Die ganze biblische Botschaft in einem einzigen Tweet? Vor dem Hintergrund der jüdischen Herkunft des Christentums liest Gregor M. Hoff Bischof Osters Versuch einer solchen Kurzformel kritisch.
Was nebensächlich erscheint, führt oft ins Grundsätzliche. In einem Interview, das die Katholische Nachrichtenagentur mit dem Passauer Bischof Stefan Oster über Social Media und Künstliche Intelligenz führte, wurde Oster en passant gebeten, die biblische „Kernbotschaft“ im Twitterformat von 240 Zeichen zusammenzufassen.[1] Ein Tweet ist keine dogmatische Abhandlung. Nicht nur der Umfang, sondern auch der Sprachstil geben Grenzen vor: Adressatenorientierte Kommunikation verlangt, auf den Punkt zu kommen. Es braucht pointierte Aussagen, die den Aufmerksamkeitskapazitäten des Publikums Rechnung tragen und zugleich die Position des Verfassers unmissverständlich artikulieren. In Tweet-Länge erbeten, stellt die Bitte an Bischof Oster notwendigerweise eine Überforderung dar. Die erforderliche Konzentration auf das Wesentliche vermittelt allerdings nicht nur, was der medienerfahrene Passauer Bischof als biblische Hauptnachricht versteht, sondern wie er die Heilige Schrift liest:
„Die Bibel erzählt von vorn bis hinten direkt oder indirekt von Jesus Christus. Das ist der eine Schlüssel zum Verständnis. Der andere: Gott ist Liebe, die umsonst ist.“
Christologischer Ansatz
Bischof Oster bezieht sich auf die gesamte Bibel, also auch auf das Alte Testament, den jüdischen Tanach. Seine Lektüre setzt christologisch an und vermittelt sich theologisch mit der Glaubensüberzeugung, dass Gott Liebe sei – eine Formulierung der johanneischen Tradition des Neuen Testaments (1 Joh 4,16b). Auch hier wird deutlich: Oster richtet seine Schrifthermeneutik konsequent christologisch aus. Von einem Bischof ist zu erwarten, dass er seine Sicht der Bibel als Christ zur Geltung bringt. Allerdings umreißt er sie auf eine Weise, die Nachfragen veranlasst. Dabei ist nüchtern festzustellen, dass die christologische Interpretation der gesamten Bibel schon in der Alten Kirche etabliert wurde. Dafür finden sich im Neuen Testament entscheidende Anhaltspunkte, wenn etwa prophetische Traditionen auf Jesus Christus bezogen werden, um seine Bedeutung zu bestimmen. Paulus argumentiert grundsätzlich gemäß den Schriften und stellt den Zusammenhang des Christusgeschehens mit der Tradition Israels her. Deutungskategorien wie Sühne oder Stellvertretung haben in den komplexen Interpretationsprozessen des Neuen Testaments ihren Ort. Die Dokumente des kirchlichen Lehramts haben diese Sichtweise immer wieder aufgegriffen und bestätigt. Zuletzt formulierte das Dokument der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“ im Jahr 2015[2]:
„Gottes Wort ist eine einzige und ungeteilte Wirklichkeit, die sich im jeweiligen geschichtlichen Kontext konkretisiert. In diesem Sinn behaupten Christen, dass sich Jesus Christus als die ‚lebendige Tora Gottes‘ betrachten lässt.“ (Nr. 25; 26)
Das ‚Wie‘ ist die Frage
Damit lässt sich das Alte Testament auf Christus beziehen – wobei die entscheidende Frage ist, wie genau dies geschieht. Kommt die Kontinuität im Leben und in der Botschaft Jesu mit der Überlieferung des Tanach zur Geltung? Oder werden die Schriften des Alten Testaments als eine Hinordnung auf Jesus Christus, sprich: als eine praeparatio evangelii gelesen? Im vatikanischen Dokument findet sich der folgende Hinweis:
„Das Judentum und der christliche Glaube, wie er im Neuen Testament belegt ist, sind zwei Wege, wie die Gemeinschaft des Gottesvolkes sich die Heiligen Schriften Israels zu eigen machen kann. Die Schrift, die die Christen als Altes Testament bezeichnen, ist deshalb offen für beide Wege.“ (Nr. 25)
Entscheidend ist die Festlegung der Deutungsoffenheit und also die theologisch legitime Option einer Schrifthermeneutik, die jüdisch wie christlich den Geltungssinn der Heiligen Schriften Israels bestimmt. Insofern bewegt sich die christologische Konzentration der Bibelkernbotschaft durch Bischof Oster auf lehramtlich stabilem Boden. Dennoch bleiben Fragen offen: Welche theologischen Deutungsvoraussetzungen sind in Osters Satzgefüge wirksam und welche Aussagepragmatik verbindet sich mit ihnen? Aus historischer Perspektive werden die Texte des Alten Testaments im christlichen Nachgang überschrieben, wenn man beansprucht, die „Bibel erzähl(e) von vorn bis hinten direkt oder indirekt von Jesus Christus.“ Zum einen geraten die Verfasser der Texte mit ihrer Glaubenserfahrung und Gottesbestimmung aus dem Blick. Theologie überschreibt Geschichte. Zum anderen erhält die jüdische Sicht auf den Tanach keinen Raum.
Eigensinn des Alten Testaments?
