Die katholische Kirche durchläuft viele Krisen gleichzeitig. Doch was kommt danach? Arnd Bünker benennt fünf zentrale Krisendimensionen und schlägt mit dem Modell synodaler Katholizität Zukunftsperspektiven vor.
Nur wer die fundamentalen Krisen der katholischen Kirche anerkennt, ist auch fähig, darüber hinauszudenken. Allerdings gibt es kein eindeutiges Davor und Danach, sondern eher ein Kontinuum der Verunsicherungen, der Suchprozesse, der Experimente und der wachsenden Klarheit darüber, wohin sich die Kirche in Zukunft konkret entwickeln könnte. Zunächst also die massgeblichen Krisendimensionen in Kürze, dann ein Vorschlag für eine Zukunftsorientierung.
Relevanzkrise
Wenn Corona eines gezeigt hat, dann den Verlust der Relevanz der Kirche – sowohl ihrer Botschaft als auch ihrer Angebote. Gerade in der ersten Phase der Pandemie, als das Gefühl der Unsicherheit in der Gesellschaft besonders hoch war, gab es von den Kirchen als Sinnstiftungsagenturen wenig zu spüren. Nur der ausserordentliche Segen „Urbi et Orbi“ von Papst Franziskus, allein auf dem verregneten Petersplatz, wurde medial stark wahrgenommen. Grosses Kino.
In Deutschland, Österreich und der Schweiz fiel die Kirche bei vielen, auch bei Kirchennahen, aus dem Blick. Eine prägnante Botschaft war nicht zu hören. Es fehlten Kommunikationskanäle, Strukturen und handwerkliches Know-how. Nach Ostern 2020 fiel de facto auch noch Weihnachten aus – weitgehend ersatzlos. Dass der persönliche Relevanzverlust des Glaubens eine der stärksten Triebfedern bei Kirchenaustritten ist, verwundert da nicht mehr.
Institutionskrise
Wenn man eine Institution als gesellschaftlich anerkannte Form für die Lösung eines wichtigen Problems begreift, dann zeigte sich während der Pandemie bei mehreren Institutionen eine Krise: Wissenschaftliche Forschung wurde durch Dr. Google relativiert, staatliche Schutzmassnahmen galten als politische Willkürherrschaft, öffentlich-rechtliche Medien als Fake-News. Und die Kirche? Sie wäre ja als Institution zur Bewältigung grosser Kontingenzerfahrungen wichtig gewesen – eigentlich. Aber sie agierte zu mutlos, zu leise und zu spät. Sie galt bald als nicht mehr „systemrelevant“. Warum soll man noch einer Kirche angehören, die nicht mehr gebraucht wird?
Sozialformkrise
Die bis heute dominante pastorale Organisationsform und Mentalität der Pfarrei sind zunehmend dysfunktional, aus pastoralen wie aus personellen Gründen. Für viele ist die Pfarrei bedeutungslos geworden. Sie wird auch in Krisen kaum noch adressiert. Dass man dennoch in der Pfarreistruktur eine starke Säule von Kirchlichkeit beobachtet, liegt vor allem daran, dass es kaum alternative Berührungspunkte zur Kirche und zu ihren Angeboten gibt.
Sozialisationskrise
Das Ende der „Nachwuchskirche“ (Michael N. Ebertz) ist längst erkannt. Insbesondere das Auslaufen der familiären Tradierung von Glauben und Kirchenmitgliedschaft ist unübersehbar. Zugleich werden riesige Ressourcen in kirchliche Tätigkeiten für Kinder, Schüler:innen und Jugendliche gelenkt. Aber dies erweist sich im Blick auf eine anhaltende Glaubens- und Kirchenbindung als wenig fruchtbar.
