Wenn sich die „Normalen“ erbarmen und die „Schwächsten“ doch nicht dankbar sind. Von Lena Müller.
Die Aktivistin und Autorin Nina Tame erzählt auf ihrem Instagramaccount @nina_tame, dass sie bewusst die Griffe an ihrem Rollstuhl abmontiert hat, damit sie nieman*d ungefragt schiebt. „Mein Rollstuhl ist die Erweiterung meines Körpers und nur Menschen die ich wirklich mag, dürfen ihn anfassen.“[1] Tatsächlich hält die Demontage der Griffe die Leute davon aber nicht so davon ab, wie sie es sich erhofft habe, die Leute schieben sie nun an der Rückenlehne an. Wenn Nina Tame entgegnet, dass sie nicht geschoben werden möchte oder dass sie keine Hilfe benötige, reagieren die Leute ungehalten, teils sogar aggressiv. Warum kann Tame nicht einfach dankbar sein?!
Wenn Tame sagt, dass sie keine Hilfe benötige, reagieren die Leute ungehalten, teils sogar aggressiv.
In der Rassismuskritik wird vom „white savior complex“ gesprochen. Weiße Menschen aus dem globalen Norden fühlen sich berufen, die armen, armen Menschen aus dem globalen Süden zu retten. Sie allein können das Problem lösen! Sie allein wissen, was „das Problem“ ist. Sie haben die Deutungs- und Entscheidungshoheit und erwarten Dankbarkeit.
Der Begriff stammt von dem nigerianisch-amerikanischen Schriftsteller Teju Cole. Cole schreibt: „Die Welt existiert, um die Bedürfnisse – und wichtig: auch die emotionalen/rührseligen Bedürfnisse – weißer Menschen zu befriedigen.“[2]
Ich bin weiß und – wie wohl wir alle – rassistisch sozialisiert. Auch ich bin nicht frei vom white savior complex, habe lange nicht die Problematiken hinter Freiwilligendiensten, Spendensammlungen etc. (häufig beworben mit Bildern abgemagerter Schwarzer Kinder) gesehen – und gerade in Kirche sind wir dafür besonders anfällig. Wir wollen schließlich die Guten sein, wir wollen helfen, wollen retten.
Gerade in Kirche sind wir dafür besonders anfällig, retten zu wollen.
Ich bin aber nicht nur weiß, ich bin auch chronisch krank und behindert. Zumindest Letzteres war ich nicht schon immer und so muss ich mich an mein Leben mit Behinderung gewöhnen. Damit meine ich nicht nur meine gesundheitlichen Einschränkungen, sondern auch daran, wie mit mir und anderen Menschen mit Behinderung umgegangen wird. Bei mir löst das häufig Irritationen und Störgefühle aus und ich versuche, dafür eine Sprache zu finden. In Anlehnung an Coles Begriff und Beobachtungen möchte hier vom able savior complex sprechen.
„To be able“ bedeutet so viel wie „fähig sein“. Davon leitet sich auch das englische Wort für Behinderung, „disability“, ab. Menschen mit Behinderung sind „disabled“, Menschen ohne Behinderung werden oft als „able-bodied“ bezeichnet. Ich finde das ein bisschen schwierig, da es nicht nur körperliche, sondern auch kognitive und psychische Behinderungen gibt. Daher spreche ich lieber einfach nur von „able“ und tue das mit einer gewissen Ironie, denn keine Behinderung zu haben macht Menschen noch lange nicht fähig. Und damit sind wir mitten im Thema.
Keine Behinderung zu haben, macht Menschen noch lange nicht fähig.
Able saviors wissen Bescheid. [Ironie[3]] Sie wissen, was für mich gut ist, was ich kann und was ich nicht kann. Sie erklären mir, wieviel ich arbeiten sollte, wie lange ich mich krankmelden sollte, welche Medikamente und Behandlungen ich ausprobieren sollte – und wir reden hier nicht von medizinischem Personal, sondern von Frisören, Fitnesstrainerinnen und natürlich Pfarrer_innen.
