Angesichts des zunehmenden und zunehmend gefährlich werdenden Fundamentalismus denkt Thomas Söding über das Wächteramt der Exegese nach und zeigt auf, welchen Beitrag sie zur Verbesserung der Politik leisten kann.
Der christliche Fundamentalismus eignet sich die Bibel an. Er will Macht über Seelen, über Menschen, über Gesellschaften, über Staaten erringen und dafür die Autorität der „Heiligen Schrift“ reklamieren. Die Exegese hat ein Wächteramt: Sie muss den Zugriff analysieren, um ihn zu delegitimieren. Sie muss aber auch ein Angebot machen, wie Politik besser wird, wenn sie die Bibel im Blick hat. Der Schlüssel ist die Ethik.
Fundamentalismus hat Auftrieb – die Kirchen sind gespalten
Fundamentalismus gibt es nicht nur in christlicher und auch nicht nur in religiöser Prägung. Der christliche Fundamentalismus zieht Aufmerksamkeit auf sich, weil er lange Zeit politisch harmlos schien, während er jetzt gefährlich wird, und weil er mit den Kirchen eine öffentliche Größe auf seiner Seite wissen will, die unabhängig sein könnte, aber oft nicht ist. In den USA bekommt der Fundamentalismus politischen Auftrieb – und die Kirchen sind gespalten. An Bolsonaros Populismus hat die katholische Kirche in Brasilien Kritik geübt, in Ungarn kommt es zum Schulterschluss zwischen der Regierung Orbán und der katholischen Hierarchie, wenn sich das Land gegen europäisches Recht verschanzt. In Russland munitioniert die Führung der Orthodoxie einen Kampf gegen die Freiheit, der nicht nur mit Worten, sondern auch mit Waffen geführt wird.
Identitäres Denken – religiös aufgeladen
Ein monolithischer Block ist der christliche Fundamentalismus nicht, wie schon die konfessionellen Gegensätze zeigen. Gemeinsames Kennzeichen ist identitäres Denken, das religiös aufgeladen ist: die Abschottung vor Kritik, der Aufbau eigener Stärke durch die Ausgrenzung des Fremden, die Anrufung Gottes zur Verteidigung traditioneller Werte und zur Sicherung der Macht, die sie schütze.
Gegenwärtig überwiegt der rechte,
früher dominierte der linke Populismus
Wo der christliche Fundamentalismus herrscht, werden – im Protestantismus wie im Katholizismus – auf der Rechten konservative bis reaktionäre Positionen vor allem in der Anthropologie und Individualethik vertreten, auf der Linken progressive bis utopische vor allem im Gesellschaftsbild und in der Sozialpolitik. Gegenwärtig überwiegt der rechte, früher dominierte der linke Populismus. Überall spielt die Bibel eine Rolle – nicht nur als zivilreligiöses Symbol bei einer Amtseinführung, sondern vor allem als Bollwerk entweder gegen die liberale Demokratie, gegen Wokeness und „Gender-Wahn“ oder gegen den „Kapitalismus“.
Die Bibel vor Vereinnahmung schützen
Die Aufgabe der Exegese angesichts des Fundamentalismus besteht in einer doppelten Unterscheidung, die zu einer begründeten Entscheidung führt: für die Freiheit. Die Exegese muss zum einen die Sprache der Bibel vor Vereinnahmung schützen, ohne nur auf ihrer Fremdheit zu bestehen, und sie muss zum anderen die Fundamentalunterscheidung zwischen der Kirche und allen politischen Mächten dieser Welt zur Geltung bringen, die Jesus mit der Reich-Gottes-Verkündigung begründet hat.
In die Sprach- und Denkschule der Bibel gehen
Der semantische Kategorienfehler des Fundamentalismus besteht darin, zwar ein wörtliches Verständnis der Bibel zu reklamieren, aber nicht in die Sprach- und Denkschule der Bibel zu gehen, sondern die eigene Sprache mit derjenigen der Bibel zu identifizieren. Der Fundamentalismus lebt von Äquivokationen. Betroffen sind nicht nur zentrale ekklesiologische, anthropologische und ethische Begriffe wie Leib und Volk, Herrschaft und Dienst, Nächstenliebe und Gerechtigkeit, sondern auch Menschen-, Welt- und Gottesbilder. Kreationismus und Intelligent Design sind indiskutabel, aber politisch präsent. Der kulturelle Patriarchalismus, in dem die Bibel entstanden ist, wurde lange Zeit und wird teils immer noch als normativ angesehen. Diejenige Homosexualität, die in der Bibel als Gräuel gilt, weil sie gewaltsame Unterwerfung praktiziert, wird mit jener identifiziert, die heute in Freiheit, Liebe und Verantwortung gelebt wird. Mit Gen 1,26-27, Mk 10,6-8 und Gal 3,28 wird behauptet, es könne und dürfe nur zwei Geschlechter geben, obgleich erst das 19. Jh. rigoros wird, chirurgisch und dogmatisch.