Sie verschwindet mit dem Generalanspruch, dass die Bibel als Ganze nicht nur christologisch gelesen werden könne, sprich: dass Bischof Oster sie in seiner Kurzformel so auffasst, sondern dass sie von ihm erzähle. Der Unterschied ist nicht marginal, denn es geht mit der Feststellung einer narrativen Tatsache um die Differenz zwischen eigener Lesart (für die auch das AT offen ist) und dem Anspruch, dass die Bibel auf Christus hin angelegt sei. Damit verbindet sich auch die Frage, was eine im Sinne der Offenbarungskonstitution Dei Verbum historisch informierte Schriftauslegung im Spiegel christologischer Hermeneutik bedeutet. Kann man den Schriftsinn einfach über sie hinaus – in diesem Fall: christologisch – festlegen? Wie steht es um den Eigensinn der Schriften des Alten Testaments im gegeben historischen Augenblick und das Perspektivrecht ihrer religiösen Situation?
Aus dem Hintergrund spielt das problematische Deutungsschema von Verheißung und Erfüllung in diesen Kontext herein. Es hat die Substitutionstheologie befördert, also die Vorstellung, dass durch den neuen Bund der alte Bund christologisch überholt sei. Dieser Zusammenhang ist theologisch nicht zwingend, aber traditionsgeschichtlich wirksam – vor allem wenn nicht markiert wird, in welche Problemzonen eine christologisch umfassende Deutung des Alten Testaments führt. Im Lehramt von Papst Franziskus wurde jede Form einer Substitutionstheologie korrigiert. „Gott wirkt weiterhin im Volk des alten Bundes“, hält Evangelii gaudium fest (Nr. 249).[3] Das zitierte vatikanische Dokument titelt und argumentiert auf dieser Linie. Daraus folgt u.a. die Absage an jede Form einer Judenmission.
Wie selbstverständlich
Das ist nicht das Thema der theologischen Kurzformel von Bischof Oster. Noch einmal: Es handelt sich um eine auf Anfrage spontan formulierte Antwort. Aber genau deshalb erscheint sie kirchlich von Interesse, weil sich fragt, warum Osters hermeneutische Perspektive wie selbstverständlich von einem Bischof beansprucht wird. Sie löst Nachfragen aus, die sich zwar an der Auskunft von Bischof Oster festmachen, aber auf das Deutungsmodell und seine kirchliche Beharrungskraft verweisen. Sie nehmen Konturen an, wenn man auf einen alternativen Einstieg blickt – den, mit dem die Bibel als Buch beginnt. Oster bezieht sich explizit auf die Bibel „von vorn bis hinten“. Der biblische Ausgangspunkt der Gottesbestimmung als Schöpfer der Welt stellt die theologische Voraussetzung der Schriften des Alten und Neuen Testaments dar. Der jüdisch-christlich geteilte Glaube bildet damit auch die Grundlage der christologischen Interpretationsperspektive.
Bischof Oster wird dies teilen. Ihn treibt kein theologisch verbrämter Antijudaismus um. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk hat Oster unmissverständlich die Aussagen von Nostra aetate bestätigt:
„Wir stehen auf dem Fundament des Judentums. Jesus war Jude, seine Mutter war Jüdin, Josef war … alle Apostel waren Juden. Die verehren wir alle. Und es gibt eine große Kontinuität zwischen dem Volk des Alten Bundes, das immer noch mit Gott unterwegs ist und den christlichen Geschwistern.“[4]
Überschreibung und Ausblendung
Gerade deshalb stellt sich die Frage, warum Oster in seiner christologischen Schrifthermeneutik dieser Einsicht keinen Raum gibt – auch in der gebotenen Kürze des Tweet-Formats. Dass er in einem späteren Teil des Interviews mit katholisch.de die Entdeckung der Personalität ganz dem Christentum zuschreibt, erscheint vor diesem Hintergrund dann so konsequent wie symptomatisch: „Was das Christentum der Welt beigebracht hat, ist: Dass der Mensch Person ist.“ Die Überschreibung und auch Ausblendung jüdischer Glaubenstradition scheint kirchlich nicht wirklich überwunden. Bischof Osters Formulierung der biblischen Kernbotschaft stellt keinen Neben-, sondern auch im Twitterformat einen Hauptsatz dar. Sechzig Jahre nach dem 2. Vatikanischen Konzil stellt sich weiterhin die Frage, wie aus der Weichenstellung von Nostra aetate eine belastbare kirchliche Lebenswirklichkeit wird.
Prof. Dr. Gregor M. Hoff ist Professor für Fundamentaltheologie und Ökumenische Theologie an der Universität Salzburg.
[1] Vgl. Bischof Oster: Elon Musk fährt einen Generalangriff aufs Christentum – katholisch.de (letzter Aufruf: 17.5.2025)
[2] Vgl. Vatikandokument-50-Jahre-Nostra-aetate.pdf (letzter Aufruf: 17.5.2025).
[3] Vgl. „Evangelii Gaudium“: Apostolisches Schreiben über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute (24. November 2013) | Franziskus (letzter Aufruf: 17.5.2025).
[4] Bischof Oster zum Weihnachtsfest – „Ich mache mir Sorgen um unsere Demokratie“ (letzter Aufruf: 20.5.2025).
Bildquelle: Pixabay