Able saviors helfen gerne, aber sie fragen die Betroffenen nicht, was hilfreich wäre, denn – wie gesagt: Able saviors wissen Bescheid. Ihre „Hilfe“ reicht vom „Dir habe ich Obst mitgebracht – du solltest keine Schokolade essen“ über das ungefragte Rollstuhlschieben, wie es Nina Tame beschreibt, bis hin zur beruflichen Bevormundung: „Das ist besser für Ihre Gesundheit.“
Able saviors wissen Bescheid.
Die Studentin, Inklusionsaktivistin und Autorin Julia Schönbeck schreibt dazu in ihrem neuen Buch „Nicht ohne uns“: „Nächstenliebe, das klingt eigentlich nach etwas Gutem. Aber ich hörte es immer wieder im Kontext von Inklusion und häufig verband sich damit die Idee, dass Inklusion kein Menschenrecht ist, das ich einfordern kann, sondern eine besonders nette Geste, für die ich dankbar sein soll. […] Die guten Christ*innen, die barmherzigen Samariter, auf der einen Seite und auf der anderen wir: Menschen mit Behinderung als Hilfsbedürftige, Schwache.“[4]
Wir, die Schwachen.
Ein Kirchenkreis berichtet über Konfiarbeit mit Jugendlichen mit Behinderung. An und für sich ein sehr unterstützenswertes Anliegen, wurde doch jahrzehntelang vielen Jugendlichen aufgrund ihrer Behinderung eine Konfirmation vorenthalten. Es ist wichtig, dass über die Möglichkeiten für sie aufgeklärt wird. Die Veröffentlichenden entschieden sich jedoch, folgendes Zitat als Überschrift zu wählen: „Gerade die Schwächsten müssen doch gesegnet werden“. Aha. Wie gut, dass die able saviors schon unterwegs sind! [Ironie] Ich finde diese Überschrift ist ein gutes Beispiel, aus welcher Haltung heraus Arbeit mit – oder hier eher: für – Menschen mit Behinderung in Kirche erfolgt.
„Ich habe kaum Muskeln“, schreibt die Studentin und Bloggerin Rosalie bei einer digitalen Fortbildung über inklusive Jugendarbeit in den Chat, „aber ich bin nicht schwach“. Rosalie hat spinale Muskelatrophie, deshalb schreibt sie ihre Antworten auch in den Chat, weil Sprechen anstrengend ist. Wer Rosalie auch nur einmal erlebt hat, weiß, dass sie vollkommen recht hat: Rosalie hat eine Behinderung, ja, aber sie ist definitiv nicht schwach. Leider sind bei der Fortbildung wohl nicht die Menschen anwesend, die sich Rosalies Worte hinter die Ohren schreiben [Redewendung] sollten.
Wir sind Individuen mit Stärken und Schwächen wie Menschen ohne Behinderung eben auch.
Menschen mit Behinderung sind keine homogene Masse. Wir sind Individuen mit Stärken und Schwächen wie Menschen ohne Behinderung eben auch. Aber diese Individualität wird uns als marginalisierter Gruppe oft nicht zugestanden. „Individualität als Privileg“[5], wie Kübra Gümüşay schreibt. Für den able savior sind wir Menschen mit Behinderung ein schwacher Einheitsbrei, dem er sich erbarmt, wenn und wie er gerade Lust darauf hat. Und dafür erwartet der able savior Dankbarkeit.
Ich habe aber keine Lust mehr auf Dankbarkeit. Das heißt, ich bin gerne dankbar für meine Freund_innen, für Törtchen und niedliche Hundebegegnungen. Aber ich will nicht ständig dankbar sein müssen, erst recht nicht für solch grundlegende Dinge wie einen Job zu haben, mich krankmelden zu können, medizinische Versorgung zu erhalten, obwohl ich doch so defizitär bin. [Sarkasmus]
Ich habe aber keine Lust mehr auf Dankbarkeit für grundlegende Dinge.
