Susanne Glietsch buchstabiert im Rückgriff auf Hans Kesslers Theologie den christlichen Gottesbegriff jenseits vom „Gott in der Höhe“ nach einem ersten feinschwarz-Beitrag im Dezember 2024 weiter aus und zeigt, wie bedeutsam ein angemessener Gottesgedanke für die Spiritualität ist.
Dass Gott kein alter Mann mit Bart ist, der auf einer Wolke sitzt, oder kein übergroßes Wesen, das irgendwo ‚da oben‘ oder ‚da draußen‘ an einem Ort lebt, der sich Himmel nennt – dem werden wohl viele Menschen heute zustimmen. Aber wie geht es dann weiter? Wie lässt sich der christliche Gottesgedanke theologisch dann so skizzieren, dass die Problemfelder eines „vulgären Theismus“1, die im Bild des alten Mannes auf der Wolke transportiert wurden und werden, überwunden werden können? Das heißt konkret: Wie kann der Gottesgedanke so entfaltet werden, dass man dabei den Gefahren einer substanzhaften Verobjektivierung Gottes, einer dualistischen Getrenntheit von Gott und Welt und einer allzu anthropomorphen Vorstellung vom Personsein Gottes (im Sinne eines von anderen geschiedenen Einzelwesens) entgeht?
Mir persönlich haben die Ausführungen des Theologen Hans Kessler2 am meisten dabei geholfen, den biblisch-christlichen Gottesgedanken so zu fassen, dass er einerseits die genannten Problemfelder überwinden hilft, andererseits nicht in hoch-abstrakte Ausführungen abgleitet, sondern einen theologischen Denkrahmen bereitstellt, der an die Erfahrungswelt und Spiritualität angebunden bleibt bzw. offen dafür ist.
Drei komplementäre Grundaspekte des Göttlichen
In Kürze lauten die Kerngedanken Kesslers folgendermaßen: Gemäß der biblisch-christlichen Tradition lässt sich „das unfassbare Geheimnis, das wir behelfsweise ‚Gott‘ nennen“3, annäherungsweise mit drei komplementären Grundaspekten beschreiben: Gott ist demnach eine geistige (also keine substanzhafte) Wirklichkeit (Joh 4,24), die als grenzenloser Urgrund alles umfängt und in sich birgt (Urgrund- bzw. Transzendenzaspekt (1)).4 Der ganze kosmische Prozess (die Schöpfung) ist und geschieht also in Gott, ist in Gott und von Gott hervorgebracht und begründet, stets umfangen von seiner unendlich aufgespannten Weite. Es gibt also kein „Außerhalb“ Gottes.
Der zweite Grundaspekt, der zur göttlichen Wirklichkeit gehört, ist der mystische bzw. Immanenzaspekt (2)5: Als schöpferische Lebenskraft, als „belebender und lebendig machender Geist“ (Luther) wohnt Gott in allen Wesen, belebt und erhält sie, verleiht ihnen „Sein, Kraft und Eigenaktivität“ (Thomas v. Aquin).6 Im Menschen lebt und wirkt Gott darüber hinaus als Geist der Liebe, Güte und Freundschaft, als „heilender und heiligender Geist“ (Luther); hier kann Gott nochmal auf andere Weise, mit seiner eigentlichen Intention – Liebe, Erbarmen, Güte, Bejahung, Gerechtigkeit, Wohlergehen, Heil für alle – gegenwärtig werden.7 In dem Maße, wie Menschen sich für diesen Geist der Liebe öffnen (ob nun kognitiv bewusst oder nicht), kann er sie also inspirieren, verwandeln und über sich hinausführen, um ihr Leben, ihre Gemeinschaft und all ihre Beziehungen mit seiner Güte zu erfüllen. Sicherlich müsste der Immanenzaspekt im Spiegel neuerer schöpfungstheologischer Ansätze mit Bezug auf die Anthropozän-Debatte durchreflektiert und im Sinne eines „situierten Anthropozentrismus“ (Papst Franziskus) sensibel reformuliert werden.8
Der dritte zum Gottesverständnis gehörende Aspekt ist der personale bzw. Beziehungsaspekt (3)9, der sich in Erfahrungen des Angesprochen-, Beansprucht-, Befreit- und Bejahtseins vermittelt. Als grenzenloses und zugleich zuinnerst nahes, liebendes Du oder „Ich bin da für euch“ (Ex 3) sagt Gott uns seine Gegenwart zu und ist für uns ansprechbar; ebenso „spricht“ uns Gott aus seiner Freiheit heraus an, kommuniziert mit uns (z.B. in Ereignissen, Begegnungen, inneren Erfahrungen), kommt uns also von sich aus „in die Quere“.10
Gott ist ‚ein um uns und in uns schwingendes unfassliches Du‘.
