Michel de Certeau (1925-1986) war einer der originellsten Theolog:innen des 20. Jahrhunderts. Feinschwarz.net begeht seinen hundertsten Geburtstag am 17. Mai 2025 mit einer Artikelreihe. Heute berichtet der evangelische Mystikexperte Volker Leppin von seinem Umgang mit Certeau.
Michel de Certeau ist mir spät begegnet – so wie ja überhaupt seine Rezeption in Deutschland zögerlich, im Verhältnis zum englischen und natürlich erst recht französischen Denkraum verspätet begonnen hat. Mein evangelischer Hintergrund hat den Weg zu ihm nicht eben leichter gemacht – Jesuiten werden in der deutschsprachigen evangelischen Theologie immer noch nur mit Vorsicht genossen. So war es ein Theorieseminar des Tübinger Graduiertenkollegs „Religiöses Wissen im vormodernen Europa (800-1800)“, in dem ich diesen Denker parallel zu unseren Kollegiat:innen kennenlernte. Die Erstbegegnung war dabei noch zurückhaltend, aber sie hat langanhaltende Spuren hinterlassen. Erhellend und entscheidend wurde für mich, als ich begann meine Darstellung der christlichen Mystik „Ruhen in Gott“ zu verfassen, die „Mystische Fabel“.
Womit ich nicht gerechnet hatte
Die spanische Mystik der Frühen Neuzeit stellte für mich in dem Plan für mein Buch eine der schwierigsten Hürden dar. Dass ich mich mit mittelalterlicher Mystik beschäftige und Luther mystisch deute – das weicht eigentlich schon genug von den Normen meiner Ausbildung ab. Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz hatte ich zunächst gar nicht im Blick. Sie wurden für mich erst wichtig, als ich versuchte, einen Gesamtzusammenhang zu erstellen. Ihnen widmet sich Michel de Certeau, und ich habe viel über sie, ihre Sprache und ihre Metaphern bei ihm gelernt. Das hatte ich gehofft und erwartet. Womit ich nicht gerechnet hätte, war, dass ich bei ihm einen Absatz finden würde, der mein ganzes Bemühen um Mystik, ja, um christliche Spiritualität überhaupt, in ein neues Licht setzen würde. De Certeau bietet en passant eine Grundtheorie der gesamten Geschichte christlicher Spiritualität:
„In der christlichen Tradition ruft ein uranfänglicher Mangel an Körper unaufhörlich Institutionen und Diskurse hervor, die die Wirkungen und Substitute dieser Abwesenheit sind: kirchliche Körper, doktrinelle Körper usw. Wie kann man, im Ausgang vom Wort, vom Sprechen, Körper bilden, Körper sein? Diese Frage ruft die unvergessliche Frage voll unbeschreiblicher Trauer herauf: ‚Wo bist du?‘ Diese Fragen sind es, die die Mystiker bewegen.“[1]
Die Umkehr der Frage an Adam: „Wo bist du?“ zur Frage nach Gott, ist schon in sich genial und entwirft ein neues, provozierendes Verständnis der Gottesferne, die so aus Perspektive des schuldbewussten Menschen, nicht des richtenden Gottes formuliert wird. Certeau schreibt damit das christliche Grundgefühl in die Heilsgeschichte insgesamt ein und gibt der historischen Besonderheit der Anfangsgeschichte des Christentums eine anthropologische Grundierung. Der Verlust des Körpers, der durch die Auferstehung entsteht, korrespondiert dem Verlust der Gottesferne durch den Sündenfall – das ist de Certeaus sehr eigene Art, die Entsprechung von Christus zu Adam aufzunehmen.
