Michel de Certeau SJ (1925-1986) war einer der originellsten Theolog:innen des 20. Jahrhunderts. Feinschwarz.net begeht seinen hundertsten Geburtstag am 17. Mai 2025 mit einer Artikelreihe. Heute ein letzter Beitrag von Hildegund Keul.
Was hätte Michel de Certeau dazu gesagt, wie hätte er das eingeordnet, einer Kritik unterzogen, in seiner Mystik-Forschung zum Eckstein gemacht? Diese Frage stelle ich mir, seit ich das Buch von Céline Hoyeau „La trahison des pères“[1] las. Sie berichtet, wie nach dem 2. Vatikanischen Konzil in Frankreich ein weit verzweigtes, fein gesponnenes und mit allen Mitteln geschütztes Netzwerk der Spiritualität florierte, das zugleich gezielt als Missbrauchsnetzwerk funktionierte. Vielleicht war es sogar umgekehrt: Ein Netzwerk von Missbrauch und Vertuschungsgewalt wurde perfekt als spirituelles Netzwerk getarnt. Und im Mittelpunkt dieses Netzwerks, das insbesondere Jugendlichen und Erwachsenen, aber auch Kindern Gewalt antat, stand die Mystik wie die Spinne, die auf Beute lauert.
Zynische ‚Weisheit‘
Denn die beiden Brüder und Haupttäter Thomas und Marie-Dominique Philippe waren theologisch und spirituell stark von ihrem Onkel Thomas Dehau geprägt. Dieser damals bekannte Theologe hatte in Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Renaissance der Mystik beigetragen und wurde selbst als Mystiker verehrt. Als sein Neffe Thomas Philippe 1956 in einem kirchlichen Geheimverfahren wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt wurde, versuchte er zu erklären, dass seine Missbrauchstaten mystische Handlungen gewesen seien. Es steht zu befürchten, dass er dies selbst glaubte. Sein leiblicher Bruder Marie-Dominique Philippe propagierte die „drei Weisheiten“ Philosophie, Theologie und Mystik. Beide gaben ihre zynische „Weisheit“, wie Mystik spirituell und körperlich zu praktizieren sei, von Mann zu Mann in ihrem Netzwerk weiter.
Mystik als Werkzeug von Missbrauch
Das Wort „mystique“ kommt in „La trahison des pères“ 159-mal im Kontext von Missbrauchstaten vor. Eine irre Zahl. Natürlich lässt sich die Frage nicht beantworten, wie Certeau darauf reagiert hätte, dass Mystik so leichtfüßig als Werkzeug von spirituellem und sexuellem Missbrauch funktioniert. Aber ich habe in der Mystikforschung viel von Certeau gelernt und wäre gespannt auf seine Antwort. Allein die Erkenntnis, dass ‚die Mystik‘ eine kreative Erfindung des 16. / 17. Jahrhunderts ist, war für mich ein Aha-Erlebnis:
„Allmählich sammeln sich diese adjektivistischen Praktiken, indem sie komplexer und expliziter werden, in einem eigenen Bereich, der gegen Ende des 16. Jahrhunderts mit dem Auftreten des Substantivs ‚die Mystik‘ seine Festlegung erfährt. Die Benennung drückt den Willen aus, alle bislang verstreuten Operationen zu vereinen; sie werden nunmehr im Sinne eines modus loquendi (einer ‚Sprechweise‘) koordiniert, selektiert (was ist wirklich ‚mystisch‘?) und reguliert.“[2]
Machtfragen
Wenn jemand Meister Eckhart gesagt hätte, dass er ein Mystiker sei, so hätte er gar nicht verstanden, wovon die Rede sein soll. Auch im Werk Mechthilds von Magdeburg, die heute selbstverständlich als Mystikerin eingeordnet wird, kommt das Substantiv ‚die Mystik‘ gar nicht vor. Certeau war vielleicht der Erste, der die ganze Tragweite dieser Tatsache begriffen hat. Sein Buch „Mystische Fabel“ beschreibt die Geschichte der Mystik als Geschichte von Macht und Ohnmacht, Vulnerabilität und Vulneranz. Welche Verletzungen Jean-Joseph Surin (1600–1665) von seiner Tätigkeit als Exorzist in Loudun davontrug, die ihn bis an die Grenze der Zerstörung führte, hat Margit Eckholt bereits eindrücklich beschrieben. Schlimmer noch erging es dem Priester Urbain Grandier, den die Nonnen als Teufel angeklagt hatten. Er wurde schwer gefoltert und bei lebendigem Leib verbrannt. Die Priorin des Ursulinenklosters, Jeanne Des Anges, wurde hingegen berühmt durch ihre „Memoiren einer Besessenen“ und reiste als viel gefragte und hoch angesehene Persönlichkeit durchs Land. Eine durch und durch schräge, von Machtwirkungen aller Art durchzogene Geschichte. Dass Certeau solchen Machtfragen nicht ausweicht und der fluiden Konstituierung des Mystischen nachgeht, hat die Mystikforschung grundlegend verändert:
„An den Rändern und in den Klüften unserer Landschaft hält dieser phantastische Passant die Radikalität hoch, die notwendig ist, wenn jene Wege begangen werden sollen, die die Wissen und Sinn liefernden Institutionen fliehen oder aus dem Auge verlieren. So wird, auf tausenderlei Weisen, in denen freilich noch die ‚mystischen‘ Wendungen des alten modus loquendi zu erkennen sind, das Aussagbare unablässig von etwas Unsagbarem verletzt: Eine Stimme dringt durch den Text, ein Verlust durchkreuzt die asketische Ordnung der Produktion, eine Freude oder ein Schmerz schreit auf, der Riss eines Todes zerkratzt die Schaufenster unserer Errungenschaften.“[3]
Von Besessenheit besessen
Eine großartige Beschreibung der Mystik. Und zugleich wendet sich diese Beschreibung im Missbrauch gegen die Mystik selbst – wie in einem Möbiusband, das den Segen unmerklich in einen Fluch verwandelt. Der Jesuit Surin, dessen mystische Seite Certeau interessierte, wurde zum Opfer der Nonnen, die von ihrer Besessenheit besessen waren. Aber jetzt wird die Mystik selbst zum Werkzeug für spirituelle und sexuelle Gewalt. Damit wird das Aussagbare von etwas anderem Unsagbarem verletzt. Eine andere Stimme, die den Mystik-Korpus durchbricht, geprägt von unsäglichem Verlust, schmerzlicher Verwundung, Rissen eines Todes. Oder, wie Certeau es an anderer Stelle sagt: „Etwas anderes spricht noch“[4]. Damit ist eine neue Epoche in der Geschichte fluider Mystik erreicht. Wird der Bruch zu etwas Neuem, Gründenden führen? Certeau fehlt, denn was die neue Epoche bedeutet, hat wohl noch niemand erfasst.