Alle drei Grundaspekte des Göttlichen fasst Kessler in folgender Formel zusammen: Gott ist „ein um uns und in uns schwingendes unfassliches Du.“11 Wichtig ist nun: Fehlt einer dieser Grundaspekte, so ist das biblisch-christliche Gottesbild verzerrt und zerstört. Fehlt beispielsweise der mystische bzw. Immanenzaspekt – also der Aspekt der Einwohnung Gottes im Menschen und in der Welt –, so kommt es zur deistisch-dualistischen Verzerrung und zu Fehlverständnissen rund um den Gedanken der Personalität Gottes im Sinne einer abgegrenzten Individualität.
Im Hinblick auf die Schöpfungstheologie ausgeweitet formuliert heißt das: Alle drei Grundaspekte des Göttlichen zusammen ermöglichen es erst, die Einheit (innige Verbundenheit, nicht Identität) von Gott – Mensch – Welt zu denken, und eben kein dualistisches Gegenüberverhältnis. Gott und Mensch, Gott und Welt können so als verschieden gedacht werden und gleichzeitig in differenzierter Weise aufs engste verbunden. Biblisch-christliche Schöpfungstheologie überwindet damit die deistische Reduktion, aber ebenso die pantheistische Reduktion, entspricht also eigentlich einem panentheistischen Grundgedanken.12
Das alles ist jetzt eigentlich nichts Spektakuläres, sondern dogmatischer bzw. biblisch-theologischer Grundbestand („Basics“), also ganz und gar nichts Neues, so dass ich mir fast komisch vorkomme, es hier so ausführlich zu beschreiben. Allerdings darf ich immer wieder Zeugin von „Aha-Erlebnissen“ werden, wenn ich in unterschiedlichsten Lehrveranstaltungen anhand von Kesslers Kategorien (und dazu angefertigten Skizzen bzw. schematisierenden Bildern) die Eigenart des christlichen Gottesverständnisses zu entfalten versuche. Was dabei für mich deutlich wird: Das Bild vom alten Mann mit Bart scheint doch tiefer und fester in den Köpfen und Herzen zu sitzen als gedacht, auch wenn es auf einer bewussten Ebene längst abgelehnt wird.
Verlust des mystischen Aspekts im Gottesverständnis
Andersherum formuliert: Genau hier wird der Verlust des mystischen bzw. Immanenzaspekts im christlichen Gottesverständnis, der sich im Zuge der Neuzeit vollzogen hat13, greifbar. Und dieser Verlust ist in seinen Auswirkungen wohl nicht zu überschätzen. Auch darauf hat Kessler hingewiesen, und zwar lange vor der Mystik-Hochkonjunktur der Gegenwart. Denn dieser Verlust ist ja ein wesentlicher Grund für die Entwicklung der deistisch-dualistischen Schlagseite des christlichen Glaubens. Fatalerweise wurde diese Schlagseite dann auch von der kirchlichen Verkündigung mittransportiert und hat so das Glaubensbewusstsein vieler Menschen geprägt – mit der Konsequenz, dass dieser deistisch-dualistische Gott im Alltag faktisch nicht vorkommt, im Leben kaum erfahrbar und spürbar ist:
Der deistische Dualismus als das „epochale religiöse Muster der Neuzeit“ hat nach Kessler dazu geführt, „dass wir – bis in die christliche und kirchliche Praxis hinein – mit Gott in unserer Alltagswelt kaum rechnen, ihn vielmehr faktisch zum untätigen Statisten (da oben) machen, der nur geschehen lässt, was die Natur tut und was wir tun (…). Unter Christen kann man sagen hören, wir müssten so handeln, wie Gott handeln würde, aber Gott selbst handelt anscheinend nicht.“14 Auch wenn dieses Zitat nun schon etwas älter ist und nicht mehr dem entspricht, was es zwischenzeitlich an theologischen Entwürfen zum Thema Handeln bzw. Wirken Gottes gibt, so hat es immer noch diagnostischen Wert:
Denn in dieser letztlich unangemessenen, nicht tragfähigen Gottesvorstellung ist nach Kessler ein zentraler Grund zu sehen, warum sich viele Menschen vom kirchlich vermittelten Gottesglauben abgewandt haben und Abschied von Gott genommen haben.15 Die Gotteskrise wird hier als Praxiskrise bzw. als spirituelle Krise greifbar, d.h. als Krise der Bedeutung des Gottesglaubens im konkreten Leben: „Gott kommt im Alltag nicht vor“.16 Gleichzeitig war und ist dieser fehlende Zugang zur Gotteserfahrung ein wesentlicher Hintergrund für den anhaltenden Spiritualitäts-Boom seit gut 30 Jahren und die sich darin artikulierende Sehnsucht nach religiöser Erfahrung, die im kirchlichen Mainstream-Milieu bis heute zu wenig adäquat beantwortet wird.
