Mit „Dilexi te“ hat Papst Leo XIV. sein erstes Lehrschreiben in der Spur und auf der Grundlage der Vorarbeiten von Papst Franziskus veröffentlicht. Johann Pock (Wien) mit einem Kommentar.
Papst Leo XIV. widmet sein erstes Lehrschreiben „Dilexi te“ der Liebe – wie übrigens schon Papst Benedikt XVI. mit seiner ersten Enzyklika „Deus caritas est“ (2005). In 121 Kapiteln legt der Papst zwar noch nicht eine große Einstandsenzyklika, aber eine „Unterweisung“ bzw. „Ermahnung“ (apostolische Exhortation) über „die Liebe zu den Armen“ vor, die eine Fülle an Material zum Thema darbietet.
Dass ein Großteil dieses Lehrschreibens noch von Papst Franziskus vorbereitet worden ist, wird an vielen Stellen explizit benannt – und der Text atmet auch großteils dessen Geist. Das Vermächtnis des einen Papstes wird somit gewissermaßen zum ersten Programm des Nachfolgers.
Die Würde jedes Menschen anerkennen und zusammen für unser gemeinsames Haus Sorge tragen.
Ausdrücklich wird das Schreiben als Fortführung der letzten Enzyklika von Papst Franziskus gesehen – „Dilexit nos“ (DN) vom 24. Oktober 2024, wo es um die göttliche Liebe zu den Menschen geht, sichtbar im Herzen Jesu. Darin hatte Franziskus vor einem Jahr explizit auf seine vorangegangenen Sozialenzykliken Laudato sí und Fratelli tutti verwiesen: „Denn, wenn wir aus dieser Liebe schöpfen, werden wir fähig, geschwisterliche Bande zu knüpfen, die Würde jedes Menschen anzuerkennen und zusammen für unser gemeinsames Haus Sorge zu tragen.“ (DN 217)
An einem Tag, an dem der Welthungerindex 1 feststellt, dass sich die Zahl der Menschen in akuter Hungersnot weltweit von 2023 auf 2024 verdoppelt hat2, eröffnet das Schreiben eine wichtige Perspektive – und zeigt, dass Papst Leo XIV. in einem zentralen Punkt die Linie seines Vorgängers fortzusetzen und weiterzuschreiben gedenkt.
Im Folgenden sollen nicht der ganze Aufbau und Inhalt des Dokuments nachgezeichnet, sondern einige aus meiner Sicht auffallende bzw. zentrale Aspekte hervorgehoben werden.
Im verwundeten Gesicht der Armen sehen wir das Leiden der Unschuldigen und damit das Leiden Christi selbst.
1. Arme sind kein soziales Problem, sondern eine Familienangelegenheit
Durchgehend zeigt Papst Leo XIV., dass ihm das Thema des Schreibens ein Herzensanliegen ist. Es ist keine akademische Abhandlung, sondern ein Aufschrei gegenüber menschenunwürdigen Situationen.
Die Situation der Armen betrifft dabei die ganze Menschheit – und so auch die Kirchen: „Die Lebenssituation der Armen ist ein Schrei, der in der Geschichte der Menschheit unser eigenes Leben, unsere Gesellschaften, die politischen und wirtschaftlichen Systeme und nicht zuletzt auch die Kirche beständig hinterfragt. Im verwundeten Gesicht der Armen sehen wir das Leiden der Unschuldigen und damit das Leiden Christi selbst.“ (DT 9)
Der Papst solidarisiert sich hier interessanter Weise auch mit der UN: „Aus dieser Perspektive ist es sehr zu begrüßen, dass die Vereinten Nationen die Beseitigung der Armut zu einem der Millenniumsziele erklärt haben.“ (DT 10)
Explizit spricht er davon, dass die Christen „die Armen nicht bloß als soziales Problem betrachten“ dürfen (DT 102), denn sie sind vielmehr eine „Familienangelegenheit“. „Die Beziehung zu ihnen darf nicht auf eine Tätigkeit oder eine amtliche Verpflichtung der Kirche reduziert werden.“
2. Christsein heißt politisch sein
Diese Liebe zu den Nächsten, vornehmlich den Armen, zwingt die Christinnen und Christen (und letztlich jede Religion), sich nicht in innere, private Räume zurückziehen. Der Papst sieht Religionen als etwas Öffentliches an. Eine Religion oder eine Kirche, in der „die Gläubigen sich nicht auch um die Probleme der Zivilgesellschaft und die Ereignisse, die die Bürger betreffen, kümmern müssten“ (DT 112), „wird schließlich leicht in einer mit religiösen Übungen, unfruchtbaren Versammlungen und leeren Reden heuchlerisch verborgenen spirituellen Weltlichkeit untergehen“ (DT 113).3
