Welche Theologie hat in postsäkularen Zeiten Zukunft, wenn überhaupt noch? Wie muss sie beschaffen sein, wen muss sie adressieren, wer sind ihre Subjekte? Die folgenden Überlegungen von Bernhard Grümme visieren eine öffentlich-politische Theologie an, die sich von anderen zu denken und zu handeln geben lässt und gerade so – vielleicht – wissenschaftlich satisfaktionsfähig ist.
In Münster gibt es einen veritablen Aufreger. „GehorcheKeinem“, dieser 2009 am Außengebäude der dortigen Universitätsbibliothek angebrachte Wahlspruch von Wissenschaft, sorgt noch immer für Irritation. Manche Gottesfürchtigen in der Bischofsstadt halten diesen für ein Sakrileg, andere deuten dies in der Beamtenstadt Münster als Aufruf zur Anarchie. Das Bemerkenswerte daran ist allerdings, dass gleichsam in einer paradoxen Intervention zum kritischen Denken in einem Aufruf zum Gehorsam motiviert werden sollte. Das sapere aude der Aufklärung in der Tradition Kants wird hier zur immer auch konfliktgeladenen öffentlichen Losung der Wissenschaft.
Wenn Wissenschaftler:innen wie Melanie Brinkmann und Christian Drosten durch die kontroverse Diskussion mit anderen Wissenschaftlern zugleich einen instruktiven Einblick in den diskursiven wie agonalen Charakter von Wissenschaft öffentlichkeitswirksam werden ließen,[1] geschah dies doch oft zur Überraschung vor allem derjenigen, die meinten, gegen fake news und Verschwörungstheorien in einer Art Wissenschaftskitsch, so die Formulierung Armin Nassehis, unmittelbar auf Wissenschaften zurückgreifen zu können.[2] Erst kürzlich hat der langjährige Vorsitzende des Wissenschaftsrats Peter Strohschneider in Bezug auf den beanspruchten Rang der Wissenschaften in der Öffentlichkeit, aber auch bei science for future vor den Gefahren eines „autoritären Szientismus“ in Wissenschaft und Politik gewarnt.[3]
Legitimationsverlust der Theologie und ihrer Institutionen
Ein solcher autoritärer Szientismus oder irgendwie gearteter Vormachtanspruch ist nun nicht gerade der Selbstpositionierungsanspruch der Theologien an Universitäten. Die wechselseitige Dynamisierung der Säkularisierung, Pluralisierung, Ökonomisierung und Naturalisierung einerseits und der massiven Krise der Kirche andererseits haben vielmehr zu einem erheblichen Legitimationsverlust der Theologie und ihrer Institutionen und damit zu einem dramatischen Einbruch an Studierendenzahlen, an wissenschaftlichem Nachwuchs und an Ressourcen geführt. Von Schließungen, Zusammenlegungen und Kooperationen ist die Rede. Wie soll Theologie legitime Gesprächspartnerin sein, wenn Sie sich als Wissenschaft in einer Institution verortet, die durch ihre vordemokratischen Strukturen undurchschauter Macht, geschlechtsbezogener Benachteiligungen, durch Klerikalisierungen und amtstheologischen Selbstüberhöhungen, vor allem aber durch die strukturell und ideologisch verankerten Missbrauchspraktiken in weiten Teilen der Gesellschaft, der Politik und eben der Wissenschaft aufgrund problematischer Implikationen im Feld der Wissenschaftsfreiheit jegliche Glaubwürdigkeit verloren hat? Es bleibt den Rektoraten, den Landesrechnungshöfen und den Kolleg:innen eine strukturelle Asymmetrie zwischen den immer noch vergleichsweise gut ausgestatteten theologischen Fakultäten und den anderen Fakultäten bei vergleichsweise katastrophalen Auslastungszahlen nicht verborgen. Einerseits sind Theolog:innen in vielfältigen interdisziplinären und transdisziplinären Organisationsformen an der Universität gerade wegen ihrer theologischen, also erstpersönlichen Perspektive auf Sinn-, Glaubens- und Orientierungsfragen geschätzt, sei es in Graduiertenkollegs, Sonderforschungsbereichen, Forschungsgruppen oder Ethikkommissionen. Andererseits geben doch gerade die nihil-obstat-Verfahren Anlass dazu, der Theologie zu unterstellen, dass sie am Ende, wenn es ernst wird, doch auf das Lehramt, also auf eine wissenschaftsfremde Institution hören muss und Lehrende in einer katholischen Cancel-Culture mit einer Art Selbstbeschränkung, einer Schere im Kopf sieht.
