Maria Elisabeth Aigner über die notwendige Aufmerksamkeit füreinander – nach der Gewalttat, aber auch im Alltag.
Das, was letzten Dienstag, am 10. Juni 2025, an einer Schule in Graz geschehen ist, löste eine Erschütterung aus, die weit über das Epizentrum dieses, in einem von Wohnhäusern umgebenen Schulgebäudes im Nordwesten von Graz hinausreicht. Ein Amokschütze löschte in nur sieben Minuten mit einer Schrotflinte und einer Pistole das Leben von zehn Menschen aus, verletzte mehrere Personen – einige davon schwer – und suizidierte sich im Anschluss.
Die Wellenbewegungen dieser Detonation gestalten sich hier zu Ort heftig und betreffen viele. Sie dauern noch an und markieren derzeit wahrscheinlich erst die Akutphase. Unglaublich wie professionell nach dem Eingang des Notrufes alle Unterstützungssysteme mit großer Selbstverständlichkeit ineinandergreifen: Polizei, Cobra, Rettungsfahrzeuge, Sanitäter*innen, Evakuierungspersonal, Kriseninterventionsteams. Unbegreiflich, wie beispielsweise die Bürgermeisterin der Stadt Graz, ein Lehrer der Schule, ein junger Mann, der seine Schwester beim Attentat verloren hat, sich innerhalb der medialen Maschinerie bewegen und sich zeigen: betroffen, schutzlos, angreifbar und bis ins Mark authentisch. Hier wird ein Ringen und Suchen wahrnehmbar, hier wird der Versuch, in kleinen Schritten zu gehen und aufmerksam zu sein, auf das, was gerade geschieht, hautnah erlebbar.
aufmerksam zu sein, auf das, was gerade geschieht, hautnah erlebbar
Das Leben ist nicht mehr wie vorher und es wird auch nie mehr so sein: Für die Schüler*innen und Lehrer*innen dieser Schule, für die Angehörigen und Freund*innen der Opfer, für jene Helfer*innen, die bei aller Professionalität ebenso Menschen sind und mit den Bildern des Schreckens, mit all der Not und der Verzweiflung so vieler umgehen müssen. Unzählig viele Eindrücke, Szenen, bildliche Sequenzen und Narrationen, sind für jene, die unmittelbar am Tatort, oder auch aus größerer Entfernung involviert waren, zu bewältigen. Aber auch für die Angehörigen des Täters ist seit diesen sieben Minuten nichts mehr wie früher – auch sie sind Opfer, die mit der Wucht dieser Tat verbunden sind und mit ihr leben müssen.
Wir alle – hier in Graz wohnende Menschen und darüber hinaus – erleben im Zuge dieses Ereignisses einen medialen Hype sondergleichen. Wir sind gefordert, damit umzugehen, uns zu informieren und uns damit zu beschäftigen und zugleich mit Blick auf die Berichterstattung – gerade was den Bereich von social media anlangt – entschieden eine abstinente und distanzierte Haltung zu wahren. Es gilt, fake news oder die Würde und Integrität verletzende Aufnahmen bei entsprechenden Stellen anzuzeigen. Der Sog, den Medien hier ausüben, kann Menschen in Bereiche führen, in denen es – meist subtil – zu Übergriffigkeiten, Diffamierung, und Respektlosigkeit – schlimmstenfalls zu Trigger-Phänomenen kommt.
Der Sog, den Medien hier ausüben, kann zu Übergriffigkeiten, Diffamierung, und Respektlosigkeit führen.
Wer ist dieser Täter? Das beschäftigt wohl in erster Linie die Medien – weniger jene, die gerade versuchen, irgendwie mit diesem Ereignis zu Rande zu kommen. Die entsprechenden Aussagen der Betroffenen sind berührend: Es geht jetzt um das Leben, um das Ringen im Alltag – Stunde um Stunde – Atemzug um Atemzug. Essen, schlafen, Ablenkung, erzählen, verstummen, umarmen und weinen. Die Betroffenen weisen uns mit dieser natürlichen Reaktion womöglich auf eine tieferliegende Erkenntnis hin. Tatmotive, Hintergründe, psychische Dispositionen, soziales Umfeld, biografische Auffälligkeiten, sowie die Frage nach dem Zugang zur Waffe mit Blick auf den Täter sind naturgemäß Gegenstand der Ermittlungen und dienen wohl dazu, zu verstehen, wie es zu einer solch abscheulichen Handlung überhaupt kommen kann. Zugleich lenkt das Bemühen um Täterrekonstruktionen, um Fragen nach Nationalität, religiöser Herkunft, Biografie, schulischem und beruflichem Werdegang den Blick weg von der Mitte.
