Wie ein aufgegebenes Kirchgebäude in Ostdeutschland wieder Kraftort wird. Von Lüder Laskowski.
Friedrich Nietzsche sitzt als kleiner Junge in der Kirchenbank und lässt die Beine baumeln, während sein Großvater mit dem Dorf Gottesdienst feiert. Der steht als kräftiger Mann auf der Kanzel, mit großen derben Händen, spricht geistreich und kann fest zupacken. Er bestellt die Felder des Pfarrlehns noch selbst. Über ihm eine goldene Gloriole, umrahmt von mehreren Emporen, alles in Weiß gehalten, abgesehen von einigen großen Gemälden an den Wänden, aus der Cranach-Schule, so wird berichtet.
Über einhundertfünfzig Jahre später ist davon kaum etwas übrig. Bäume wachsen aus der Ruine. Das Gestrüpp steht hoch. Letzte Balkenreste verfaulen im Turm. Der Pfeifenstock der Orgel lehnt an der Wand. 1964 wurde die Kirche ein für alle Mal abgeschlossen. Der Druck der DDR-Behörden verhinderte eine Dachsanierung. Einwohner fledderten nach und nach die Reste. Mit Kirche konnte keiner mehr etwas anfangen. Agonie breitete sich wie ein grauer Schleier über das Sakralgebäude wie das ganze Land. Nach der Wende versandeten Rettungsversuche. 1994 stürzte das Kirchendach endgültig ein, der Turm verlor seine Abdeckung. Irgendwann begannen auch die Außenmauern zu zerfallen. So sieht es aus, als sich fünf Neugierige 2020 mit Astscheren und Kettensäge einen Weg ins Innere bahnen.
Das Gestrüpp steht hoch. Letzte Balkenreste verfaulen im Turm.
Sie sind nicht zufällig da. Die Hallenser Maler Moritz Götze und Rüdiger Giebler suchen einen Ort, um ihre zehn Jahre währende Kunstreise um die Welt „Grandtour. Made in Kaisersaschern.“ zu einem würdigen Abschluss zu bringen. Die beiden und ihre Begleiter wissen um die Geschichte des Landstrichs, insbesondere der Kirchruine St. Gangolf in Pobles bei Lützen. Sie verbinden sie mit dem imaginären Ort „Kaisersaschern“, den Thomas Mann ab 1940 in seinem Roman „Doktor Faustus“ in die Gegend zwischen Naumburg, Halle und Leipzig hineinschrieb. Als Ausgangspunkt für eine Darstellung deutschen Geistes jenseits nationalsozialistischer Verklärung und Instrumentalisierung. In Kaisersaschern verlebt bei ihm Adrian Leverkühn seine Kindheit. Unverkennbar hat er dabei Friedrich Nietzsche vor Augen.
„Kaisersaschern“ als Ausgangspunkt für eine Darstellung deutschen Geistes jenseits nationalsozialistischer Verklärung und Instrumentalisierung
Zügig ist ein Verein gegründet, erste Baumaßnahmen werden getätigt und Kunstaktionen auf die Beine gestellt. Ebenso unaufhaltsam brechen weitere Bedeutungsebenen auf, die sich überlagern und verflechten. Nach mittlerweile fünf Jahren fortgesetzter Aktivitäten lohnt es sich, einmal einen Blick auf die schöpferische Dynamik zu werfen, in die ein ehemaliges Sakralgebäude in Ostdeutschland verwickelt werden kann. Im Fokus der Betrachtung stehen entsprechend an dieser Stelle die Wirkung im näheren Umfeld, dem Dorf, dem Landstrich. Ein Schlüsselwort ist dabei „Bedeutung“, wobei es hier in einem funktionalen Sinne verstanden wird. „Bedeutung“ meint inhaltliche Bezüge, an die plausibel Narrative geknüpft werden können.
inhaltliche Bezüge, an die plausibel Narrative geknüpft werden können
Das Doppeldorf Pobles–Kreischau unweit der Saale ist geschichtssatt. Am Fuße des Kirchberges verlief nach 936 eine Grenze des Ostfränkischen Reiches, späterhin die zwischen den Bistümern Naumburg und Merseburg. Geschichte machende Schlachten sind hier geschlagen worden. Die Bataille von Lützen, in der der schwedische König Gustav Adolf II. fiel, und den Kämpfen um Großgörschen, Teil der Völkerschlacht zu Leipzig, sind die bekanntesten. Als sie abebbten, wurden in der Kirche die stöhnenden blutenden Leiber Verwundeter abgelegt.