Es braucht eine Theologie, die den engen Rahmen des Kirchlichen öffnet
Theologie kann dabei freilich nicht ohne Glaubwürdigkeitsverlust und performativen Widerspruch auf die erstpersönliche Perspektive und erfahrungsbasierte Positionalität als Glaubenswissenschaft (Max Seckler) verzichten, die sie ja von Religionswissenschaft und Religionsphilosophie unterscheidet und die eben die Bedingung der Möglichkeit und Grund zugleich ihrer Kirchenbindung ist. Vorschnell auf so etwas wie eine Theologie out of church zu setzen, wäre wohlfeil wie unklug, weil sie auch das in der Kirchenbindung liegende Potential der Theologie unterschätzte.
Meine These lautet: Es braucht eine Theologie, die den engen Rahmen des Kirchlichen öffnet, die sich dezidiert in der Logik von Gaudium et Spes 4 kontextuell verortet, die sich analytisch scharf, dialogisch lernbereit, ökumenisch ausgerichtet, auskunftsfähig, verständlich und vernünftig ausweisbar zeigt, die im Feld der Religionen, der Wissenschaften, in Gesellschaft, Ökonomie und Politik aufklärend und mit ihrem spezifischen Wahrheits- und Geltungsanspruch kritisch-produktiv agieren kann und dies auch institutionell etwa in der Suche nach neuen Lehrorten, neuen Forschungsorten und neuen Studiengängen institutionalisiert und praktisch werden lässt. Kurzum es braucht eine Theologie, die öffentlich-politisch sein muss.
Um diese These näher zu erläutern und zu begründen, bieten sich drei Schritte an: Erstens soll der angedeutete Public turn auf eine Typologie zugeführt werden, vor deren Hintergrund dann Theologie zweitens als Öffentliche Politische Theologie profiliert und schließlich drittens auf wissenschaftspolitische Konsequenzen hin akzentuiert wird.
-
Public turn der Wissenschaften. Eine tentative Typologie
Gegenwärtig ist ein Drang der Wissenschaft zur Öffentlichkeit und der Öffentlichkeit zur Wissenschaft, ein public turn also, etwa in der Soziologie oder den Erziehungswissenschaften offensichtlich. Dabei lassen sich bei aller Vorsicht holzschnittartig drei Typen herausdestillieren:
Typ 1: Normativ enthaltsame Wissenschaftsanalytik
Was Niklas Luhmann einmal zur Rechtssoziologie geäußert hat, kann als charakteristisch für diesen Typ gelten: „Die Rechtssoziologie nützt – sich selbst […]. Ein Nutzen für die Rechtspraxis ist von Soziologie nicht zu erwarten“.[4] Wissenschaft findet damit in der Unterscheidung von wahr/unwahr ihren Bezugspunkt wissenschaftsimmanent. Sie ist selbstreferentiell, wie auf dieser Linie auch Nassehi und Strohschneider ausarbeiten. Vor dem Hintergrund der Ausdifferenzierung verschiedener Teilsysteme ist Wissenschaft ein bestimmtes System, das in einer Abgrenzung von Innen und Außen sich zwar mit enormen Erwartungen an wissenschaftlicher Expertise seitens der Gesellschaft, der Wirtschaft und vor allem der Politik konfrontiert sieht. Doch ist es ihr aufgrund ihrer inneren Pluralität, aber vor allem wegen eben dieser systemischen Ausdifferenzierungslogik verwehrt, beispielsweise in der Klimafrage Lösungen anzubieten, die auf die Gesellschaft im Ganzen durchgreifen würden. Am Ende, so Nassehi, muss politisch oder wirtschaftlich nach der jeweiligen Systemlogik entschieden werden. Was bleibt ist „Reflexion ihres Grenzregimes“, mit der Wissenschaft das Verhältnis zu sich selbst und zum Rest der Gesellschaft unterscheiden und konstruktiv bearbeiten muss. Statt Weltverbesserung im Rahmen normativer Wahrheitsansprüche, so Nassehi in plakativer Zuspitzung, gilt es ein Einüben in „Perspektivendifferenz“ durch Übersetzung zu kultivieren.[5] Die Frage hierbei ist freilich, ob mit der Betonung einer Wissenschaft „für sich“ nicht der gesellschaftliche und normative Aspekt der Wissenschaft im Allgemeinen wie der Theologie im Besonderen mit ihrer Referenz auf den Wahrheitsanspruch des Glaubens unterschätzt wird.