Es geht jetzt um das Leben, um das Ringen im Alltag.
Vielleicht sind die Täter – gerade bei Amokläufen in erster Linie Männer –, die solche Taten verüben, austauschbar – jene, in deren Leben sich Kränkungen, Ausschluss- und Marginalisierungserfahrungen so sehr verselbstständigen, dass scheinbar nur mehr ein Akt absoluter Zerstörung die seelischen Isolationsverkrustungen aufbrechen kann. „Gewalt entzündet sich vielleicht am Rand, aber sie entspringt aus unserer Mitte“, schreibt eine Leserbriefschreiberin in der heutigen Ausgabe einer steirischen Lokalzeitung. Wir wissen, dass Amokläufer zumeist tief gekränkte Menschen sind und diese Kränkungen irgendwann einer Schalthebelwirkung gleich in eine verheerende Destruktion kippen kann. Das heißt, die Frage lautet nicht nur: „Wer ist der Täter?“ Die Frage lautet auch: „Wer sind wir und wie pflegen wir den Umgang miteinander?“ Wie agieren wir in dieser Gesellschaft, in unseren engen Beziehungsbezügen, in unserem beruflichen Umfeld? Worauf hin genau setzt das Ereignis dieser Stadt seinen Lichtkegel im Reflex unserer gesellschaftlichen Realität?
zumeist tief gekränkte Menschen
Wer sich den Stimmen der Betroffenen und Verantwortlichen in diesen Tagen nicht entzieht, wird vor allem eines hören: Es ist wichtig, miteinander zu sein, miteinander zu reden, Schritt für Schritt zu gehen, Zeit zu lassen. Keine Worte zu haben, aber einander zu haben, sprachlos sein, aber die Gegenwart und Verbundenheit mit den anderen spüren können, das sei entscheidend. Was heißt diese Botschaft für jene, deren Alltag von diesem Ereignis verschont geblieben ist? Was bedeutet das Wissen, dass es vor allem unbewältigte Kränkungen sind, die einen Menschen zu einer solchen Tat veranlassen? Was heißt das für uns als Gesellschaft und auch für uns als Kirche? Wie gehen wir in Seelsorge und Theologie damit um? Was bedeutet das für jene, die sich der Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Gewaltfreiheit verschrieben haben?
Die Gegenwart und Verbundenheit mit den anderen spüren können, das sei entscheidend.
Dieser Amoklauf macht so hellhörig und wach, dass es beinahe wehtut. Er zeigt, wie viel Gutes im Menschen steckt und wie viel mehr wir noch benötigen: An Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Raum und Zeit – an Verzicht auf Agieren-Wollen, vor allem dann, wenn es nicht angebracht ist. Der Lichtkegel blendet und schmerzt, jedoch bringt er Licht ins dunkle Dickicht, das uns zeigt, wie sehr wir Gefahr laufen, unser Leben zunehmend entfremdet zu leben. Ereignisse dieser Art überschwemmen uns mit Gefühlen, die einer Rahmung bedürfen, um balanciert durchlebt werden zu können.
Den Ausschlussmechanismen können wir uns nicht immer entgegenstellen – wir können sie aber wahrnehmen.
Diskriminierung, Ungerechtigkeiten und widerfahrene Kränkungen können bei Betroffenen verheerende Dynamiken auslösen. Darüber hinaus sind es aber vor allem die Ereignisse, die mit Marginalisierung und Ausschluss zu tun haben, die Menschen bis ins Innerste treffen können. Den Ausschlussmechanismen können wir uns nicht immer entgegenstellen – wir können sie aber wahrnehmen, sie andernorts aufzeigen, vor allem aber können wir Kontakt zu den Ausgeschlossenen halten oder herstellen. Erfolg und Anerkennung sind zentral identitätsgenerierend und -stabilisierend für Menschen westlich-zivilisierter Gesellschaften. Aber nicht nur. Die durchlebte Zeit, das Fühlen und Denken, Hören und Sagen, das Verzagen und das Elend gehören dazu, ebenso wie die wache Aufmerksamkeit, die Zugewandtheit und Zärtlichkeit. Sieben Minuten haben am letzten Dienstag einen tiefen Krater voller Verwundung in so viele Seelen hier vor Ort gerissen. Dem kann nichts und dennoch so viel entgegengehalten werden.
Maria Elisabeth Aigner ist Ao. Univ.-Professorin für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie sowie Vorsitzende des Arbeitskreises für Gleichbehandlungsfragen an der Universität Graz.
Bild: MOMOOD Photography, Alexandra Neubauer
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