Anhand der Heilung der Schwiegermutter des Petrus denkt Doris Günther-Kriegel nach, was es heißt, mehr als eine Geschichte von etwas zu haben.
In letzter Zeit begegnet mir der folgende Satz immer mal wieder: „Siehst Du denn nicht, was es alles zu erledigen gibt? Siehst Du das denn nicht?“ Der Salat für die Grillparty der benachbarten WG, das Kostüm für die Klassenaufführung, die Reservierung der Gaststätte, die Geschenke für den Kindergeburtstag, das Gespräch zur Feststellung der Pflegestufe, der Termin bei der Zahnärztin. Es geht um solche ganz alltäglichen Aufgaben. Die müssen bedacht und organisiert werden. Dabei weisen sie eine Gemeinsamkeit auf. Sie finden wenig Beachtung. Sie werden von denen, die sie nicht erledigen, übersehen. Gleichzeitig belasten sie diejenigen, die an all diese Dinge denken. Deshalb sind sie unter dem Namen „Mental Load“ bekannt. Und werden sie mehrheitlich von Frauen übernommen. Frauen stehen im Dienst des Zusammenlebens und der Familienarbeit – jeden Tag aufs Neue. „Siehst Du das denn nicht?“ ist die Frage, die ich mir auch selber stelle. Außerdem frage ich mich, aus welchem Blickwinkel ich die ungleiche Verteilung von Aufgaben zwischen Frauen und Männern in den Blick bekommen und einordnen kann.
Siehst Du denn nicht, was es alles zu erledigen gibt?
Vielleicht bringt mich ein Nachdenken über die drei Verse aus dem Markusevangelium 1, 29–31 dabei weiter. Dort steht: „29 Und alsbald gingen sie aus der Synagoge und kamen in das Haus des Simon und Andreas mit Jakobus und Johannes. 30 Die Schwiegermutter Simons aber lag darnieder und hatte das Fieber; und alsbald sagten sie ihm von ihr. 31 Und er trat zu ihr, ergriff sie bei der Hand und richtete sie auf; und das Fieber verließ sie, und sie diente ihnen.“
Sofort denke ich: „Das ist typisch: eine Geschichte über die Ungerechtigkeit zwischen Frauen und Männern“. Eine Frau ohne Namen, ohne Persönlichkeit und ohne Besitz. Sie lebt im Haus des Simon, ihrem Schwiegersohn. Gerade noch lag sie lebensbedrohlich erkrankt am Boden. Kaum geheilt, steht sie auf und stellt sich in den Dienst einer Gruppe von Männern, die beieinandersitzen, um zu diskutieren. Ich stelle mir das so vor: Noch benommen von der Krankheit, hebt die Frau ihre schweren Augenlieder. Mit Mühe richtet sie ihren Oberkörper von ihrem Krankenbett auf. Langsam stellt sie sich auf ihre schwachen Beine. Da hört sie fremde Männerstimmen, die munter miteinander sprechen. Sie weiß, was von ihr als Frau erwartet wird – einer Frau, die Gäste im Haus hat. Angestrengt holt sie ein paar getrocknete Fische herzu. Die hat ihr Schwiegersohn noch selbst aus dem See gefischt. Sie serviert sie mit Weizenbrei, Oliven und Datteln und einen Krug voller Wein. Sie bringt eine Schüssel mit Wasser und ein Tuch und beginnt den Männern die Füße zu waschen, Fuß für Fuß. Sie ist gebückt, der Blick auf den Boden gerichtet, so als sei sie unsichtbar. Sie fühlt sich schuldig. Sie muss doch dem, der sie gesund gemacht hat, etwas zurückgeben. Ihr ist schwindelig. Alles geht ihr so schwer von der Hand. Der Schweiß läuft ihr den Rücken hinunter: Nachwirkungen vom Fieber. Sie möchte sich wieder hinlegen, ausruhen, durchatmen. Aber diese Wahl hat sie nicht – genauso wenig wie einen Namen. Zum Dienen braucht sie keine Persönlichkeit. Und leise flüstere ich mir zu: „Siehst Du das denn nicht?“
Zum Dienen braucht sie keine Persönlichkeit.