Typ 2: Normativ überambitionierte Wissenschaftssoteriologie
Demgegenüber bezieht der 2. Typ eine diametral gegensätzliche Position. Ich nenne sie die einer normativ überambitionierten Wissenschaftssoteriologie, weil der Wissenschaft tatsächlich erlösende, rettende Bedeutung zugesprochen wird. Sie versteht sich als engagierte Wissenschaft, und zwar im Sinne einer Gesellschaftsveränderung, die die Welt zu einem besseren Ort machen will, obschon sie um die Gefahr der Instrumentalisierungen weiß. Daraus ergibt sich eine Dialektik zwischen Desengagement und Engagement, die mit einer moralischen Aufladung von wissenschaftlicher Verantwortung einhergeht. Wissenschaft hat reflexive Distanz zu wahren, um sich ein Urteil zu bilden, hat sich aber dort einzuschalten, wo, wie es heisst, „das Überleben auf dem Spiel steht“. Daraus resultiert die Forderung nach einer aktivierenden wie aktivistischen Philosophie, die selber in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen praktisch wird, und die im Kontext der Klimafrage sich als „rettende Umweltphilosophie“ artikuliert.[6] Wissenschaftskommunikation wird hier zur aktivistischen Performanz, die selber aktivierender Teil gesellschaftlicher Transformationsprozesse wird, freilich um den Preis, Wissenschaft mit einem enormen normativen Handlungsdruck und moralischen Impetus aufzuladen, der weit über den von Max Weber beschriebenen Rahmen der Verantwortungsethik hinausreicht. Doch ist eine gesinnungsethische Modellierung ein modernitätsfähiger Ausgangspunkt für Wissenschaft in den diversen Öffentlichkeiten?
Typ 3: Normativ-kritische Wissenschaftsordnung
Der dritte Typ, den ich den Typ der normativ-kritischen Wissenschaftsordnung nenne, greift den transformatorischen Impetus von Typ 2 auf, aber jenseits moralisierender Übernormativierungen, bietet aber im Unterschied zugleich einen normativen Rahmen, in dem sich Wissenschaftskommunikation bewegt. Normative Ordnungen sind, in Anlehnung an Rainer Forst und Klaus Günther formuliert, Rechtfertigungsordnungen, die normativ in den diskursiven deliberativen Prozessen der Freien und Gleichen fundiert sind.[7] Sie profilieren eine am Maßstab der Universalisierbarkeit und Verallgemeinerungsfähigkeit ausgerichtete intersubjektive Praxis der Kritik und Legitimation im Zusammenspiel von Normativität und Macht. Situiert in gesellschaftlichen Kämpfen um Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit für alle sind Wissenschaften eingetragen in normativ bestimmte emanzipatorische Prozesse. Fraglich ist nur, ob die universalistische Begründungslogik theologisch überzeugen kann oder nicht doch durch eine alteritätstheoretisch gedachte Optionalität für die Anderen verschärft werden sollte.[8]
-
Theologie in einer normativen Ordnung
Gerade wenn sich nun Theologie mit Norbert Mette im Horizont einer Hermeneutik der Kommunikation des Evangeliums in einer konstitutiven Theorie-Praxis-Dialektik verortet, könnte sie sich in diese Debatten mit ihrer normativen Orientierung kritisch wie produktiv einbringen. Normen sind in diesem Zusammenhang nicht als weltfremde, transzendentallogisch generierte Vorgaben oder heteronome Sollensvorschriften verstanden, sondern mit Christoph Möllers als „positiv markierte Möglichkeiten“ einer anderen Weltbeschaffenheit, wodurch man sich vom faktisch Gegebenen distanziert. Diese sind so Teil einer „Weltbeurteilung, deren Maßstab sich nicht auf die Welt, wie sie ist, beschränkt“.