Dem Modus des Wagnisses geht Michael Domsgen mit einer Betrachtung des Buches von Christian Butt und Emilia Handke nach und würdigt ein Modell von Kirche, die sich im Modus des Möglichen konstituiert.
„Einfach mal wagen!“ – der Titel dieses Bandes klingt nach Aufbruch. Er weckt Assoziationen von Bewegung, Improvisation, aber auch von Mut und Verletzlichkeit. Christian Butt und Emilia Handke haben unter diesem programmatischen Motto ein Buch herausgegeben, das innovative kirchliche Praxis dokumentiert und gleichzeitig zur theologischen Reflexion über das Wesen von Kirche in Veränderung einlädt. Es ist kein Handbuch für Innovationsmanagement, sondern eine Sammlung von Erfahrungsräumen – konkret, ehrlich, manchmal tastend, dabei durchweg von einer bemerkenswerten Ernsthaftigkeit getragen.
Die versammelten Beiträge geben Einblicke in unterschiedliche kirchliche Kontexte: Quartiersarbeit, neue Gottesdienstformen, digitale Projekte, gemeinwesenorientierte Initiativen, diakonische Experimente. Dabei eint sie weniger ein einheitliches Innovationsverständnis als eine gemeinsame Haltung. Es ist der Wille, kirchliches Handeln nicht aus der Sicherung des Bestehenden zu denken, sondern aus der Offenheit für das Kommende. Es sind Menschen, die sich nicht von Strukturkrisen lähmen lassen, sondern sich hineinbegeben – in Zwischenräume, Ungewissheiten, Suchbewegungen.
Wagnis als Ausdruck von Vertrauen
Gerade darin liegt für mich die theologische Tiefe des Buches. Denn das Wagnis, von dem hier die Rede ist, ist kein naives Voranstürmen. Es ist auch kein durchkalkuliertes Innovationsprojekt. Es ist ein Ausdruck von Vertrauen: darauf, dass Gott in der Bewegung wirkt, im Unterwegssein, im Prozess. Die biblische Spur des Wagnisses führt von Abraham, der in ein unbekanntes Land aufbricht, bis zu Petrus, der sich auf das Wasser hinauswagt – nicht, weil er sicher ist, sondern weil er gerufen wird. In dieser Linie stehen auch viele der hier beschriebenen Projekte. Nicht abgesichert, aber getragen.
Die Herausgeber*innen machen keinen Versuch, einen Innovationsbegriff dogmatisch zu definieren. Das ist klug. Stattdessen geben sie Raum für das, was entstehen will. Und sie verzichten darauf, die Geschichten in ein übergeordnetes System zu pressen. Damit entsteht ein Mosaik, das gerade in seiner Offenheit überzeugt. Die Praxisberichte sprechen für sich und sie sprechen theologisch, nicht in Begriffen, sondern in Haltungen und Handlungen.
An der Schnittstelle von
Kirche und Sozialraum
Auffällig ist: Viele der beschriebenen Projekte arbeiten an der Schnittstelle von Kirche und Sozialraum. Sie suchen nicht nach neuen Zielgruppen, sondern nach neuen Beziehungen. Es geht nicht um Marketing, sondern um Nähe. Die Rolle der Kirche verändert sich dabei spürbar – weg von der Versorgerin, hin zur Ermöglicherin. Die theologische Pointe liegt in der relationalen Dimension: Kirche wird dort lebendig, wo sie sich nicht zuerst als Institution sondern als Netzwerk von Beziehungen versteht – unter Menschen, im Raum, vor Gott.
Mich hat beeindruckt, mit welcher Demut viele Beiträge von Scheitern und Neuorientierung erzählen. Der Band verklärt nichts. Er suggeriert nicht, dass es nur mutige Einzelne braucht, um die Kirche zu retten. Vielmehr wird deutlich, wie wichtig Strukturveränderungen, Ressourcen und Unterstützungsräume sind, aber auch, wie zentral die persönliche Haltung bleibt. Wer wagt, rechnet mit dem Risiko. Wer wagt, muss aushalten, dass nicht alles gelingt. Vielleicht ist gerade das der theologische Kern des Buches: dass in der Bereitschaft zum Scheitern eine geistliche Qualität liegt.
Gegenentwurf zu strategisch
gedachten Kirchenentwicklungsprozessen
Theologisch ließe sich das als eine Form gelebter Pneumatologie deuten. Der Geist Gottes lässt sich nicht programmieren. Er wirkt unerwartet, dezentral, widerständig. Wer Kirche heute gestaltet, ist gut beraten, sich nicht nur an institutionelle Ziele zu binden, sondern offen zu bleiben für diesen unberechenbaren Geist. Der Band „Einfach mal wagen!“ ist ein Plädoyer für genau diese Offenheit. Damit bildet er einen hilfreichen Gegenentwurf zu machtförmigen oder rein strategisch gedachten Kirchenentwicklungsprozessen.
Was bleibt nach der Lektüre? Keine Gebrauchsanweisung. Aber viele Impulse. Und vor allem eine Einladung, Kirche nicht von ihrer Krise her zu denken, sondern von ihren Möglichkeiten. Die Zukunft der Kirche entscheidet sich nicht in Zentralstellen, sondern in konkreten Räumen, in Begegnungen, in Beziehungen. Dort, wo Menschen sich einlassen, ausprobieren, scheitern, neu beginnen, dort ereignet sich etwas von dem, was Kirche im tiefsten Sinne ist: Ein Raum der Verwandlung.
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Christian Butt / Emilia Handke (Hg.): Einfach mal wagen! Innovative Projekte in Kirche und Gemeinde. Göttingen: Edition Ruprecht, 2025. 208 Seiten. ISBN 978-3-8469-0385-9.
Titelbild: Shutterstock / Andrii Yalanskyi