Vor allem im 19. Jahrhundert verbinden sich mit dem Ort herausragende Personen deutscher Geistesgeschichte. Friedrich Nietzsche ist eine davon. Der in erster Linie für seine kirchenkritischen Einlassungen bekannte Philosoph scheute keine beißende Kritik. Über Großvater Oehler hat er hingegen kein schlechtes Wort verloren. Wenige Kilometer von Röcken gab es bei ihm in Pobles eine gut sortierte Bibliothek, Liebhabertheater und Hausmusik. Eine ausgeprägte Liebe zur Natur wurde gepflegt. Der Junge war glücklich, wenn er in den Ferien hier sein konnte, frei herumtollen, wie vor Zeiten seine Mutter. „Zwanzig direkte Vorfahren Nietzsches waren Pfarrer, Statthalter musischer Bildung auf dem Lande und Stützen der Obrigkeit“, wie es Jens-Fietje Dwars in einem Essay für den Verein zusammenfasst. „Nietzsche in Pobles“ ist mehr als eine authentische Ortsbestimmung.
Wenige Kilometer von Röcken gab es bei Nietzsches Großvater in Pobles eine gut sortierte Bibliothek, Liebhabertheater und Hausmusik.
Dazu kommen Johann Christian Schubart, von den Habsburgern geadelt als der „Edle vom Kleefeld“. Der Sozial- und Agrarreformer im Geiste der Aufklärung hat in einer begehbaren Gruft unter der Kirche seine letzte Ruhestätte gefunden. Der Dichter der Romantik und Bergbauingenieur Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, welcher als erster systematisch die Braunkohlevorkommen im Umland kartiert hat. Johann Gottfried Seume, der in seinem Geburtsort im Nachbardorf seinen „Spaziergang nach Syrakus“ begann und damit das Genre der sozialkritisch-politischen Reisereportage erfand. Es ließen sich noch einige mehr finden.
Nach Jahrhunderten landwirtschaftlicher Prägung wird die Gegend Anfang des 20. Jahrhunderts sozial, ökonomisch und topografisch von der Industrialisierung überformt. Die Chemieanlagen von Leuna und Buna ragen über den Horizont und der Braunkohleabbau beginnt sich in immer größeren Tagebauen durch die Auen zu fressen. Nach 1945 findet hier eine der ersten großen Enteignungen im Zuge der sogenannten Bodenreform statt. Die Zerrüttung des 20. Jahrhunderts wirkt bis heute nach.
topografisch von der Industrialisierung überformt
Die Mitglieder des Vereins machen sich nichts vor. Die sozioökonomische Lage bleibt schwierig. Der Altersdurchschnitt ist hoch, die Löhne überschaubar. Obwohl sein Ende schon besiegelt ist, frisst sich der Braunkohlebagger weiter heran. Nach dem letzten großen Bruch 1990 erholt sich das Gemeinwesen nur langsam. Der Heimatverein hat den Keller des Gutshauses ausgebaut, dort kann man sich nun wieder treffen. Im weiteren Speckgürtel Leipzigs gelegen, finden sich hin und wieder jüngere Stadtflüchtige, die ein Haus erwerben.
Nach dem letzten großen Bruch 1990 erholt sich das Gemeinwesen nur langsam.
Dieser Flecken Erde posiert nicht. Er ist Provinz. Hier ragen die Sehenswürdigkeiten nicht sichtbar hoch auf. Aber wenn man die Kruste durchstößt, nur einen Spaten tief, quellen die Geschichten heraus. Abseits der großen Welt gelegen, fächert sich lebendige Kultur von geistiger Größe über bescheidene Schlichtheit bis hin zu bornierter Enge auf. Thomas Mann hat das in Kaisersaschern gefasst.