Oder war das ganz anders? Geht die Geschichte vielleicht so? Eine Frau öffnet ihre müden Augen und blinzelt ins Sonnenlicht, das in das Zimmer dringt. Wo bin ich? Mein Haus! Der Schweiß steht ihr auf der Stirn. Ich habe gefiebert. Was ist hier los? Stimmen? Männerstimmen? Fremde? Ist da nicht auch die Stimme von dem, der mich geheilt hat? Ich muss was tun. Schnell steht sie auf, wirft sich ein Stück Stoff über und eilt, die Gäste zu begrüßen – mit Wasser und Tuch. Sie wäscht ihnen die Füße. Sie wäscht schnell und sicher, ohne dass Fragen aufkommen, wie selbstverständlich. Sie tischt auf – alles, was sie – so unvorbereitet – anbieten kann: getrockneter Fisch, Weizengrütze, Oliven, Datteln, Wein. Niemand soll denken, dass sie eine schlechte Gastgeberin sei. Was mögen ihre Gedanken sein? Ich bin da. Das ist mein Zuhause, meine Küche, mein Metier. Ich bin hier die Frau im Haus. Das bisschen Bewirtung ist doch kein Problem. Ich zeige keine Schwäche. Ich bin eine starke Frau – Ich bin eine Schwiegermutter. Ich bin die Schwiegermutter des Simon. Ich mache mir einen Namen als gute Gastgeberin. Das ist meine Geschichte – die Geschichte der Selbstbehauptung einer souveränen Frau. Und wieder lautet meine Frage: „Siehst Du das denn nicht?“
Das ist mein Zuhause, meine Küche, mein Metier.
Ist das die Geschichte, die hier erzählt wird? Oder könnte es noch ganz anders gewesen sein? Eine Frau erwacht wie aus einem viel zu langen Traum. Sie schlägt die Augen langsam auf. Sie spürt einen leichten Windhauch durch das Zimmer wehen. Sie atmet ein und wieder aus, streckt sich – spürt Kraft in Beinen und Händen. Sie erhebt sich von ihrer Matte, steht mit den Füßen fest auf dem Boden. Nebenan hört sie bekannte und unbekannte Stimmen. Hier sind doch Gäste im Haus? Da ist auch der, der mich berührt hat. Sie überlegt, was zu tun ist. Was ist meine Rolle? Was wird von mir erwartet? Was kann ich tun? Was will ich tun? Welche Vorräte habe ich im Haus? Ich will den Gästen da draußen etwas anbieten. Es soll ihnen gut gehen. Sie stellt Fisch, Getreidebrei, Oliven, Datteln und Wein bereit. Sie will den Gästen die Füße waschen. Sorgsam wischt sie Fuß für Fuß trocken. Sie wäscht und trocknet, weil sie es kann. Sie hat die Kraft dazu. Sie ist mittendrin. Sie schaut sich um und denen in der Runde direkt in die Augen. Ihr Haupt ist erhoben. Sie spürt, dass sie das Richtige getan hat. Sie hat sich nicht klein gemacht. Sie hat sich nicht groß gemacht. Mit jedem Fuß, den sie trockenwischt, wächst die Sehnsucht danach, etwas zu tun, die Sehnsucht nach Lebendigkeit. Sie lässt sich den Raum, den sie einnimmt, ihren Raum zum Leben, nicht nehmen – nicht von schwerer Krankheit und nicht von fremden Ansprüchen. Das ist eine Geschichte von einer Person, die spürt, dass sie lebt. Ein Mensch, der atmet, der arbeitet, der tut, was er gut kann – ein Mensch mitten unter denen, die im Hause sind, um Jesus zuzuhören. Und wieder dieselbe Frage: „Siehst Du das denn nicht?“
Mit jedem Fuß, den sie trockenwischt, wächst die Sehnsucht danach, etwas zu tun, die Sehnsucht nach Lebendigkeit.
Was mache ich nun mit diesen drei Geschichten – mit drei unterschiedlichen Geschichten von einer Frau, die einer Handvoll Männern einen Dienst tut. Eine Geschichte handelt von Unterdrückung, eine zeugt von Selbstbehauptung, die letzte erzählt vom Durst nach Leben. Aber welche der Geschichte gilt denn nun? Wonach kann ich mich richten? Sind alle drei gleich gültig? Ich beginne über diese Fragen nachzudenken. Langsam glaube ich, dass mich solche Fragen einengen. Sie engen meinen Blick auf den Text ein. An ihre Stelle könnte eine andere Frage treten: Was geschieht, wenn ich keine der drei Geschichten von vornherein ausschließe? Was ist, wenn ich alle drei auf ihre je eigene Weise gelten lasse? Die drei biblischen Verse von der Frau machen genau das möglich. Sie lassen Platz für mich. Sie lassen Raum dafür, mich persönlich ansprechen zu lassen. Wie will ich diese Frau sehen? Als Namenslose? Als Schwiegermutter des Simon? Als lebendiger Mensch?
Die drei biblischen Verse von der Frau machen genau das möglich. Sie lassen Platz für mich.