Gottesferne als Körperverlust
Vor allem aber wirft der Gedanke der Gottesferne als Körperverlust ein Schlaglicht auf die christliche Wirklichkeitswahrnehmung. Hier verband sich meine Certeau-Lektüre mit dem an Wolfhart Pannenberg geschulten Blick auf die elementare Bedeutung der Auferstehung für jede christliche Vorstellung von Geschichte und auch Natur. Die Erfahrung, dass das Grab leer, der Herr nicht mehr da war, kann man in der Tat mit Certeau als Antriebsmotor für die unterschiedlichen Formen eines Präsentwerdens Gottes sehen. Ich würde übertreiben, wollte ich behaupten, dass mein gesamtes Verständnis von Repräsentationsfrömmigkeit aus seinen Theorien entstanden ist – tatsächlich habe ich erste Ansätze dazu schon vor zwanzig Jahren formuliert, genau genommen 2006 in der Festschrift für Gerd Haeffner, zufällig auch er ein Jesuit. De Certeau aber hat mir die Möglichkeit gegeben, diese Überlegungen in einen weiteren theoretischen Horizont zu stellen.
Dabei sind es in meinen Augen gerade nicht die Institutionen und Diskurse, die im Vordergrund des Umgangs mit jener Körperleerstelle stehen, sondern es sind die Frömmigkeitspraktiken, auf die de Certeau ja auch hinauswill und die er reichlich in der „Mystischen Fabel“ beschreibt. In erster Linie ist es natürlich das Sakrament, das Präsenz Christi auf eine haptische und doch zugleich verborgene Weise ermöglicht. Dass die Debatte um die Präsenzweise Christi im Sakrament sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Christentums zieht und sich gerade die konfessionellen Differenzen hieran abarbeiten, unterstreicht die basale Wirkung der Wiedergewinnung des Körpers Christi in Gestalt der Hostie. Der Auferstandene begibt sich damit gewissermaßen neu in die irdische Realität hinein, und zugleich macht die Weise, wie er dies tut, seine bleibende Unverfügbarkeit deutlich. Wer de Certeaus Beobachtung folgt, darf nicht nur über die Füllung der Leerstelle nachdenken, sondern muss auch bedenken, dass jede Füllung angesichts der ursprünglichen Fülle der Gottheit nur unzureichend sein kann.
Leibliche Evidenz fehlt
Die christliche Tradition ist in der Tat voll davon, diese Differenz zugleich auszudrücken und zu überspielen. Die unterschiedlichen Weisen der Versicherung der Realpräsenz, nehme man nun das Transsubstantiationsdogma oder Martin Luthers Verweigerung jeglicher philosophischen Erklärung der Gegenwart Christi, versuchen immer aufs Neue den Zwiespalt zwischen dem offenkundig von Christus unterschiedenen Brot und dem Leib Christi selbst zu überbrücken, so wie dies architektonische Präsentationen mit den großen Sakramentshäusern des späten Mittelalters tun. Der Aussage „Das ist mein Leib“ fehlt eben die leibliche Evidenz, sie macht in sich deutlich, dass das, was als körperliche Gegenwart ausgedrückt wird, immer auch jenen von de Certeau angesprochenen Substitutscharakter besitzt, dass die Leerstelle dauerhaft erhalten bleibt, auch wenn sie momenthaft gefüllt wird. Phänomene wie die Gregorsmesse und ihre vielfachen Darstellungen im Mittelalter unterstreichen dies noch einmal augenfällig, wenn der Leib des Schmerzensmanns darstellerisch auf die Hostie bezogen ist und sich zugleich evident von dieser unterscheidet.
