Das Matthäusevangelium ist ein Text für Maulwürfe. Wer gerne unter die Textoberfläche blickt und die vielfältigen Anspielungen, Bezüge und sonstige Subtexte entdecken möchte, wird mit Matthäus seine Freude haben. Die Bereitschaft, sich in den Text hineinzuwühlen und den Verflechtungen nachzugehen oder nachzugraben, wird belohnt. Von Elisabeth Birnbaum.
Die Bibel als Wald
Vor einiger Zeit habe ich an dieser Stelle über das Bild der Bibel als Wald nachgedacht. Inzwischen ist ein ganzes Buch daraus entstanden. Was das mit dem Matthäusevangelium und Maulwürfen zu tun hat?
Ganz einfach: Es gibt viele Möglichkeiten, Bibel zu lesen. Man kann wie ein Specht auf ein und dieselbe Stelle pochen und möglichst tief in einzelne Teilstücke eindringen. Oder wie ein Hase quer durch das ganze Buch jagen und sich einen guten Überblick verschaffen. Man kann wie ein Eichhörnchen der Auslegungsgeschichte entlanghuschen und die vielfältigen Auslegungszweige bewundern. Oder wie ein Schmetterling nur hier und da an einem Bibelvers nippen und in die weiten Gefilde der eigenen Spiritualität entschweben.
Maulwürfe erspüren, wie sehr biblische Texte miteinander verflochten sind
Matthäus als Maulwurf lesen
Oder aber man liest die Bibel wie ein Maulwurf: Dann wühlt man sich in den Text, auf der Suche nach dem Flechtwerk der Anspielungen und Bezüge der Texte. Maulwürfe erspüren, wie sehr biblische Texte miteinander verflochten sind, wie ihre Wurzeln miteinander kommunizieren und wie auch weit voneinander entfernt stehende Bäume eng zusammenhängen.
Und eines der Bücher, wo sich das Maulwurf-Sein besonders lohnt, ist das Matthäusevangelium. Wie Matthäus in seiner Erzählung das Alte Testament einbindet und damit ein großangelegtes Panorama eröffnet, ist einzigartig. Ein schönes Beispiel dafür ist das Bild des Lichts. Matthäus verwendet es besonders gern zu Beginn seines Evangeliums, um die Wirkung Jesu für die Welt zu verdeutlichen. Schon das erste Licht, das im Matthäusevangelium aufgeht, der Stern von Betlehem, hat diese Funktion.
Der Stern geht auf
In Mt 2 geht ein besonderer Stern auf und kündigt die Geburt eines königlichen Kindes an. Das lässt sich unschwer als ein seit der Antike bekanntes Zeichen der Geburt eines bedeutsamen Menschen verstehen. Doch den Maulwürfen unter den Bibel-Lesenden fällt vielleicht auch die Verbindung mit der Bileam-Prophezeiung (Num 24) auf. Dort ist von einem aufgehenden Stern in Israel die Rede, der dazu führt, dass das kleine Volk erstarkt und andere besiegt (und nicht wie sonst ohnmächtig feindlichen Nationen ausgeliefert ist). Damit liest sich der Text auch als Prophezeiung eines Herrschaftswechsels. Kein Wunder, dass sich der Idumäer Herodes fürchtet, wenn er von einem solchen aufgehenden Stern hört. Umso mehr, als der Herrschaftswechsel in Num 24 ja zulasten der Edomiter, seines Herkunftsstammes, vor sich geht.
Der Stern zieht voran und leitet …
Der Stern geht aber nicht nur auf, sondern bewegt sich auch: Er zieht den Sterndeutern voran und leitet sie zu Jesus. Das ist für antike Texte ungewöhnlich. Bei tieferem Nachgraben in den alttestamentlichen Texten lassen sich jedoch Bezüge zu der (göttlichen) Feuersäule erkennen, die Israel beim Exodus voranzieht und das Volk in die Freiheit führt (vgl. Ex 13,21f.). Der leuchtende Stern steht somit auch für göttliche Führung und für göttliche Befreiung aus Unterdrückung und Unfreiheit.
… Nichtisraeliten zu Gott.