Aneignungen, optische Täuschungen und
gezielte Verzeichnungen aufdecken
Die Exegese muss die Aneignungen, die optischen Täuschungen und gezielten Verzeichnungen aufdecken; vor allem muss sie die biblische Sprache unterrichten: geschichtliches Denken, genaue Lektüre, interkulturelle Kompetenz. Sie muss aus ihrer Kenntnis der Texte und der Zeit, in der sie geschrieben worden sind, das spezifische Gewicht der Aussagen, der Einladungen und Abweisungen, der Gebete und Gebote, der Ermahnungen und Ermunterungen, der Bilder und Formeln der Bibel erschließen.
Die Bibel muss in dem Geist gelesen werden,
in dem sie geschrieben wurde
Nichts ist schon deshalb normativ, weil es in der Bibel steht. Die Bibel muss vielmehr in dem Geist gelesen werden, in dem sie geschrieben wurde. Durch konsequente Exegese entsteht so etwas wie eine Hierarchie der Wahrheiten. Deren Kriterien sind schriftgemäß, wenn sie Kontexte und Gattungen berücksichtigen, differenzierte Ansprüche und überzeugende (oder nicht ganz so überzeugende) Begründungen; sie sind allgemein überzeugend, wenn sie in einem Feld von Bezeugungsinstanzen korreliert werden, wie es zuletzt der „Orientierungstext“ des Synodalen Weges in Deutschland getan hat: Schrift, Tradition, Zeichen der Zeit, Glaubenssinn des Gottesvolkes, Lehramt, Theologie.
Es ist theologisch widersprüchlich,
Sätze der Bibel als politisches Recht zu verstehen
Der politische Kategorienfehler des Fundamentalismus besteht darin, dass er mit der Bibel genuin religiöse Sätze nicht nur als unmittelbar geltende Moral ausgibt (was schon falsch ist), sondern als politisch zu erlassenes Recht durchsetzen will. Dieser Kurzschluss wird von den Rechtswissenschaften abgelehnt, weil er vermischt, was getrennt gehört, die Berufung auf den Willen Gottes und den des Volkes. Aus einem konkludierenden Grund ist es auch theologisch widersprüchlich, Sätze der Bibel als politisches Recht zu verstehen. Zwar kann in großen Teilen der Tora nicht unterschieden werden, ob es sich um religiöses oder um politisches Recht handelt – weil die Unterscheidung zwischen Politik und Religion nicht getroffen wird. Aber mit Jesus und seiner Reich-Gottes-Botschaft wird die Unterscheidung zwischen Staat und Kirche (um es anachronistisch auszudrücken) grundlegend. Diese Unterscheidung bringt einen epochalen Innovationsschub in die Welt der Politik und der Religion; sie ist aber kein Bruch mit dem alttestamentlichen Ansatz, sondern eine Konsequenz.
Sich nicht von der Politik aufsaugen lassen
In der Tora herrscht eine ideale Einheit von Land, Volk und Gesetz, die von dem einen Gott gestiftet wird. Das Gesetz des Mose geht idealtypisch auf die Offenbarung Gottes zurück; Mose übermittelt sie, um dem Volk ein Leben im Land der Verheißung zu ermöglichen, das nicht unter dem Fluch, sondern dem Segen Gottes steht. Dieser Ansatz prägt die Identität Israels, ist aber nicht identitär. Er steht von vornherein in einem Schöpfungs- und verheißungstheologischen Horizont, der universal ist. Das griechische Judentum hat die Übersetzung in die Diaspora geleistet, in das Leben als Minderheit außerhalb Israels. Zur Zeit des Neuen Testaments setzen zwar die Zeloten auf den Gottesstaat; in der Apokalyptik muss alles zugrunde gehen, bevor Gottes Reich kommt. Aber die Pharisäer reagieren kritisch und konstruktiv darauf, dass im Land Israel fremde Mächte regieren, mit denen man auskommen muss, und dass die jüdischen Herrscher oft schlimmer agiert haben als die fremden Eroberer. Deshalb sind die Pharisäer Realpolitiker, die sich nicht von der Politik aufsaugen lassen, sondern ein heiliges Volk sammeln, das unter jeder politischen Herrschaft bestehen kann.