Provinz – aber wenn man die Kruste durchstößt, nur einen Spaten tief, quellen die Geschichten heraus.

2023 folgte „Das große Schlachten“ als Auseinandersetzung mit Gewalttätigkeit in der Gegenwart, ausgehend vom Krieg, den die Gegend in der Vergangenheit gesehen hat. Die Besucher wurden empfangen von einem über die ganze Südseite der Kirche ausgespannten Abzug eines historischen Stiches der Schlacht von Lützen 1632. Den Innenraum prägte ein die gesamte ehemalige Altarwand einnehmendes Foto des im Albertinum Dresden gezeigten Triptychons „Der Krieg“ von Otto Dix, flankiert unter anderem von aktuellen Fotos des ukrainischen Fotografen Alexander Glyadyelov und Abzügen großformatiger Ölgemälde vom schönen Scheitern Europas, wie es Nguyen Xuan Huy sieht. Im Innenraum verwies Dana Meyer, die in der Nachbarschaft ihr Atelier hat, mit Stahlskulpturen auf einen der größten Schlachthöfe Deutschlands, der kaum 15 km entfernt, in Weißenfels steht.
„Das große Schlachten“ als Auseinandersetzung mit Gewalttätigkeit
Und im vergangenen Jahr schließlich kuratierte Christoph Tannert den künstlerischen Erinnerungsraum „Der Kurator. Eine Hommage an Peter Lang.“ und verhalf damit einem Kapitel mitteldeutscher Kunstgeschichte aus der Wendezeit zu öffentlicher Wahrnehmung. Hintergründiges Thema hier die Konsequenzen des großen Umbruchs widersprüchlich in Aufbruch und Scheitern. Es wurde zu Performances, Konzerten, Filmabenden und Lesungen geladen, die immer mit der Landschaft oder dem Ort, ihrer Geschichte und Aura verbunden sind.
Nach Jahren des Vergessens entwickelt die Kirchruine als „Kunstraum Kaisersaschern“ ganz langsam Prägekraft für das Selbstbild des Landstrichs und seiner Bewohner:innen. Gäste aus ganz Deutschland und darüber hinaus sind gekommen. Hier haben sich milieuübergreifende Gemeinschaftserfahrung, positive mediale Aufmerksamkeit, verantwortungsbewusste historische Reflexion, die Entführung in ästhetisch-künstlerische und untergründig auch religiöse Gefilde ereignet. Geschichte, Kunst und Religion als drei Felder, auf denen Menschen sich ihrer Beschaffenheit versichern. Frei nach Immanuel Kant ließe sich das Programm zum heutigen Tag in den Fragen verdichten: „Woher komme ich? Was soll ich tun? Wohin gehe ich?“
milieuübergreifende Gemeinschaftserfahrung, positive mediale Aufmerksamkeit, verantwortungsbewusste historische Reflexion, die Entführung in ästhetisch-künstlerische und untergründig auch religiöse Gefilde
Im fünften Jahr der Aktivitäten wird deutlich, dass sich über das Schlüsselwort „Bedeutung“, wie eingangs definiert, also über eine reflektierte Zusammenstellung von Sinnbezügen, alte Kraftorte wiederbeleben lassen. Bedeutung generiert sich in der Initiative des Vereins und seinen Projekten stark über die Lokalisierung. Die Aufmerksamkeit für den Ort kommt dem inneren Bezugsfeld der Einwohner:innen entgegen. Mithilfe der Kunst, als Mittel zur Annäherung durch Verfremdung, deckt er, um einen Begriff im Sinne Paul Feyerabends aufzunehmen, „Tradition“ auf und macht sichtbar, aus welchen gedanklichen Voraussetzungen Urteile erwachsen. Lokale Tradition zeigt sich und steht unerwartet neben anderen.