Und nicht nur das: Er leitet, anders als im Exodus, nicht die Israeliten, sondern die Nichtisraeliten aus dem Osten. Sie führt er zum Immanuel, zum „Gott-mit-uns“ (vgl. Jes 7,14; Mt 1,21). So öffnet Matthäus das Panorama auf das Ende der Tage, wo alle Völker mit Israel gemeinsam Gott am Zion anbeten werden (vgl. Jes 2,2-5; 60,1-6 u. ö.). Die Gaben der Sterndeuter, Gold und Weihrauch, vollenden die Licht-Thematik, verweisen sie doch auf Jes 60,1ff.: Steh auf, werde licht, denn es kommt dein Licht, … Nationen wandern zu deinem Licht und Könige zu deinem strahlenden Glanz (…) Gold und Weihrauch bringen sie …“.
Unter der einfachen Erzählung eines Wander-Sterns verbirgt sich demnach ein kunstvoll verflochtenes Text-Universum, das sich Maulwürfen im Bibel-Wald eröffnet.
Der Gang nach Kafarnaum …
Bereits in Kapitel 4 und damit noch vor dem eigentlichen Beginn von Jesu Wirken wird die Licht-Thematik wieder aufgegriffen. Hier gelingt Matthäus abermals ein literarisches Kunststück: Er verwandelt eine eher unspektakuläre Szene in eine spektakuläre theologisch-christologische Aussage.
Wie auch Markus und Lukas erzählt Matthäus, dass Jesus zu Beginn seines Wirkens in Galiläa unterwegs war. So heißt es in Mt 4,12-13: „Als Jesus hörte, dass Johannes ausgeliefert worden war, kehrte er nach Galiläa zurück. Er verließ Nazaret, um in Kafarnaum zu wohnen, das am See liegt …“. Diesen schlichten Ortswechsel ergänzt er nun mit einer auch noch nicht besonders auffälligen Ortsangabe: „… im Gebiet von Sebulon und Naftali.“ Der Grund für diese Hinzufügung wird sofort deutlich.
Matthäus verwandelt eine eher unspektakuläre Szene in seine spektakuläre theologisch-christliche Aussage
Denn nun erfolgt der Kunstgriff: Matthäus deutet Jesu Ortswechsel nach Galiläa mit einem Zitat aus dem Jesajabuch (Jes 8,23.9,1), wo von den Gebieten Sebulon und Naftali die Rede ist, dem Gebiet der Nationen (MT) bzw. dem Galiläa der Völker (LXX). Maulwürfe entdecken schnell, dass im Jesaja-Text diesem Gebiet nach der assyrischen Eroberung im 8. Jh. v. Chr. neues göttliches Heil zuteilwird. Das drückende Joch und der Stab auf seiner Schulter wird zerbrochen (Jes 9,3f.). Dieses heilvolle Eingreifen Gottes umschreibt Jesaja mit dem Bild des Lichts: „Das Volk, das in der Finsternis ging, / sah ein helles Licht; über denen, die im Land des Todesschattens wohnten, / strahlte ein Licht auf“ (Jes 9,1).
… und das Licht für die Völker
Wenn Matthäus dieses Zitat nun an die Ortswechsel-Notiz anfügt, verbindet er das Licht mit Jesus. Ohne das Zitat geht es um einen simplen Ortswechsel Jesu nach Kafarnaum. Mit dem Zitat wird aus dem Ortswechsel das Aufstrahlen des göttlichen Lichtes. Jesus wandelt sich durch dieses Zitat vom Wanderpropheten zum göttlichen Licht, gerade auch für die Völker.
Und damit schlägt Matthäus auch wieder die Brücke zum Stern zurück: zum Herrschaftswechsel durch ein königliches Kind und zur damit einhergehenden Völkerwallfahrt hin zum göttlichen Licht.
Ein Loblied auf den Maulwurf
Schon diese wenigen Beispiele zeigen, welch lohnende, lichterfüllte Entdeckungen der Bibel-Wald für Maulwürfe bereithält. Erst das Nachgraben, das Hineinwühlen und das Suchen nach den verborgenen Verbindungen der Texte untereinander bringen die Fülle des Waldes zum Vorschein. Es lohnt sich also, hin und wieder als Maulwurf unterwegs zu sein. Gerade auch im Matthäusevangelium.
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Literatur:
Elisabeth Birnbaum, Wege durch den Bibelwald, Wien: Dom Verlag 2025.
Bibel und Kirche 4/2019: Matthäus neu lesen
Bibel heute 4/2018: Weihnachten im Alten Testament
Elisabeth Birnbaum, Wien, ist promovierte Alttestamentlerin und seit 2017 Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks.
Bildnachweis: Von Maulwurf Ylf – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=150507946