[9] Nimmt man das ernst, dann greift dies deutlich über den Typ 1 einer normativen Enthaltsamkeit der Wissenschaftskommunikation hinaus, bleibt aber weit unter dem moralisierend-aktivistischen Überschwang von Typ 2. Es verwickelt die Theologie im Muster von Typ 3 in einen gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Diskurs, in den sie sich kommunikativ, kritisch wie weiterführend einschaltet. Theologie muss sich auf der Linie von 1 Petr 3, 15 rational ausweisbar, kommunikationsfähig, widerständig-kritisch, freimütig, kontextuell verortet, selbstreflexiv und vor allem aus einem Perspektivenwechsel im Blick auf die Anderen als Diskurspartner:innen vollziehen, wie auch Saskia Wendel in ihrer Tübinger Antrittsvorlesung 2024 markiert.[10] Offensichtlich verlangt dies der Theologie ihrerseits eine erhebliche selbsttransformatorische Energie ab.
Theologie überzeugt nur dann, wenn sie diese Binnensemantiken überschreitet.
Bereits 2010 hatte der Wissenschaftsrat der Theologie weiterhin eine große Bedeutung an der öffentlichen Universität attestiert, vor allem wenn es um interdisziplinär und transdisziplinär ausgerichtete Legitimation und vor allem um die aufgeklärte Bearbeitung religiöser Traditionen gegen naturalisierten Positivismus und religiösen Fundamentalismus auch in der eigenen Religion und Konfession geht. Die Deutsche Bischofskonferenz hat darüber hinaus 2024 ein differenziertes Votum für die Theologie an öffentlichen wie privaten Universitäten abgegeben, das in ihrer überzeugenden Positionierung für eine als kulturelles Laboratorium begriffene Theologie durchaus im Hinblick auf die nihil-obstat-Verfahren selbstkritische Töne zeigt. Doch während das Votum des Wissenschaftsrats gelegentlich vorschnell von der Theologie in selbstapologetischer Absicht gedeutet wurde, bleibt das aktuelle Votum vor allem wegen seiner kirchenpolitischen Akzentuierung im Streit zwischen kirchlichen und staatlichen Hochschulen hauptsächlich einem Binnendiskurs und einer Binnensemantik verhaftet. Es fehlt eine konzeptionelle Verortung und Begründungsleistung, die das Niveau des normativ-diskursiven Modells in hermeneutischer, begründungslogischer, kritischer wie selbstreflexiver Ausrichtung nicht unterbietet.[11] Theologie überzeugt nur dann, wenn sie diese Binnensemantiken überschreitet und sich in einen Horizont wie eben dem von Typ 3 diskursiv wie kritisch einschreibt, in dem sie in den Diskurs mit anderen Wissenschaften treten kann, wobei sie aus ihrer Optionalität für die Exkludierten und die Anderen auch dieses Modell kritisch anfragt.
Wollte man die geltungstheoretischen, kontextuellen, emanzipatorischen wie machttheoretisch-normativen Dynamiken des Typ 3 ernstnehmen, dann würde dies von der Theologie verlangen, die Wahrheitsfrage, die Strukturfrage und damit auch die Politikfrage zu stellen, die auch die politisch-strukturellen Bedingungs- und Modellierungsgefüge der theologischen Positionierung selber reflektiert. Damit wäre freilich der kirchliche, politische wie der angesichts der Krise der Demokratie derzeit hoch brisante demokratietheoretische Rahmen selber dauernder Reflexion und Kritik ausgesetzt, an dem sie sich abarbeiten muss.
