augenscheinlichen Fällen konfessioneller Konversion auch nach weniger offensichtlichen Fällen nicht-konfessioneller Konversion Ausschau zu halten.
Schon ein flüchtiger Blick auf den Markt der Sachbücher, der Podcasts, der Youtube-Videos, Blogs und Foren wird genügen, und man wird früher oder später auf einen derzeit signifikanten Typus biographischer Erzählung stoßen, dessen Auftauchen, dessen Erscheinungsform und dessen Ursachen soziologisch bislang nicht angemessen beschrieben sind. Die Rede ist von säkularen, alltagsweltlichen Konversionen. Man denke etwa auf dem Sachbuchmarkt an jenes gegenwärtig so populäre Genre des politischen Bekenntnistextes, bei dem Journalisten und Intellektuelle ihre eigene Wandlung von links nach rechts literarisch aufarbeiten, an Podcasts, in denen das eigene Vegan- oder Vegetarisch-Werden behandelt wird, an Instagram-Profile, die die Welt durch Vorher-nachher-Bilder an einem radikalen körperlichen Wandel teilnehmen lassen, an Blogs von Berufsaussteigern, die bewusst mit einer professionellen Karriere gebrochen haben, usw.
Wer all diese Fälle nur als Lebensstilwandel oder gar Moden abtut, verkennt nicht nur die Ernsthaftigkeit und das Pathos, mit dem diese Erzählungen auftreten, der übersieht auch, dass es hierbei stets eine Abkehr oder Umkehr ist, die zum zentralen Motiv der Erzählung wird. Ich musste mein Leben ändern, um der werden zu können, der ich bin.
Ein fundamentaler Wandel der eigenen Person.
Wenngleich es in all diesen Fällen dezidiert nicht um religiöse Konversion geht, so kann doch auch in diesen Fällen der religiös konnotierte Begriff ‚Konversion‘ in Anspruch genommen werden, da es eben nicht einfach um bloßen Lebensstilwandel geht, sondern um einen tatsächlich fundamentalen Wandel der eigenen Person. Wenn man sich die Erzählungen genauer ansieht, dann hat man es mit Berichten einer Abkehr und Umkehr zu tun, die das Ereignis, das zu dieser Abkehr geführt hat, sehr genau datieren können, und die mit diesem Ereignis eine dramatische Veränderung des eigenen Lebens und des eigenen Selbst verbinden. Nicht nur weisen diese Erzählungen daher auch jene von James H. Leuba beschriebene typische Dreigliedrigkeit der Konversionserzählung auf – ein falsches Leben vor der Konversion, eine existenzielle Krise, ein richtiges Leben nach der Konversion –, deutlich zeigt sich auch das wahrscheinlich zentrale und verbindende Motiv der meisten Konversionserzählungen. Die Abkehr und der damit einhergehende Verzicht, etwa auf Fleisch oder auf Karriere, wird aufgewertet zu einem persönlichen Freiheitsgewinn. In diesem paradoxen Zusammenhang aus freiwilligem Verzicht und persönlichem Gewinn liegt nicht nur ein Gemeinsames der unterschiedlichen Berichte, sondern tatsächlich so etwas wie ein Signum der Gegenwart, in der man einerseits die zunehmende Auflösung klassischer äußerer Bindungskräften, dagegen aber auch das Aufkommen neuartiger Bindungskräfte, nämlich Selbstbindungskräfte, beobachten kann.
Verzicht wird aufgewertet zu einem persönlichen Freiheitsgewinn.
Die genannten Beispiele, so banal sie auf den ersten Blick wirken mögen, haben daher auch nichts mit biographischem Inkrementalismus oder der Idee einer postmodernen Bastelbiographie zu tun, eher schon verweisen diese alltagsweltlichen Konversionserzählungen auf eine post-postmoderne Situation. In Zeiten, in denen das Vertrauen in Institutionen, die das eigene Leben von außen mit Erwartbarkeiten, Stabilitäten und Verheißungen versorgen, mehr und mehr schwindet – man denke an die Bedeutung von Parteien, Gewerkschaften, Vereinen, Kirchen und Großfamilien –, müssen Erwartbarkeiten an das eigene Leben in irgendeiner Form substituiert und womöglich selbst hergestellt werden. Die Konversion und die durch Abkehr einhergehende Selbstfestlegung und Selbstbindung scheint hierbei eine mögliche, freilich aber nicht die einzige Lösung zu sein. Man weiß vielleicht nicht, in welcher Stadt man nächstes Jahr leben und mit welchem Partner man zusammen sein wird, aber man wird mit Sicherheit kein Fleisch mehr essen, und man wird sich davon auch insofern nicht durch Argumente abbringen lassen, als die Gründe für diese Entscheidung in einem selbst liegen und das nicht weiter verhandelbare Fundament dessen bilden, was man ist. Es lohnt sich daher, die genannten Beispiele alltagsweltlicher Konversionen einmal genauer in den Blick zu nehmen und in Zusammenhang zu bringen mit Formen biographischer Radikalisierung, auch in Milieus, die dieser an sich unverdächtig erscheinen, auf die Zunahme von Ich- und Bekenntnistexten im Internet sowie auf die erstaunliche Wucht, mit der in den letzten Jahren Identitätsfragen zurückgekehrt sind.
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Julian Müller ist Akademischer Rat am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Bild: Michael Petrila / unsplash.com