Ein offensives Konzept von Heiligkeit
Jesus verkündet das Reich Gottes, das immer zukünftig und jenseitig bleibt, aber nahegekommen ist. Er teilt den Eifer der Zeloten, setzt aber um Gottes willen auf Frieden durch Gerechtigkeit. Er teilt die Einsicht der Apokalyptiker, dass aus einer politischen Reform nicht das Heil erwartet werden kann, verkündet aber, ohne den eschatologischen Vorbehalt aufzulösen, die prägende Gegenwart des Gottesreiches. Am meisten verbindet Jesus mit den Pharisäern das Konzept der Heiligung des Alltags – auch wenn er nicht ein defensives, ein sondern ein offensives Konzept von Heiligkeit vertritt. Der Schutz der Schwachen vor schlechten Einflüssen bleibt wichtig; aber die ausstrahlende Kraft der Heiligkeit Gottes führt Jesus auf die Wege zu den Verlorenen, den Sündern, den Feinden. Das ist das Markenzeichen der Gottesherrschaft. Deshalb kommt es zu Mission, zuerst vor-, dann nachösterlich, beginnend in Israel und offen für alle Völker.
Glaube – eine spirituelle Größe von enormer politischer Sprengkraft.
Mit der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu wird die Einheit von Wort, Volk und Land Gottes nicht aufgelöst, sondern universalisiert: Das Wort begegnet neu als Evangelium, das Volk sammelt sich aus allen Völkern, die ganze Erde ist das Eigentum Gottes. In all diesen Dimensionen zeichnet Jesus den universalen Horizont der Verheißungen Israels nach; er löst das Gesetz nicht auf, sondern erfüllt es (Mt 5,17-20). Aber durch seine Mission wird der Glaube zum bestimmenden Faktor der Gemeinschaft – eine spirituelle Größe von enormer politischer Sprengkraft. In seiner Reich-Gottes-Predigt nimmt Jesus das alttestamentliche Motiv auf, dass kein König dieser Welt Gott ist, weil Gott der einzig wahre König ist, und dass jeder König dieser Welt vor Gott Rechenschaft ablegen muss. Durch den Neuansatz im Kairos, den er durch seine Person füllt, macht er klar, dass die Gottesherrschaft keinen Gottesstaat begründet, sondern einerseits ein Volk Gottes bildet, andererseits eine politische Ethik formatiert.
Gottes Heil mitten in der Welt wirksam bezeugen
Das Volk, das sich im Namen Jesu aus allen Völkern sammelt, ist nicht durch politische, ethnische, soziale, kulturelle, natürliche Grenzen bestimmt. sondern durch Gott; es siedelt sich aber nicht in einem utopischen Jenseits an, sondern ist mitten in der Welt präsent, um Gottes Heil wirksam zu bezeugen. Durch den Glauben entsteht in der Öffentlichkeit eine eigene Größe: das, was von Paulus – wahrscheinlich mit der Urgemeinde – „Kirche“ genannt werden wird, ekklesia, die Gemeinschaft der von Gott Berufenen, die Stimmrecht in der Versammlung haben.
Nicht die politische Macht übernehmen, aber die Welt verändern
Diese Gemeinschaft will nicht die politische Macht übernehmen, aber die Welt verändern, in der Politik getrieben wird; sie leugnet nicht die Herkunft von Menschen, eröffnet ihnen aber die Zukunft Gottes; sie zerstört nicht das Zusammenleben, sondern befreit es von gesellschaftlichen Zwängen, die sakralisiert worden sind; sie zerstört nicht die Natur, sondern erfüllt sie mit Gnade. Das ist die Freiheit der Kinder Gottes, von der Paulus spricht. Ohne den Geschmack der Freiheit hätte es nicht die Attraktivität des Glaubens gegenüber, der zum Wachstum der Kirche geführt hat.
