Anlässlich des internationalen Tages der Menschenrechte ordnet Udo Lehmann eine aktuelle Debatte um die liberale Demokratie sozialethisch ein.
Der 10. Dezember ist der internationale Tag der Menschenrechte. Angesichts neuer Kriege, anhaltender Migrationsbewegungen und Rückkehr konfrontativer Machtpolitik kein Tag entspannten Zurücklehnens. In den vergangenen Monaten hat sich ein Diskurs zum Zusammenhang von Demokratie, Liberalismus, Minderheitenschutz und Menschenrechten auf faz.net entwickelt, in den auch Philip Manows Buch „Unter Beobachtung: Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde“ hineinspielt.
In seinem Artikel „Wir brauchen eine Demokratie ohne Adjektive“ beschäftigt sich der Jurist Frank Schorkopf mit der Frage, ob die Verknüpfung der Demokratie mit dem zunehmend inhaltlich aufgeladenen Begriff „liberal“ nicht in eine Schieflage geführt habe.[1] Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist ein dänisches Gesetz, das es Behörden erlaubt, problematische Ghettobildungen in auffälligen Wohngebieten zu korrigieren und so das Interesse des Europäischen Gerichtshofes geweckt hat. Im Raum steht der Verdacht der Diskriminierung aufgrund ethnischer Herkunft. Schorkopf sieht die europäische Intervention kritisch, zumal das Ziel der dänischen Gesetzgebung die Verhinderung von Parallelgesellschaften sei und eine demokratische Mehrheitsentscheidung repräsentiere. Bedenklich ist für ihn eine Entwicklung der liberalen Demokratie, die sich vom Freiheitsgedanken immer mehr zu einem einseitig-inhaltlichen Programm transformiert hätte und durch bürokratische Institutionenbildung kollektiv-demokratischen Gestaltungsraum zunehmend einschränke.
Klar sei aber auch: „Menschenrechte und Demokratie stehen in einer latenten Spannung zueinander, weil naturrechtlich vorgegebene Rechte den politischen Gestaltungswillen der demokratisch legitimierten Mehrheit begrenzen“. Zugespitzt wirft er dann ein: „Doch weder Kritik an liberaler Demokratie noch Rückbau progressiven Zubehörs bedeuten eine Abkehr von der demokratischen Regierungsform, solange deren Kern unberührt bleibt“. Nun findet man sich allerdings mitten in der Auseinandersetzung darüber wieder, was als progressives Zubehör zu gelten habe. Neben einem vom Kern entgrenzten Verständnis liberaler Demokratie beklagt Schorkopf auch deren vermeintliche Instrumentalisierung durch progressive Akteursgruppen und stellt die These auf: „Die liberale Demokratie ist die Handpuppe der Progressiven“. Nicht nur in diesem Zusammenhang widerspricht ihm sein Göttinger Kollege Florian Meinel später an gleicher Stelle und wirft ihm u.a. vor, die besorgniserregenden Entwicklungen, denen die menschenrechtsverpflichtete liberale Demokratie weltweit ausgesetzt sei, unerwähnt zu lassen.[2]
Und tatsächlich ließe sich ein ähnlicher Vorwurf an den rechten Populismus adressieren, der mit der Handpuppe der liberalen Demokratie spielt, um den durch vermeintlich woke, bürokratische Eliten blockierten Volkswillen zu befreien. Nicht selten entpuppt sich dieses Spiel als berechnende Machtpolitik, die Gerichte und Institutionen geringachtet, wenn sie der eigenen Agenda im Wege stehen. Das verheißt wenig Gutes, vor allem nicht für Minderheiten. Als besonders menschenrechtssensibel hat sich eine solche Gemengelage bisher jedenfalls nicht gezeigt.
Kann der Papst liberal sein?