Neben solchen künstlerischen Abbildungen und den Architekturelementen ist aber vor allem auch die liturgische Inszenierung als Form der Vergegenwärtigung zu benennen, und hier kann man möglicherweise die Begriffswelt de Certeaus noch weiter präzisieren, der einerseits im obigen Zitat sehr allgemein wird und andererseits bei seiner Beschreibung Teresas und Johannes‘ bis in jedes kleine Detail hinein auf die Suche nach ihrem Umgang mit der Gegenwart Gottes geht. Es scheint mir hilfreich, die Modi, in denen die Präsenz Gottes wieder hergestellt wird, in zwei Grundformen einzuteilen: Repräsentation und Reenactment. Einerseits gibt es als Repräsentation die eher statische Weise der Vergegenwärtigung – eben in der Hostie, insbesondere, wenn diese nach der Weihe im Tabernakel präsent gehalten wird. Andere Gestalten dieser Art der Vergegenwärtigung sind Reliquien. In ähnlicher Weise wie die Hostie drücken sie eine Spannung zwischen Abwesenheit des Körpers und Gegenwart aus. Denn es ist der irdische, in seiner gegebenen Gestalt leblose Körper der Heiligen, der hier gegenwärtig ist, während der unvergängliche Leib schon in Herrlichkeit aufgenommen und damit entzogen ist.
Wechselspiel von Gegenwart und Entzogenheit
Hieraus kann ein Wechselspiel von Gegenwart und Entzogenheit werden, wenn Reliquien verborgen werden, wie etwa das Schweißtuch der Veronika in Rom oder auch der Heilige Rock in Trier, die beide als Berührungsreliquien besonders nahe an jenen entzogenen Körper Christi heranführen. Auf einer weiteren Reflexionsebene kann man die Bilder hinzufügen – und wird spätestens hier vor dem Hintergrund der spätantiken Debatten auch tiefer in die neuplatonische Philosophie einsteigen müssen, um die unterschiedlichen Präsenzstufen als Abschattungen des Göttlichen zu erfassen. Mit diesem philosophischen Modell wird es möglich, an dem entzogenen Körper in abgestufter Weise immer auch teilzuhaben. Der Mangel an Körper ist damit vielleicht weniger radikal als es bei de Certeau klingt, ist eher graduell. Das mag die Schärfe der Certeauschen Formulierung abfedern, ihre Erschließungskraft für ein Verständnis christlicher Frömmigkeit verliert sie nicht.
Hierzu gehört dann als zweiter Modus neben der Repräsentation eine dynamischere Weise der Vergegenwärtigung Christi im liturgischen Reenactment, das das Leiden Christi bis hin zur Elevation nachvollziehbar macht. Der eucharistische Gottesdienst erscheint dabei als herausragende Form einer Art von Nachspiel des heiligen Geschehens, aber ein solches vollzieht sich auch etwa in Heiligenleben, besonders ausgeprägt in dem des Franziskus, welches den Berichten nach in der Stigmatisierung gipfelte, die die Kreuzigung in das Hier und Jetzt zog. Der „zweite Christus“ hat dieser Legende zufolge am lebendigen Körper das Entschwinden des am Kreuz gestorbenen Körpers ausgeglichen – und doch erzählen die Viten, dass wiederum in jenem Spiel aus Sichtbarkeit und Verborgenheit die Stigmata zu seinen Lebzeiten von kaum jemandem gesehen wurden. Auch der wiedergekehrte Körper bleibt verborgen.
Grundstimmung des Christentums
Dass Mystik in besonderer und noch einmal ganz eigener Weise der Präsentmachung des Körpers dient – bis hin in die geistlich-erotische Begegnung, die sich wiederum fast paradoxal körperlich ausdrückt –, hat de Certeau an jener frühmodernen spanischen Mystik gezeigt. Es lässt sich durch die Geschichte der Mystik durchspielen. Sie wird somit durch seinen theoretischen Ansatz in den Bogen christlicher Geschichte und Heilsgeschichte eingebettet, ja: Mystik wird damit als eigentlicher, höchster Ausdruck der Grundstimmung des Christentums verständlich. Die Augen hierfür hat de Certeau geöffnet.
TEILl 3 der Reihe zum 100. Geburtstag von Michel de Certeau
[1] Michel de Certeau, Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert. Aus dem Französischen von Michael Lauble. Mit einem Nachwort von Daniel Bogner, Berlin 2010, 127f.
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