Die Kehrseite ist die Anerkennung politischer Herrschaft. Sie ist die Pointe des geflügelten Wortes: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist“ (Mk 12,17). Die Sentenz ist nur dann richtig verstanden, wenn sie – wie der Kontext unterstützt – vom Achtergewicht der zweiten Weisung her verstanden wird: Nicht die schiedlich-friedliche Trennung von Politik und Religion ist die Pointe, sondern die Einsicht, dass es um Gotts Willen auch den Bereich des Politischen gibt, der hier durch den „Kaiser“ repräsentiert wird, den damals mächtigsten Mann der Welt. Auch er muss Gott geben, was Gottes ist. Dass er es tut, können weder Jesus noch seine Jünger beeinflussen; aber ob er es tut, können sie beurteilen. Wenn er es nicht tut, ist genau jene offene Kritik an Unrechtstyrannen angesagt, die Jesus den Evangelien zufolge gleichfalls klar zum Ausdruck gebracht hat, und zur Not jener passive Widerstand, in dem Jesus vor Pilatus seine Würde bewahrt.
Entscheidende Differenzierungsleistung
der Reich-Gottes-Botschaft
In der Konsequenz liegt, dass es um Gottes Willen eine Politik braucht, die nicht im Namen Gottes durchregiert, sondern einen „Kaiser“ hat, der weiß, dass er der Gerechtigkeit zu dienen hat, und Menschen, die nicht, weil sie an Gott glauben, Fundamentalopposition treiben, sondern das Ethos und Recht des Politischen anerkennen, weil sie auf Gerechtigkeit setzen.
Hinter die schlechterdings entscheidende Differenzierungsleistung der Reich-Gottes-Botschaft fallen alle politischen Fundamentalisten zurück. Sie behaupten zwar, Gott zu geben, was Gottes ist, beanspruchen aber die Definition darüber und machen sich deshalb selbst zu Gott. Sie stoßen alle vor den Kopf, die den Glauben an Gott nicht teilen, aber auf gute Politik ein Anrecht haben. Auch der Neo-Integralismus, der in katholikalen Gruppen befeuert wird, um einen politischen Primat der Kirche einzuklagen, scheitert an der jesuanischen Differenz.
Das Wächteramt für die jesuanische Unterscheidung übernehmen
Die entscheidende Aufgabe der Kirchen besteht darin, nicht unversehens das Logion umzuformulieren, als ob dem Kaiser zu geben wäre, was des Kaisers ist, und dem Papst, was des Papstes ist. Vielmehr müssen sie erstens das Wächteramt für die jesuanische Unterscheidung übernehmen, zweitens jeden Kaiser dieser Welt entmythologisieren und drittens für eine gute Politik eintreten. Die muss dem Ethos des Politischen folgen, das – der Bibel und der Philosophie zufolge – in der Förderung der Gerechtigkeit besteht. Die Kirchen müssen auch den Prozess der Politik unterstützen, unter Zeitdruck bei begrenztem Wissen und knappen Ressourcen ernste Alternativen zu entscheiden – und Revisionen möglich zu machen.
Macht für Gerechtigkeit einsetzen
Gewaltenteilung, demokratische Willensbildung, funktionale Differenzierung und geordnete Kooperation zwischen Legislative, Exekutive und Judikative lassen sich nicht aus dem Neuen Testament ableiten. Aber die Entlastung der Politik und des Rechts von Sinnstiftung und Wertevermittlung stärkt sie in ihrer genuinen Aufgabe, Macht für Gerechtigkeit einzusetzen. Jesus wusste, was ein guter und was ein korrupter Richter ist, er hatte einen klaren Blick dafür, wie wichtig Ökonomie ist; er konnte zwischen gerechter und korrupter Politik unterscheiden. In diese Tradition müssen sich die Kirchen stellen: gegen den Fundamentalismus, für die Freiheit.
—
Thomas Söding, Jahrgang 1956, Dr, theol., ist Seniorprofessor für Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Er ist Vizepräsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. 2024 erschien im Herder-Verlag: Gottesreich und Menschenmacht. Politische Ethik des Neuen Testaments.
(Foto: ZdK/Peter Bongard)
Beitragsbild: Giotto, Einzug in Jerusalem, Quelle: Wikimedia commons