Als ich darum bat, im Rahmen meiner Wiedereingliederung erst einmal „nur“ 5 statt 6 Tagen die Woche zu arbeiten, erwiderte die Verwaltungsmitarbeiterin, dass das nicht möglich sei. Als ich darauf hinwies, dass das aber so mit meinem Arzt abgesprochen und von ihm angeordnet sei, entgegnete die Mitarbeiterin, dass ich lieber dankbar sein solle, dass ich während meiner Wiedereingliederung bezahlt werde. Kleiner Hinweis: Auch Menschen mit Behinderung können sich nicht von Luft und Liebe [Redewendung] ernähren oder ihre Miete bezahlen.
Und dabei bin ich für eine behinderte Person ja noch einigermaßen privilegiert, von anderen Menschen mit Behinderung wird beispielsweise Dankbarkeit dafür erwartet, dass sie eine Toilette nutzen, eine Schule besuchen, dass sie wählen gehen können.
Es wird Dankbarkeit dafür erwartet, dass sie eine Toilette nutzen können, eine Schule besuchen oder wählen gehen.
Teilhabe ist ein Menschenrecht. Und das ist, was wir wollen: Echte Teilhabe, kein Erbarmen, kein „Gerettetwerden“. Wir wollen einfach unser Leben leben, auf Augenhöhe [Redewendung] behandelt werden, auch wenn unsere tatsächliche Augenhöhe manchmal etwas niedriger sein mag.
Nina Tame hat sich mittlerweile ein Band aus spitzen Nieten für die Rückseite ihres Rollstuhls gebaut. Für mich ist es ein starkes Zeichen. Ein Zeichen dafür, dass Menschen mit Behinderung keine schwachen, hilfsbedürftigen Wesen sind, sondern selbstbestimmte Individuen – in Tames Fall z.B. mit exzentrischem Modegeschmack und einem buchstäblich spitzen Humor. Aber auch dafür, wie weit Menschen mit Behinderung gehen müssen, um sich vor able saviors zu schützen.
Echte Teilhabe, kein Erbarmen, kein „Gerettetwerden“.
Lena Müller (*1991) ist Pfarrerin für die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Konfirmand_innen in der Landeskirche EKBO. Davor war sie Gemeindepfarrerin in Berlin-Neukölln. Sie ist studierte Mathematikerin und Religionspädagogin. Auf Instagram bloggt sie als metablabla über ihr Leben als feministische Pfarrerin und setzt sich aktivistisch für die Rechte von Menschen mit Behinderung und chronischen Krankheiten sowie anderer marginalisierter Gruppen ein.
Bildquelle: halfpoint über Canva Teams
[1] Tame, Nina (2024): Why I have spikes on the back of my chair. URL: https://www.instagram.com/reel/C8Z0fU8Mgf0/?igsh=MWIzbXA1dXVzeGZqZA== (abgerufen am 31.05.2025). Übersetzt durch die Verfasserin.
[2] Cole, Teju (2012): The White Savior Industrial Complex. URL: https://www.theatlantic.com/international/archive/2012/03/the-white-savior-industrial-complex/254843/ (abgerufen am 31.05.2025). Übersetzt durch die Verfasserin.
[3] Für viele Menschen mit Neurodivergenzen sind Ironie und Sarkasmus schwer zu bemerken oder Redewendungen werden von ihnen wörtlich verstanden. Daher werden sie in diesem Beitrag gekennzeichnet. Beispielsweise ist hier und im folgenden Satz eigentlich „sie meinen, zu wissen“ gemeint.
[4] Schönbeck, Julia (2025): Nicht ohne uns. S. 98.
[5] Gümüşay, Kübra (2020): Sprache und Sein. S. 63.