Bereits im Mai diesen Jahres reflektiert Michael Meyer-Resende, ebenfalls auf faz.net, die „Paradoxien des Liberalismus“ und eröffnet seine Überlegungen mit einem Beispiel aus dem katholischen Umfeld nach der diesjährigen Papstwahl und titelt: „Warum der Papst nicht liberal sein kann“.[3] Das Beispiel Papst Franziskus zeige, so Meyer-Resende, dass dieser oft als liberal bezeichnet wurde, es aber in vielen Fragen überhaupt nicht gewesen sei, es als Papst auch nicht hätte sein können. Das mag sein. Aber richtig ist auch, dass Franziskus immer wieder versuchte, Freiheitsräume für Menschen zu öffnen, sie nicht lediglich als Anwendungsfall der Ordnung zu begreifen. Mitunter wurde gemutmaßt dies sei nicht nachhaltig, wenn es sich nicht im Kirchenrecht niederschlage. Dennoch hatte sein Ansatz gewissen Charme, weil Anerkennung und Entfaltung ohne komplexe institutionelle Verfahren umsetzbar schienen. Freiheit ohne strukturelle Überbürokratisierung würden einige der oben erwähnten Autoren vielleicht sagen.
Franziskus versuchte immer wieder, Freiheitsräume für Menschen zu öffnen.
Mit dem Schreiben „Fiducia supplicans“ zum Umgang mit Segnungen von Menschen in irregulären Situationen erschien dann eine Art Zwischenstufe, eine autorisierte Orientierung ohne konkrete Form sozusagen.[4] Kritisch betrachtet ist dieser Versuch weitgehend fehlgeschlagen. Die erwartbaren Reaktionen blieben nicht aus. Den Empörten war es zu viel, den Enttäuschten zu wenig, und viele Betroffene fühlten sich weiter diskriminiert. Denn neben wertschätzenden Passagen wird ausführlich begründet, warum die Beziehungen dieser Personen nur möglichst unauffällig, mehr spontan am Rande gesegnet werden können. Ausschlaggebend dafür ist u.a. keine „Verwirrung“ zu stiften, wie es mehrfach im Schreiben heißt. Diese Menschen möchten mit ihrer Lebensrealität aber gewiss keine Verwirrung stiften. Es ist unwahrscheinlich, dass z.B. wiederverheiratete Geschiedene lebenslange Treue oder queere Menschen den Wert gelingender Ehe und Familie grundsätzlich in Frage stellen, geschweige denn dagegen polemisieren oder Propaganda betreiben, wie zuweilen vorgeworfen wird. Auf entsprechenden Kundgebungen dominieren erfahrungsgemäß keine Plakate, die Ehe und Familie oder verlässliche Beziehungen ablehnen. Es wird dafür eingetreten, den Entfaltungsraum der so gegebenen Persönlichkeit und so gewordenen Lebenswirklichkeit als Gleiche und nicht als Defizitäre in Gesellschaft und Kirche gestalten zu können. Wenn man es so verstehen will, geht es nicht um konkurrierende Lebensmodelle, sondern um menschenrechtliche Anerkennung und Freiräume für die einen, ohne dass den anderen etwas weggenommen wird. Das ist Ausdruck einer klassischen liberalen Grundhaltung, die versucht unterschiedliche Entfaltungsräume in Einklang zu bringen.
Den Empörten war es zu viel, den Enttäuschten zu wenig.
Nun lässt sich eine kirchliche Ordnung, in welcher religiöse Vorannahmen gelten, die in säkularen Kontexten keine normative Rolle spielen, nicht nahtlos auf die freiheitliche Menschenrechts- und Demokratiedebatte übertragen. Allerdings versteht sich die Kirche zunehmend als Verfechterin von Menschenrechten. Sie rückt den gerechten Umgang mit diskriminierten Minderheiten und verletzlichen Gruppen in den Vordergrund und ist insofern auch an diesen selbst gesetzten Standards zu messen. Man kann Papst Leo nur darin unterstützen, unterschiedliche Lebensrealitäten klug und sensibel zusammenzuführen, ohne die eine als Bedrohung für die andere zu verstehen, damit sich menschliches Leben mit- und nebeneinander entfalten kann.