Auszug der Spiritualität aus der Theologie
Und so war es denn in jüngerer Vergangenheit auch mehr die Seite der „Praxiskrise“, von der aus etwas in Bewegung kam: Am „Andersort“ der Meditations- und Kontemplationsbewegungen wurde die Tradition christlicher Mystik wiederentdeckt und in zeitgemäße spirituelle Weglehren umgesetzt, die Auskunft über Annäherungsweisen an die Gegenwart Gottes im eigenen Leben und in der Welt geben.17 In der Gegenwart haben sich mittlerweile vielfältige Übungswege der Meditation bzw. Kontemplation breit etabliert, wie insgesamt Meditation in der Mitte der Gesellschaft (bspw. im Kontext von Psychotherapie und Gesundheitswesen) angekommen und auch als wissenschaftliches Thema von Interesse ist.18
Bedenkenswert sind deshalb die Bemerkungen des Jesuiten Michael Bordt: „Die Meditation kommt in den Volkskirchen so gut wie nie zur Sprache. Die wenigsten Priester oder Pastorinnen, aber auch deren Ausbilder, die Universitätsprofessoren, haben ernsthafte Meditationserfahrungen.“19 Und dass die mystische Tradition und damit die Klassiker der christlichen Spiritualität im Raum der akademischen Theologie wiederum kaum auftauchen, verweist auf eine weitere problematische Erblast: die lange Geschichte des Auszugs der Spiritualität aus der Theologie.
Notwendige Re-Integration der Mystik
Das bedeutet: Bei der notwendigen Re-Integration der Mystik in das christliche Gottesverständnis, auf die Kessler schon früh hingewiesen hat und auf die gegenwärtig vielfach hingewiesen wird, geht es also nicht nur um den Entwurf eines (in kognitiver Hinsicht) angemessenen Gottesverständnisses „an sich“, sondern um damit verbundene weitere zentrale theologische Themenfelder wie Gottes Handeln bzw. Wirken in der Welt und damit eben auch um die Frage nach der Erfahrbarkeit Gottes, um Themen wie religiöse Erfahrung, spiritueller Vollzug oder gelebtes Gottesverhältnis. D.h. am Kern des christlichen Glaubens, am Gottesgedanken, zeigt sich die Untrennbarkeit von Theologie und Spiritualität. Eine stärkere Bezugnahme auf die Tradition der Mystik – die ja sowohl theologische Denkform als auch Erfahrungsweg ist20 – bietet also auch die Chance, Theologie und Spiritualität einander wieder mehr anzunähern.
___
Dr. Susanne Glietsch ist tätig als Schuldekanin für Gymnasien in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Religionslehrerin und Kontemplationsbegleiterin.