Beteiligungskrise
Schliesslich sei noch die Krise der Beteiligung am Leben der Kirche genannt. Auf den Einbruch der Priesterzahlen seit den späten 1960er Jahren folgte der Rückgang der sog. „Laientheolog:innen“ in den letzten Jahren. Dazu kommt eine wachsende Zurückhaltung bei freiwilligen Engagements – vor allem in strukturnahen Bereichen, wie z.B. Pfarreiräten. Heutige Kirchenstrukturen und Pastoralroutinen lassen sich nicht länger aufrechterhalten.Weitere Krisendimensionen könnten noch genannt werden: Mitgliedschafts-, Finanz-, Leitungs-, Vertrauenskrise…
Zukunft braucht Entscheidung
Die Zukunft der Kirche muss nicht als Weiterführung bisheriger Trends und Statistiken gesehen werden. Denn auch grosse Institutionen können sich verändern und an neue Gegebenheiten anpassen. Das verlangt aber eine Entscheidung, Altes loszulassen und Neues zu wagen. Dafür braucht es zudem zentrale Orientierungslinien, die Kreativität nicht eingrenzen, sondern ermöglichen.
Wenn es zu keiner Entscheidung kommt, dann dürfte sich der beschleunigte Zerfall der heutigen Kirchengestalt fortsetzen. Auf den Trümmern würden wohl vor allem überwiegend traditionell bis traditionalistisch eingestellte Katholik:innen verbleiben. In Frankreich kann man beobachten, was das bedeutet: Gemessen an einer katholischen Kirche, die insgesamt kaum noch wahrnehmbar ist, sind traditionelle und traditionalistische Gruppierungen vergleichsweise stark. Diese Gruppierungen bewegen sich nicht selten mit dem Rücken zur liberalen Mehrheitsgesellschaft und Kultur; ein „identitärer“ Katholizismus mit grosser Nähe zu rechten und rechtsextremen politischen Kräften.
Ein Vorschlag: synodale Katholizität
Für eine Entscheidung zur Veränderung und für mutige Gestaltungsperspektiven in der katholischen Kirche schlage ich als Orientierungsrahmen synodale Katholizität vor. Dieser Rahmen erscheint mir für einen aktiv gestalteten Transformationsprozess der Kirche sinnvoll.
Katholizität verstehe ich hier als vielfaltsorientiertes Selbstverständnis der katholischen Kirche, welches das Modell des Katholizismus als uniformes Modell von Kirche ablöst und den „Markenkern“ der katholischen Kirche neu konturiert. Man kann in weltkirchlicher Perspektive auch an Robert Schreiters „Neue Katholizität“ denken.
Mit „Synodal“ bezeichne ich einen spezifischen Modus der Herstellung und Aufrechterhaltung von Katholizität, nämlich das dialogische Zusammenhalten in der Vielfalt des Kirche-Seins. Katholizität wird also durch andauerndes Gespräch immer neu hergestellt, ohne auf Einheitlichkeit zu zielen. Nicht die Überwindung von Unterschieden, sondern das Aushalten der je anderen Entwürfe des Katholischen bringt Katholizität prozesshaft hervor. Das schliesst Streit und Konflikt keineswegs aus, sondern ein. Das Gespräch geht aber weiter.
Der Ansatz synodaler Katholizität sei im Blick auf die oben benannten Krisen kurz skizziert.
Relevanz
Wo sich Katholizität in echter, auch spannungsvoller, Vielfalt entfalten kann und dabei auch vermeintlich unorthodoxe Entwürfe Raum bekommen, dort werden fremde und bislang unbekannte Verständnisse vom Evangelium sichtbar und neue Aneignungen des Evangeliums durch unterschiedlichste Menschen möglich. So wird die katholische Kirche gerade in ihrer facettenreichen Bruchstückhaftigkeit anschlussfähiger an die vielfältigen Erwartungen und individualisierten religiös-spirituellen Selbstverständnisse der Menschen unserer Zeit.
Institution
Katholizität wertschätzt eine grosse Bandbreite von Zugehörigkeitsformen zur Kirche auch jenseits des im deutschsprachigen Raum bekannten Duos aus Taufe und staatskirchenrechtlich geregelter Kirchenmitgliedschaft. Somit sind vermehrte Berührungspunkte, Identifikationsspielräume und Formen der Partizipation in bzw. mit der Kirche, ihrer Botschaft oder ihren Angeboten möglich. Ihre Funktion wird dann für mehr Menschen erkennbar und erlebbar.