Wenn ich nur eine Geschichte von dieser Geschichte habe, wenn ich nur eine Wahrheit gelten lasse, verliere ich Möglichkeiten, mich von ihr berühren oder aufwühlen zu lassen. Alle drei Geschichten stehen zu lassen, bewahren mich vor der Gefahr, die biblische Erzählung nur in eine einzige Richtung festzunageln. Dabei geht es nicht um falsche Vorstellungen oder eindeutige Interpretationen. Die Schwiegermutter entscheidet – vielleicht in Sekundenschnelle – was sie tut, welche Erwartungen es gibt, welche sie erfüllt und welche nicht. Die Interpretation der Geschichte als Unterdrückungsgeschichte einer Namenslosen funktioniert unter einer bestimmten Annahme. Wenn nämlich angenommen wird, dass der Dienst der Schwiegermutter von den Männern im Hause erwartet wird. Wenn sie keinen Handlungsspielraum hatte. Was aber, wenn ihr Dienst gar nicht erwartbar war? Was, wenn er selbst gewählt war? Und wieder spreche ich mich selbst an: „Siehst Du das denn nicht?“
Was aber, wenn ihr Dienst gar nicht erwartbar war? Was, wenn er selbst gewählt war?
Es geht um solche Fragen und weniger darum, Antworten zu geben. Es geht um die Frage, welche Handlungen und welche Rollen den Personen im Text zugewiesen werden können. Ich habe keinen unmittelbaren Zugriff auf das Überlieferte. Ich habe eine Erzählung – und die kann mir vieles sagen. Es gibt nicht die eine Geschichte. Hier handelt es sich um eine Erzählung über Ungerechtigkeit gegenüber Frauen. Gleichzeitig ist eine Geschichte über weibliche Selbstbestimmung. Und es ist eine Geschichte, die von der menschlichen Sehnsucht nach Leben erzählt. Es gibt viele Geschichten von der Frau, die hier als Schwiegermutter des Simon, in Erscheinung tritt. Das, was ich mir von dieser biblischen Erzählung sagen lasse, sagt auch vieles über mich selbst. „Siehst Du das denn nicht?“
Was ich mir von dieser biblischen Erzählung sagen lasse, sagt auch vieles über mich selbst.
Mehrere Geschichten nebeneinander zu stellen, bewahren mich vor der Gefahr, nur eine einzige Wahrheit über die Menschen um mich herum zu haben. Welche Geschichten habe ich im Kopf? Welche Geschichte ist es, die das Bild prägt, das ich habe von: von meinem Bruder, von meiner Kommilitonin, von der Jugendlichen in den Nachrichten über das Flüchtlingslager, von meinem Schwiegervater, von mir selbst? Welche Geschichten könnten noch erzählt werden – von meiner Sporttrainerin, von meinem Partner, von der Frau auf der Kaffeepackung?
Wenn ich die eine Geschichte, die ich von einem Menschen habe, um eine weitere Geschichte ergänze, beginne ich, anders auf ihn zu schauen. Meine Lebensgefährtin, mein bester Kumpel, ich selbst sind vieles und vieles zugleich. Das zu sehen, weitet den Blick für die Menschen um mich herum und für mich selbst. Das öffnet den Raum für Begegnung, für Leben. Dieser Raum kann offengehalten werden, wenn er nicht von nur einer einzigen Geschichte eingenommen wird – oder: von drei Versionen derselben Geschichte. „Siehst Du das denn nicht?“
Wir alle sind vieles und vieles zugleich.
Auch von Simons Schwiegermutter kann noch auf ganz andere Weise erzählt werden: So wie es die Bibel in gerechter Sprache versucht: „29 Sobald sie die Synagoge verlassen hatten, gingen sie mit Jakobus und Johannes in das Haus von Simon und Andreas. 30 Die Schwiegermutter des Simon aber lag fiebernd danieder und sofort erzählten sie ihm von ihr. 31 Er ging zu ihr, ergriff ihre Hand und ließ sie aus der Krankheit heraus auferstehen. Da ließ das Fieber sie los, und sie wurde wie die anderen eine Nachfolgerin Jesu.“
eine Geschichte über einen Dienst, der sich nicht an nur einem einzigen Maßstab messen lässt
Was ist das für eine Geschichte? Ein Mensch liegt im Fieber, träumt, wälzt sich hin und her, zittert. Dabei wird diese Frau berührt, angerührt. Sie spürt, wie die Krämpfe sich lösen. Sie spürt sich wieder selbst. Die Frau öffnet die Augen und sieht: Menschen, die sie erwartungsvoll anblicken. Sie erkennt Simon. Gelöst liegt sie auf der Matte. Sie öffnet ihren ausgetrockneten Mund – und beginnt Worte zu formen. Die, die um sie herumsitzen, hören ihr zu. Sie lauschen, wie sie von dem erzählt, was sie gesehen hat. Sie schweigt nicht über das, was sie durch Jesu Berührung erlebt hat. Sie ist eine, die Jesus nachfolgt. Sie gehört zu denen, die dienen. Das ist eine Geschichte über einen Dienst, der sich nicht an nur einem einzigen Maßstab – wie dem der Geschlechtergerechtigkeit oder dem der sozialen Gleichheit – messen lässt. Hier bleibt etwas unermesslich. „Siehst Du das denn nicht?“
Dr. des. Doris Günther-Kriegel ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Beitragsbild: HPDorn/ Pixabay