Portrait: picturepeople Stuttgart
Bild: Designpeter auf Pixabay
Abschied vom „Gott in der Höhe“ – Raum für den „Gott der Gegenwart“
- Rahner, Karl, Grundkurs des Glaubens, Freiburg/Br. u.a. 1976, S. 71. ↩
- Vgl. zum Folgenden insbesondere Kessler, Hans, Schöpfung und Evolution in neuer Sicht, Kevelaer 52017, bes. S. 121-147; ders., Gott, warum er uns nicht loslässt, Kevelaer 2016, bes. S. 26-42; 63-67; ders., Gott, der kosmische Prozess und die Freiheit. Vorentwurf einer transzendental-dialogischen Schöpfungstheologie, in: ders. / Gotthard Fuchs (Hg.), Gott, der Kosmos und die Freiheit. Biologie, Philosophie und Theologie im Gespräch, Würzburg 1996, S. 189-232; ders., „Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Namen“ (Hölderlin). Zur Hermeneutik trinitarischer Rede, in: Beutler, Johannes, Kunz, Erhard, Heute von Gott reden, Würzburg 1998, S. 97-124. Auch Kesslers Denken ist von dem zentralen Anliegen geprägt, die oben genannten Missverständnisse zu überwinden, die seiner Meinung nach weit verbreitet sind. Dieses Anliegen ist Ausgangspunkt seines Entwurfs einer christlichen Schöpfungstheologie. ↩
- Kessler, Gott, der kosmische Prozess, S. 201. ↩
- Ebd., S. 202. ↩
- Vgl. ebd., S. 204. ↩
- Kessler, Schöpfung und Evolution, S. 143. ↩
- Ebd. 145. ↩
- Vgl. dazu bspw. Schüssler, Michael, Es kommt was ins Rutschen. Eine theologische Reise an die Kipppunkte der Gegenwart, Ostfildern 2025, bes. S. 74-93. ↩
- Kessler, Gott, der kosmische Prozess, S. 203. ↩
- Kessler, Gott – warum er uns nicht loslässt, S. 35. ↩
- Kesser, Schöpfung und Evolution, S. 133. Die Formel findet sich bei Kessler in verschiedenen Variationen. ↩
- Vgl. Kessler, Schöpfung und Evolution, S. 134. ↩
- Vgl. Kessler, Gott, der kosmische Prozess, S. 205. ↩
- Kessler, „Schweigen müssen wir oft; es fehlen heilige Namen“, S. 98f. ↩
- Ebd., S. 98. Ähnlich diagnostisch prägnant in Bezug auf die Konsequenzen dieser inadäquaten Gottesvorstellung sind die Ausführungen von Johannes Warmbrunn in ders., Gott unfassbar groß denken. Geborgenheit im ganzheitlichen Glauben, Mainz 2024, bspw. S. 21 f. Warmbrunns beeindruckender Entwurf eines ganzheitlichen Glaubens scheint mir von der Grundintention her in vielen Aspekten den Ausführungen Kesslers zu entsprechen. ↩
- Vgl. Glietsch, Susanne, „Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete.“ Impulse für die Gebetsdidaktik aus der mystisch-kontemplativen Tradition, in: Trierer Theologische Zeitschrift 3/2016, S. 200-222, hier S. 205 mit Bezug auf die Analysen der Pastoraltheologin Regina Polak. ↩
- Zu den Meditations- und Kontemplationsbewegungen, die z.T. in Zusammenhang mit der akademischen Wiederentdeckung und Rehabilitierung der Mystik zu Beginn des 20. Jahrhunderts stehen, vgl. Baier, Hans, Meditation und Moderne. Zur Genese eines Kernbereichs moderner Spiritualität in der Wechselwirkung zwischen Westeuropa, Nordamerika und Asien, Würzburg 2009, Bd. 2, bes. S. 543-582; 695-937. ↩
- Empfehlenswert, weil besonders profund und umfassend, ist m.E. die Hinführung zur christlichen Kontemplation von Simon Peng-Keller, vgl. ders., Überhelle Präsenz. Kontemplation als Gabe, Praxis und Lebensform, Würzburg 2019. ↩
- Bordt, Michael, Die Kunst unserer Sehnsucht zu folgen. Spiritualität in Zeiten des Umbruchs, Berlin 2022, S. 102. ↩
- McGinn, Bernard, Die Mystik im Abendland, Bd. 1, Freiburg/Br. u.a., S. 9-20. ↩