Für eine „Demokratie ohne Adjektive“ ist es zu früh
Am Ende seines Beitrages, in dem es dann nicht mehr um die Frage geht, ob ein Papst liberal sein könne, sondern um die auch von den anderen Autor:innen diskutierte Frage, ob die Rede von liberal bzw. illiberal in Bezug auf die Demokratie weiter zielführend sei, hält Meyer-Resende fest, dass es ausreiche „demokratisch“ zu sein, aber dann vor allem „rote Linien“ im Blick zu behalten seien: „Wann […] ein System das demokratische System von Mehrheitsentscheidung und Gewaltenteilung mit Minderheitenschutz [verlässt].“ Diese roten Linien werden aber nicht sichtbarer und nichts ist wirklich gewonnen, wenn man auf die Rede von der liberalen Demokratie verzichtet. Deren potenzielle Instrumentalisierungen und bürokratische Verzerrungen durch Interessengruppen aus allen politischen Richtungen kann man kritisieren. Aber die mit ihr verbundenen Grundhaltungen, insbesondere der gegenseitigen Zu- und Anerkennung freier Entfaltung und das Aushalten unterschiedlicher Positionierungen sind längst nicht internalisiert, vielmehr scheinen sie zunehmend zu erodieren.
Freilich ist ein spezifisches Sprechen über die Demokratie noch kein Garant für deren gedeihliche Entwicklung. Das Freiheitsversprechen liberaler Demokratien für jede und jeden bleibt nämlich unvollständig, wenn es lediglich als negative oder formale Freiheit verstanden wird. Im Blick müssen nicht nur besagte rote Linien sein, sondern des Menschen Recht, diese Freiheit auch real gestalten und leben zu können. Im November titelte der Tagesspiegel „Der Liberalismus verliert dort, wo er sein Versprechen nicht einlöst“ und bezieht sich auf eine Studie der Berliner Humboldt-Universität.[5] Es braucht also nicht nur Freiheitsräume, sondern auch Ermöglichungs- und Befähigungsstrukturen, die die liberale Demokratie auch zu einer sozialen machen. Die Vorstellung einer „Demokratie ohne Adjektive“, die sich selbst erklärt und dann gemeinwohldienlich verwirklicht, scheint offenbar verfrüht.
___
Beitragsbild: pixabay.com
[1]Schorkopf, Frank: Wir brauchen eine Demokratie ohne Adjektive, faz.net vom 5. Juni 2025 https://www.faz.net/einspruch/demokratie-ohne-adjektive-110510883.html (aufgerufen am 11.11.2025)
[2] Meinel, Florian: Wenn Demokratie ohne Schutz für alle gedacht wird, faz.net vom 20.Juni 2025 https://www.faz.net/einspruch/verliert-die-demokratie-ihre-innersten-werte-110549424.html (aufgerufen am 11.11.2025
[3] Meyer-Resende, Michael: Warum der Papst nicht liberal sein kann, faz.net vom 28. Mai 2025 https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/der-begrenzte-erkenntnisgewinn-von-liberal-vs-illiberal-110502601.html (aufgerufen am 11.11.2025)
[4] Dikasterium für die Glaubenslehre: Erklärung „Fiducia supplicans“. Über die pastorale Sinngebung von Segnungen vom 18. Dezember 2023 https://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2023/12/18/0901/01963.html#DE (aufgerufen am 18.11.2025)
[5] Murašov, Eva: Politische Werte im globalen Vergleich: „Der Liberalismus verliert dort, wo er sein Versprechen nicht einlöst“, Tagesspiegel vom 4. November 2025 : https://www.tagesspiegel.de/wissen/politische-werte-im-globalen-vergleich-der-liberalismus-verliert-dort-wo-er-sein-versprechen-nicht-einlost-14632067.html (aufgerufen am 12.11.2025).