Mystik und Politik bedingen einander und bleiben doch in kritischer Selbstständigkeit aufeinander verwiesen.
Ich kann hier in diesem begrenzten Zeitrahmen nicht aufzeigen, inwieweit eine Öffentlich-politische Theologie eine besondere Leistungsfähigkeit besitzen könnte. Der entscheidende Ansatzpunkt der Öffentlichen Politischen Theologie ist der, dass sie sich mitten in dem gegenwärtigen Ringen um Demokratie und um demokratische Lebensformen in den Transformationsprozessen der Spätmoderne verortet, ohne darin aufzugehen. Mystik und Politik bedingen einander und bleiben doch in kritischer Selbstständigkeit aufeinander verwiesen. In einem kritisch-dynamischen wie transformatorischen Sinne werden das Ringen um Demokratie und um demokratische Lebensformen zum Ort der Theologie, wobei die biblische Option für die Armen, die Exkludierten, die Anderen den Lebensformendiskurs transformatorisch-kritisch bestimmt.[12] Sie kann in ihrer konstitutiven Ideologiekritik auf blinde Flecke und hegemoniale Tiefenstrukturen in den diversen Diskursen in Kirche, Wissenschaft und Gesellschaft kritisch aufmerksam machen und neue Perspektiven einer Humanisierung der Demokratie als einer Gestaltung des Gemeinwesens der Freien und Gleichen „von der biblisch-jesuanischen Tradition her“ generieren, wie Jon Sobrino formuliert.[13] Damit wäre aber zugleich auch eine kritisch-selbstreflexive Prüfung der eigenen Selbstkonstitution erforderlich, inwieweit sie sich als Theologie vor politischen Instrumentalisierungen, vor Verengungen aufs Ethisch-Politische wie vor einem performativen Widerspruch schützen kann, durch Essentialisierung und othering ungewollt zu Stigmatisierungen beizutragen.[14] Auf diesen Wegen kann die Optionalität der Theologie im Einsatz für die Armen und Ausgeschlossenen, für die kirchlich Marginalisierten genauso praktisch werden wie in der wissenschaftspolitischen Intervention gegen Positivismus und Fake news, für Klimagerechtigkeit und gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit.[15] Genau dies ist dann die Stelle, und das ist entscheidend für das konzeptionelle Spezifikum der Theologie, wo sich die eingangs erwähnte Losung „GehorcheKeinem“ der Aufklärung in das gehorsame Hören auf die Autorität der Leidenden übersetzt, wie sich im Anschluss an Johann Baptist Metz formulieren ließe. Theologie gibt nicht nur zu denken, sondern lässt sich auch durch Erfahrung zu denken und im Dienst an den Anderen zu handeln geben.
-
Theologie als Disruptiver Stachel? Wissenschaftspolitische Konsequenzen
Was folgt aus diesen hier nur grob skizzierten Grundlinien? Ich sehe drei Ebenen,[16] die hier nur genannt werden können:
Auf makrologischer-systemischer Ebene hätte Theologie sich in die akademischen, kirchlichen gesellschaftlichen und digitalen Öffentlichkeiten in je unterschiedlicher Methodik und Didaktik im Modus von Übersetzung diskursiv wie im Blick auf ihre eigenen Gefahren einer epistemischen Gewalt (Miranda Fricker) selbstreflexiv einzubringen, eben in kritischer Weise ausgerichtet an den normativ-universalen Prinzipien der skizzierten normativen Ordnung. Es gibt leuchtende Beispiele für ein kritisch-konstruktives Engagement über kirchliche Binnendiskurse hinaus, etwa wenn Theolog:innen in öffentlichen Diskussionen öffentliche Orte wie Museen, Konzerthallen, Industrieobjekte, Fitnessstudios aufsuchen und dabei den Kreis der je schon Interessierten und der mit hohen kulturellem Kapital Begüterten erweitern, wenn sie in YouTube-Formaten (wie Jung&naiv oder Podcasts wie „In aller Ruhe“) präsent sind oder auch wenn Fakultäten bei Instagram, Facebook, TikTok sind, obschon hierbei die Relevanz von ideologiekritischer Selbstreflexion besonders stark auf der Hand liegt.