Für ihre Gefahren war ich blind
Bis auf einen Punkt: Die mit der Mystik betriebene Vulneranz durchbricht die rein positive Bestimmung, die häufig in der Mystik-Literatur zu finden ist und zu der ich auch selbst beigetragen habe. Die innere Verbindung von Mystik, Erotik und Körperlichkeit hat mich begeistert. Für ihre Gefahren war ich blind. Auch dass die Mystik die Höchstform des nicht- exklusiv Christlichen sei, die sich bestens für den interreligiösen Diskurs eignet, wird fraglich. Die Sehnsucht nach dem Körper, der fehlt, gerät angesichts erotischer Übergriffigkeit und Besitzergreifung ins Zwielicht. Die frappierende Rolle der Mystik als Werkzeug des Missbrauchs offenbart die Gefährlichkeit des Spirituellen, die stets eine Öffnung verlangt und damit höchst verwundbar macht.
Verbindung von Spiritualität, Erotik und Macht
Der neuralgische Punkt der Mystik ist die innere Verbindung von Spiritualität, Erotik und Macht. Missbrauchstäter(innen) konnten einen erotischen Kick dadurch erlangen, dass sie, auratisch vom flackernden Kerzenlicht der Mystik umleuchtet, den Sex gegen den klaren Willen, aber ohne entschiedenen Widerstand ihrer Opfer durchsetzen konnten. Ihre berauschende Machterfahrung entstand im Zusammenströmen von Macht und Unterwerfung, Spiritualität und Erotik, Verbot und Überschreitung, das sich das geheimnisvoll Besondere der Mystik zunutze machte. Dass die charismatische Bewegung die sinnliche Körperlichkeit, einen zärtlichen Umgang miteinander, die kritikfreie Begeisterung und insbesondere die ‚Herzensöffnung‘ in ihrer mystagogischen Praxis zum Programm erhob, kam den Täter(inne)n im Missbrauch entgegen.
Mystik ist kein machtfreier Raum
Manche aktuelle Darstellung der Mystik scheint mir ihre Infragestellung, die faktisch durch den Missbrauch geschieht, noch nicht wahrzunehmen. Stattdessen wird sie als etwas gesehen, das endlich eine Rettungsgasse eröffnet, die aus dem ganzen Schlamassel von Missbrauch und Vertuschungsgewalt herausführt. Als würde man mit der Mystik in einen Raum eintreten, der von all dem unberührt bleibt und wo wir das Ganze hinter uns lassen könnten. Aber das Gegenteil ist der Fall. Mystik ist kein machtfreier Raum, im Gegenteil. Und das lässt sich bei Certeau bereits lernen.
Prof. Dr. Hildegund Keul, Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft, Universität Würzburg, leitet seit 2017 das DFG-Projekt „Verwundbarkeiten. Eine Heterologie der Inkarnation im Vulnerabilitätsdiskurs“.
Foto: © Hildegund Keul
TEIL 1 der Reihe zum 100. Geburtstag von Michel de Certeau
[1] 2021, dt. Hoyeau: Der Verrat der Seelenführer, 2023.
[2] Certeau: Mystische Fabel, 120.
[3] Certeau: Mystische Fabel, 123.
[4] „‘Quelque chose’ d’autre parle encore“, (L’Invention du Quotidien I, 230) gehört zu Certeaus Interpretation von Robinson Crusoe und wird ins Deutsche übersetzt: „‘Irgendetwas‘ anderes spricht immer noch“ (Certeau: Kunst des Handelns, 1988, 283).
Literaturhinweise:
Michel de Certeau: Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert. Aus dem Französischen von Michael Lauble. Mit einem Nachwort von Daniel Bogner. Berlin: Suhrkamp 2010.
Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Aus dem Französischen von Ronald Voullié (Internationaler Merve-Diskurs 140). Berlin: Merve 1988.
Michel de Certeau: Lʼinvention du quotidien. 1. Arts de faire. Nouvelle éd (Folio Essais 146). Paris: Gallimard 1990.
Céline Hoyeau: Der Verrat der Seelenführer. Macht und Missbrauch in Neuen Geistlichen Gemeinschaften. Aus dem Französischen übersetzt von Gabriele Nolte. Hg. von Hildegund Keul. Mit einem Nachwort von Johanna Beck. Freiburg: Herder, 2. Aufl. 2023.
Beitragsbild: Jésuites EOF