über eine reflektierte Zusammenstellung von Sinnbezügen lassen sich alte Kraftorte wiederbeleben
Für Mitteldeutschland in der Sinn- und Deutungskrise ist solch ein Ort wertvoll, denn er eröffnet einen Kommunikationsraum, in dem Widersprüche sichtbar gemacht, jedoch nicht als problematisch denunziert, sondern als Reichtum dargestellt werden. Widersprüche sind spezifisches Charakteristikum dieses kulturell reichen und zugleich geschundenen Landstrichs. Sie werden nun als eigene Tradition identifiziert. Widersprüchlichkeit wird als identitätsstiftendes Merkmal im Dreieck zwischen Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt rekonstruiert und verliert damit etwas von seinem Bedrohungspotential.
ein Kommunikationsraum, in dem Widersprüche als Reichtum dargestellt werden
Obwohl sich all das an einem Ort abspielt, der ein Jahrtausend der Vergewisserung des christlichen Glaubens gedient hat, ist der christliche Glaube nicht mehr offenliegender Referenzpunkt. Viele Ostdeutsche reagieren hypersensibel auf den Versuch, mit einer versteckten Agenda auf religiöse Inhalte zu verweisen. Theologisierend ließe sich das mitten „im Heimatbezirk der Reformation“, wo Thomas Mann das stets imaginäre Kaisersaschern verortet, dennoch als die grundsätzliche Widersprüchlichkeit qualifizieren, in der der Mensch vor Gott steht, als Gerechtfertigter und Sünder zugleich. Selbst wenn diese Tiefenschicht nicht aufgedeckt wird, vollzieht sich doch implizite religiöse Kommunikation in der bewussten Anordnung und Inszenierung von Bedeutung, die das reflektiert.
… implizite religiöse Kommunikation in der bewussten Anordnung und Inszenierung von Bedeutung, die die religiöse Tiefenschicht reflektiert.
Vom 6. September bis 12. Oktober 2025 findet nun mit dem Projekt #8 die vierte Ausstellung statt. Unter dem Titel „Zeitgenössische Emaillekunst aus Deutschland“ entdeckt sie eine in den 1920er Jahren von der Kunsthochschule Giebichenstein in Halle (Saale) ausgehende, in Mitteldeutschland wirkungsreiche künstlerische Ausdrucksform und aktualisiert sie in Positionen von Künstler:innen der Gegenwart. Flächige Werke, unter anderem ein für die Kathedrale in Mechelen neu gefertigter Flügelaltar, finden im Kirchenschiff, Schmuckstücke in der Gruft des „Edlen vom Kleefeld“ Platz. Erweitert wird die Ausstellung durch eine Präsentation der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in der „Dependance Kaisersaschern“ in Halle (Saale). Ein Schlüsselsatz in den Texten der Öffentlichkeitsarbeit lautet: „Die Ewigkeitsaura und die oft strahlenden Farben des künstlerischen Arbeitsmaterials verbinden sich dabei mit der auf Vergänglichkeit verweisenden Ruine von St. Gangolf Pobles, einem authentischen Ort im Leben Friedrich Nietzsches, und der Gruft des ,Edlen vom Kleefeld‘“.
Lüder Laskowski hat nach einer Ausbildung zum Steinmetz/Steinbildhauer in Leipzig und Berlin evangelische Theologie studiert und war nach einer Zeit in der Kulturwirtschaft in Dresden zehn Jahre Pfarrer in und bei Freiberg/Sachsen. Bis Anfang 2024 hatte er eine landeskirchliche Projektpfarrstelle „Stadtentwicklung – Öffentlichkeit – Sozialraum“ beim Ev.-Luth. Kirchenbezirk Leipzig inne. Heute ist er Referent für Gemeindeentwicklung im Dezernat für theologische Grundsatzfragen des Ev.-Luth. Landeskirchenamt Sachsens und Vorsitzender des „Kaisersaschern – Verein zur Pflege von Kunst und Kultur Mitteldeutschlands Pobles“ e.V.
Bilder: Gerd Westermann, Luftbild: Kaisersaschern e.V.