Der Papst wendet sich im Schreiben mehrfach gegen eine Spiritualisierung des Glaubens: „Die Tatsache, dass praktizierte Nächstenliebe verachtet oder lächerlich gemacht wird, als handle es sich um die Fixierung einiger weniger und nicht um den glühenden Kern der kirchlichen Sendung, bringt mich zu der Überzeugung, dass wir das Evangelium immer wieder neu lesen müssen“ (DT 15)
Oder: „Die Nächstenliebe ist der greifbare Beweis für die Echtheit der Liebe zu Gott“ (DT 26)
Wer sagt, dass er Gott liebt, und kein Mitleid mit den Bedürftigen hat, der lügt
Diese tatkräftige Nächstenliebe sieht er sogar als Summe der Theologie der Kirchenväter an: „Aus dieser Perspektive lässt sich zusammenfassend sagen, dass die patristische Theologie eine praktische war, die auf eine arme Kirche für die Armen abzielte, indem sie daran erinnerte, dass das Evangelium nur dann richtig verkündet wird, wenn es dazu anspornt, mit den Geringsten leibhaftig in Berührung zu kommen, und davor warnte, dass strenge Lehren ohne Barmherzigkeit bloß leere Worte sind.“ (DT 48)
Und schließlich mit Augustinus: „Der Lehrer der Gnade sah in der Fürsorge für die Armen einen konkreten Beweis für die Aufrichtigkeit des Glaubens. Wer sagt, dass er Gott liebt, und kein Mitleid mit den Bedürftigen hat, der lügt (vgl. 1 Joh 4,20).“ (DT 45)
Armut ist nichts primär Persönliches oder Schuldhaftes. Es gibt viele strukturelle Gründe. Daher „müssen [wir] uns immer mehr dafür einsetzen, die strukturellen Ursachen der Armut zu beseitigen. Dies ist eine dringende Aufgabe, die ‚nicht warten‘“ kann (DT 94). Er spricht (ab DT 90) von den „Strukturen der Sünde“, welche die Ursache für Armut und extreme Ungleichheit sein können.
Arme sind eine Quelle der Weisheit
3. Die Notwendigkeit der Erziehung und Bildung – und das Lernen von den Armen
Interessant ist, dass Papst Leo hier auch auf die Bedeutung der Bildung eingeht, die ein wesentlicher Faktor ist im Blick auf die Armen. DT 68: „Für die Kirche war die Unterweisung der Armen ein Akt der Gerechtigkeit und des Glaubens.“
Die Unterweisung der Armen sieht er als (christliche) Pflicht an. „Die Kleinen haben ein Recht auf Wissen, das wesentlich zur Anerkennung ihrer Menschenwürde gehört. Sie zu unterrichten bedeutet, ihre Würde geltend zu machen und ihnen die Mittel an die Hand zu geben, um ihre Lebenssituation zu verändern.“ (DT 72)
Zugleich aber hebt er hervor, wie sehr die Kirche auch Lernende ist im Blick auf die Armen: Sie sind selbst Subjekte und nicht nur Objekte der Hilfe. „Die Erfahrung der Armut gibt ihnen die Fähigkeit, Aspekte der Wirklichkeit zu erkennen, die andere nicht zu sehen vermögen, und deshalb ist es für die Gesellschaft notwendig, ihnen zuzuhören.“ (DT 100) Wir sollen uns von den Armen evangelisieren lassen, denn: „Die Armen sind in äußerst unsicheren Verhältnissen aufgewachsen, haben gelernt, unter widrigsten Umständen zu überleben“ (DT 102). Er nennt sie eine „Quelle der Weisheit“ und eine Ermahnung, „unser Leben einfacher zu gestalten“.
4. Verankerung der Armutstheologie in der kirchlichen Tradition
Ein Großteil des Schreibens arbeitet die Fülle an Armutstheologie auf: beginnend mit dem Gott der Armen im Alten Testament, über die Fülle an christologischen Zugängen zur Armut im Neuen Testament, zu den Kirchenvätern, den Orden und Ordensgründern (vornehmlich Augustinus und Franziskus), über das Mittelalter bis hin zu den vergangenen 150 Jahren. Hier werden die großen Sozialenzykliken und die entsprechenden Aussagen der Päpste herausgestrichen. Dass hier sein Namensgeber Leo XIII. mit der ersten großen Sozialenzyklika „Rerum novarum“ nicht unerwähnt bleibt, war zu erwarten, obwohl insgesamt daraus recht wenig rezipiert wird.