Auf mesologischer Ebene stellt sich die oft dilemmatische Frage nach der institutionellen Verankerung der Theologie. Ich sehe hier primär zwei Problemkreise.
Im Feld der universitären Verortung wäre die jüngst geäußerte Kritik an der Lokalisierung der Theologie in „katholischen Wohlfühlinseln und -institutionen“, gerade gegenüber durchschaubaren kirchenpolitischen Initiativen sehr ernst zu nehmen,[17] ohne dabei die konstruktive Kraft einzelner Privater Universitäten zu unterschätzen. Nimmt man wiederum Typ 3 einer normativ-kritischen Ordnung als Maßstab, dann wären reflexive Kontextualisierung sowie strikt interdisziplinäre und transdisziplinäre Einbindung das entscheidende Kriterium der Beurteilung. Institutionelle wie projektförmige Vernetzungen zwischen verschiedenen Standorten mit jeweiliger Schwerpunktsetzung sind hier fruchtbar, beispielsweise auch in Interdisziplinären Studiengängen oder auch Graduiertenkollegs. Wäre es nicht hilfreich, beispielsweise in diesem Muster eine Theologie im Ruhrgebiet angesichts der besonderen Transformationsbedingungen dort zu institutionalisieren?
Im Feld der institutionellen Formatierung zeigt sich ein weiteres Dilemma: einerseits ist nach wie vor der Magister Theologie der Maßstab theologiepolitischer Positionierung, der andererseits kaum noch Studierende hat. Sollte man den Magister wegen mangelnder Studierbarkeit auflösen, gewönne man Potential für die Entwicklung neuer Studiengänge, verlöre aber die Ressourcen, die genau dafür nötig sind. Diese Ressourcen nun durch Einbindung in Departmentstrukturen zu vergrößern, hieße zwar einen erheblichen Gewinn an innovativer interdisziplinärer Kooperation in inhaltlicher wie formaler Hinsicht. Dies würde aber um den Preis eines möglichen Profilverlustes geschehen, wie er etwa in den Niederlanden oder in den USA zu besichtigen ist. Gerade die produktive Spannung zwischen einer Innen- und einer Außenperspektive auf Religion und die damit verbundenen Distinktionsgewinne sollten nicht vorzeitig aus der Hand gegeben werden. Gerade die theologisch angezielte reflektierte Positionalität gilt es diskursiv insbesondere in der akademischen Öffentlichkeit der Universität einzuspielen.
Auf mikrologischer Ebene der Gestaltung des Theologiestudiums ergeben sich Perspektiven, die gerade durch die oben angedeutete alteritätstheoretische Grundstruktur der Öffentlichen Politischen Theologie begünstigt würden. Derzeit findet sich eine höchst fruchtbare Debatte innerhalb der Pastoraltheologie, die um genau die Frage des Umgangs mit den Anderen ringt, mit jenen Anderen, die eben ohne jeglichen Bezug auf Religion ihren Lebenssinn finden. In der Religionspädagogik gibt es Ähnliches im Umgang mit den nicht-konfessionell Gebundenen schn länger. Theologie sollte dies zum Anlass nehmen, das Axiom der Subjektorientierung zu radikalisieren. Wie wäre es kanonische Studiengänge stärker auf die Subjekte hin und vor allem von ihnen her neu zu konzipieren? Wie wäre es, auch interdisziplinär stärker an nicht-kanonischen Studiengängen zu arbeiten, um gerade dort die Anderen in Bildungszusammenhänge zu verwickeln? Was passiert eigentlich mit jenen, die aus der Kirche ausgetreten sind und deren Kinder teilweise im Religionsunterricht sitzen? Wo finden sie Bildungs- und Begegnungsorte, wofür Menschen auch im Theologiestudium professionalisiert wurden? Wäre hier nicht ein Feld, ein Andersort, wo Theologie sich diakonisch als Beitrag zur Freiheit der Kinder Gottes einzuschalten hätte? Auf diese Weise könnte Theologie glaubwürdig wie instruktiv in den derzeit wissenschaftspolitischen Debatten produktiver, diskursiver wie irritierender, ja disruptiver Stachel sein.