Sozialform
Jenseits des pfarreilich-territorialen Modells werden alternative Sozialformen ermöglicht, die vielen Menschen in und ausserhalb der Kirche bessere Begegnungs- und Beteiligungsmöglichkeiten geben. Das entlastet auch die territoriale Nahraum-Organisation der Pfarrei von ihrer permanenten Überforderung und erlaubt Modelle lokalen Kirche-Seins, ohne das „parochiale Vollprogramm“ aufrechterhalten zu müssen.
Sozialisation
Neben passenden Angeboten für Kinder und Jugendliche werden Angebote für Erwachsene aller Altersstufen initiiert, die lebenslanges Glauben-Lernen ermöglichen. Dabei tritt der klassische Stil verschulter Katechese hinter vielfältige erwachsenentaugliche Formate der Auseinandersetzung oder Erprobung von Glauben zurück. In ihnen wird Unsicherheit, Zweifel, Fehlerfreundlichkeit und Individualität nicht nur Raum gegeben, sondern diese werden als bleibende Voraussetzung für jedes Glauben-Lernen verstanden.
Beteiligung
Eine Kirche, die ihre Katholizität in Vielfalt entwickelt, hält nicht nur unterschiedliche Grade und Formen der Beteiligung aus. Sie heisst auch Menschen mit unterschiedlichsten Voraussetzungen und Lebensformen, mit einer grossen Bandbreite an Bildern von Kirche, Spiritualität und Glauben sowie mit divergenten Interpretationen des Evangeliums willkommen. Diese Offenheit gilt selbstredend auch für die beruflich in der Kirche und der Verkündigung Tätigen. Einziges Kriterium zur Beteiligung ist die Bereitschaft, sich im synodalen Vollzug der Katholizität relativieren zu lassen. Es muss ausgehalten werden, dass andere sich auf ihre je eigene Weise beteiligen.
Synodale Katholizität leiten?
Für die Kirchenleitung eröffnet synodale Katholizität einen neuen Leitungsstil. Dieser achtet in erster Linie nachdrücklich auf den Dialog der (bleibend) Unterschiedlichen als kontinuierlicher Herstellungspraxis von Katholizität. Leitung ist dabei in dem Sinne „hierarchisch“, als sie sich ganz einer Synodalität verpflichtet, die den Heiligen Geist als entscheidende synodale Stimme zur Autorität macht. Gerade diese Stimme ist aber nicht zu hören ohne synodale Gespräche und das Hören auf die Stimmen der Menschen. Ein solcher Prozess bleibt notwendig unabgeschlossen. Er verlangt zudem von allen Beteiligten eine permanente Korrektur- bzw. Umkehrbereitschaft, um das Evangelium immer besser, je anders und neu zu entdecken. Diesem „heiligen Ursprung“ der immer nur in kleinen Facetten begriffenen Zusage Gottes für die ganze Schöpfung ist eine synodal verstandene Hierarchie verpflichtet.
Kirche als Agentur des Evangeliums
Zu jeder Zeit hat die Kirche Wege für das Zeugnis des Evangeliums gefunden. Immer wieder hat sie auf diesen Wegen auch geirrt. Oft ist eine Umkehr gelungen, wenn auch oft zu spät. Die heutige Gestalt und kirchliche Praxis müssen also nicht „gerettet“ werden. Sie dürfen unter den Krisen, die sie durchläuft, vergehen. Den bisherigen Katholizismus noch möglichst lange zu erhalten wäre nicht einmal wünschenswert. Als Verständnisrahmen für die einer synodal-katholischen Kirche entsprechende Organisation bietet sich das Konzept einer Agentur des Evangeliums an. Diese Agentur gibt vielfältigsten Möglichkeiten Raum, um das Evangelium zu entdecken. Zugleich verzichtet sie auf die Definitionshoheit über das Evangelium und übergibt das Suchen und Ringen um seine Wahrheit dem synodalen Gespräch aller, die ihr Abenteuer des Evangeliums wagen.
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Arnd Bünker, Dr. theol., 1969, Leiter des SPI (Schweizerisches Pastoralsoziologisches Institut, St. Gallen).
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Beitragsbild: Vom Autor zVg.