Papst Leo XIV. zeigt mit dieser Geschichte auf, dass die Option für die Armen keinen Randbereich kirchlichen Handelns darstellen kann, sondern auch theologisch zum Zentrum gehört. „Die Armen gehören zur Mitte der Kirche“ (DT 111). Und vor allem: „Tatsächlich sind die Armen für die Christen keine soziologische Kategorie, sondern das Fleisch Christi selbst.“ Oder unter Verweis auf seinen Ordensgründer: „Für Augustinus ist der Arme nicht nur ein Mensch, dem geholfen werden muss, sondern die sakramentale Gegenwart des Herrn.“ (DT 44)
5. Päpstliche Sozial- und Wirtschaftskritik
Schließlich stimmt Papst Leo in die deutliche (und vielfach gescholtene) Kritik seines Vorgängers an einer „Wirtschaft, die tötet“ ein: „Es ist daher notwendig, weiterhin die »Diktatur einer Wirtschaft, die tötet« anzuprangern und anzuerkennen, dass »während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, […] die der Mehrheit immer weiter entfernt [sind] vom Wohlstand dieser glücklichen Minderheit.“ (DT 92)
Diese Kritik weitet er (ebenfalls mit Franziskus) aus auf die Folgen des Umgangs mit den Ressourcen und der Umwelt: „Gleichzeitig »können wir es nicht unterlassen, die Auswirkungen der Umweltzerstörung, des aktuellen Entwicklungsmodells und der Wegwerfkultur auf das menschliche Leben zu betrachten«. Denn »der Verfall der Umwelt und der der Gesellschaft [schädigen] in besonderer Weise die Schwächsten des Planeten«. (DT 96)
Als Christen verzichten wir nicht auf die Almosengabe.
Auffallend ist dabei die Verteidigung des Almosengebens, das häufig als reine Stabilisierung von ungerechten Verhältnissen angesehen wird. Papst Leo wendet sich explizit gegen diese Interpretation. Denn neben den großen Aktionen und den Interventionen auch auf struktureller Ebene braucht es auch konkrete Gesten, in denen wir den Armen gewissermaßen ins Gesicht sehen und des Persönlichen des Einsatzes gewahr werden: „Wenn wir in der Welt der Ideen und der Diskussionen verbleiben, ohne persönliche, wiederholte und von Herzen kommende Gesten, wird dies zum Scheitern unserer kostbarsten Träume führen. Aus diesem einfachen Grund verzichten wir als Christen nicht auf die Almosengabe.“ (DT 119)
6. Kurzes Resümee
Mit „Dilexi te“ hat Papst Leo XIV. deutlich Position bezogen, in der Spur von Papst Franziskus weiterzuarbeiten:
- Die explizite Erneuerung der Kritik an menschenverachtenden und armmachenden Strukturen
- die primäre Positionierung der Kirche in der Gesellschaft und dabei die Betonung der Option für die Armen (sicher auch aus seinen lateinamerikanischen Erfahrungen heraus, wie er ausdrücklich schreibt),
- die intensive Verankerung in biblischer Tradition, in den Schriften der Kirchenväter und vor allem in den vielfältigen Ordenstraditionen,
- der Rekurs auf 150 Jahre kirchlicher (vor allem päpstlicher) Soziallehre,
- die klare Abkehr von einer Kirche, die sich auf ein „Inneres“ oder auf Elite zurückzieht.
All das macht Lust auf mehr von diesem Papst.
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Johann Pock, Wien, ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und Gründungs-Redaktionsmitglied von feinschwarz.net
Beitragsbild: https://www.shutterstock.com/de/image-photo/homeless-man-sitting-on-street-shadow-1090614107
- https://www.welthungerhilfe.de/hunger/welthunger-index ↩
- https://orf.at//stories/3407901/ ↩
- Papst Leo XIV. verweist auch auf die Rede von der „Kirche der Armen“, wie sie schon Papst Johannes XXIII. vor dem II. Vatikanum verwendet hat, und was Papst Franziskus vielfach gefordert hat. Vgl. dazu Näheres in: Johann Pock / Regina Polak / Frank Sauer / Rainald Tippow (Hg.), Kirche der Armen? Impulse und Fragen zum Nachdenken. Ein Handbuch, Würzburg 2020. ↩