[1] Vgl. Frieder Vogelmann, Umkämpfte Wissenschaften – zwischen Idealisierung und Verachtung, Ditzingen 2023, 15–28). Im Folgenden greife ich in starker Überarbeitung auf Teile zurück aus: Grümme, Bernhard, Angebot ohne Nachfrage? Wissenschaftskommunikation aus der Perspektive einer Öffentlich-politischen Religionspädagogik; in: Theo-Web 2 (2024) 130–144.
[2] Armin Nassehi, Die Rolle der Wissenschaften in der modernen Welt; in: Beiträge zur Hochschulpolitik 2 (2017) 1–10: hier: 6.
[3] Peter Strohschneider, Wahrheiten und Mehrheiten. Kritik des autoritären Szientismus, München 2024, 1.
[4] Niklas Luhmann, N., Die soziologische Beobachtung des Rechts, Frankfurt am Main 1986, 44.
[5] Armin Nassehi, Die letzte Stunde der Wahrheit. Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft, Hamburg 2017, 189.
[6] Jürgen Manemann, Rettende Umweltphilosophie. Von der Notwendigkeit einer aktivistischen Philosophie, Bielefeld 2023, 16.99.
[7] Vgl. Rainer Forst, Klaus Günther, Normative Ordnungen. Ein Frankfurter Forschungsprogramm; in: dies. (Hgg.), Normative Ordnungen, Berlin 2021, 9–23.
[8] Vgl. Bernhard Grümme, Öffentliche Politische Theologie. Ein Plädoyer, Freiburg im Breisgau 2023, 157–185.
[9] Christof Möllers, Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, Berlin 2015, 14.
[10] Vgl. Saskia Wendel, „Auf dass ihr überreich seid in der Hoffnung“ (Röm 15,13). Welche Theologie hat Zukunft?; in: ThQ 1/2 (2024) 180–196.
[11] Zu einem rezenten Begründungsdiskurs eines moralischen Universalismus vgl. Hans Joas, Universalismus. Weltherrschaft und Menschheitsethos, Berlin 2025, 19–35.
[12] Vgl. Bernhard Grümme, Öffentliche Politische Theologie: Ein Beitrag zu demokratischen Lebensformen; in: Lukas Bormann, Ansgar Kreutzer (Hg.), Politische Theologien. Aufbrüche und Neukonzipierungen, Freiburg i. Br. 2025, 51–69.
[13] Jon Sobrino, Kritik an den heutigen Demokratien und Wege zu ihrer Humanisierung von der biblisch-jesuanischen Tradition her; in: Concilium, 4 (2007) 439–453; hier: 439.
[14] Vgl. Grümme 2023, 157–209.
[15] Vgl. Jan Hendrik Herbst, „Christentum von rechts“ als Thema des Religionsunterrichts? Religiöse Bildung im Angesicht von Angriffen auf den menschenrechtlichen Konsens in Kirche und Schule; in: Religionspädagogische Beiträge 1 (2022) 87–99.
[16] Vgl. Bernhard Grümme, Aufbruch in die Öffentlichkeit? Reflexionen zum ›public turn‹ in der Religionspädagogik, Bielefeld 2018, 203–212.
[17] Rudolf Langthaler, Magnus Striet, Vernunftreligion statt Kirchenglaube? Kants unerledigte Anfragen an die Theologie, Freiburg i. Br. 2024, 12.