Albrecht Grözinger bedenkt mit der Festschrift für Helmut Schwier Übergänge der Praktischen Theologie.
Jede Institution bildet ihre eigenen Rituale aus. Das gilt auch für die Institution der europäischen Universität. In deren Ritualensemble spielt eine Situation eine ganz besondere Rolle: wenn ein Professor, eine Professorin die aktive Lehrtätigkeit beendet und in den Ruhestand eintritt – Emeritierung lautet der alteuropäische Begriff dafür. Man geht nicht einfach weg, und man wird noch weniger (wenigstens in den allermeisten Fällen) wie ein alter Hund vom Hof gejagt, sondern in einem rituellen Prozess würdig verabschiedet. Das Ritual der Emeritierung kann aus drei Elementen bestehen: einer Abschiedsvorlesung, einer Festschrift und neuerdings vermehrt einem Symposion. Ein „rite de passage“ im klassischen Sinne also.
Man geht nicht einfach weg, und man wird noch weniger wie ein alter Hund vom Hof gejagt …
Alle drei Elemente bestimmten auch die Emeritierung von Helmut Schwier, der von 2001 bis 2024 als Professor für Neutestamentliche und Praktische Theologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg forschte und lehrte. Die Festschrift zu seiner Emeritierung, die auf ein Symposion zurück geht, trägt den Titel „Christus predigen – in Wort, Tat und Ton. Interdisciplinary Approaches and International Explorations“. Sie ist von Christine Böckmann, Christine Wenona Hoffmann und Henrik Imwalle herausgegeben und im Jahre 2025 in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig erschienen.
Ich möchte nun dieses Buch nicht einfach rezensieren, sondern es zum Ausgangspunkt nehmen, um über die Wandlungen des Faches Praktische Theologie im protestantischen Bereich nachzudenken. Ich bin mit dem Fach Praktische Theologie seit beinahe 60 Jahren in den verschiedensten Stadien meines Lebens „verbandelt“: als interessiert lesender Gymnasiast, als Student, als Doktorand und Habilitand, als Vikar und Pfarrer, schliesslich als Professor an verschiedenen Universitäten in Deutschland und in der Schweiz. Was hat sich in diesem Fach in dieser Zeit verändert, und wo stehen wir heute?
die Wandlungen des Faches Praktische Theologie im protestantischen Bereich
Ich nehme mit meinen Überlegungen den Ausgang von einer Bemerkung der badischen Landesbischöfin und Heidelberger Professorin Heike Springhart, die von einem gemeinsamen Gang mit Helmut Schwier über die berühmte Alte Brücke in Heidelberg geht, der Friedrich Hölderlin und Gottfried Keller in berühmten Gedichten ein literarisches Denkmal gesetzt haben. Als „personifizierte Alte Brücke“ hat Heike Springhart ihren Kollegen Helmut Schwier bezeichnet. Hölderlin hat diese Brücke als einen Ort besungen, an dem ein Zauber des Übergangs, ein Zauber von Ferne und Weite erfahrbar wird. Mit diesen Worten lassen sich auch die Wandlungen des Faches Praktische Theologie beschreiben, die mir in der Lektüre der Festschrift noch einmal deutlich wurden. Ich benenne im Folgenden einige dieser Übergänge, die sich durchaus als Weitungen verstehen lassen.
Bereits der Titel der Festschrift „Christus predigen – in Wort, Tat und Ton“ markiert einen solchen Übergang und eine solche Weitung. Zu Beginn meines Studiums bis weit in die Anfänge der 1980er-Jahre hinein, stand die Praktische Theologie und vor allem die Homiletik im Banne der „Sprache“. Zunächst durch die Wort-Gottes-Theologie, die die Verkündigung als gleichsam genuines und von allen anderen Sprachbemühungen scharf abgegrenztes „Sprachereignis“ verstand. Die darauf folgende Hinwendung zur Rhetorik (Gert Otto, Manfred Josuttis) hat diese Konzentration auf Sprache eher noch verstärkt. Erst die Einbeziehung der Ästhetik ab Mitte der 1980er-Jahre weitete den Begriff der religiösen Kommunikation über den Bereich der Sprache hinaus. In der vorliegenden Festschrift wird diese Weitung ganz selbstverständlich vorausgesetzt, wie etwa in den Beiträgen von Anni Hentschel „Theologische Begründungsansätze sozialen Handelns im Neuen Testament“ und von Elsabé Kloppers „Singing for God‘s Blessing. Faith Embodied, Existence Shared, Hope Sounded“.
Die Einbeziehung der Ästhetik weitete den Begriff der religiösen Kommunikation über den Bereich der Sprache hinaus.
Bereits Friedrich Schleiermacher hatte in seiner „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums“ die Theologie als eine notwendig „konfessionelle“ Wissenschaft begründet. Dies galt in der Folge für die Praktische Theologie in verstärktem Masse. Keine andere theologische Disziplin war derart konfessionell orientiert (und man kann durchaus sagen: eingeengt!) wie die Praktische Theologie. So fand etwa der homiletische Diskurs um die Rhetorik im Binnenbereich der protestantischen Praktischen Theologie statt, obwohl es im katholischen Bereich bemerkenswerte Ansätze dazu gab (Gonsalv Mainberger, Rolf Zerfaß).
Blickt man nun in die Festschrift, so sieht man, dass sich dies grundsätzlich gewandelt hat. Katholische Verfasser:innen reihen sich ganz selbstverständlich ein bis hin zu einem Beitrag aus einem explizit katholischen Praxisbereich (Benedikt Kranemann „Segensfeiern in der katholischen Kirche“). Kritisch würde ich an dieser Stelle anmerken, ob man an dieser Stelle noch einen Schritt weiter gehen sollte in den interreligiösen Bereich hinein.
Keine andere theologische Disziplin war derart konfessionell eingeengt wie die Praktische Theologie.
Die protestantische Praktische Theologie meiner Studien- und Promotionszeit war auf ganz selbstverständliche Weise deutschsprachig, und das heisst inhaltlich auf diesen Sprachraum bezogen und weithin begrenzt. Die Praktische Theologie folgte sehr zögerlich der Exegese und Systematischen Theologie, die die Begrenzung auf den deutschen Sprachraum sehr viel früher überwunden hatten. Hier zeigt sich der Wandel am deutlichsten. Der Untertitel der Festschrift präsentiert sich in englischer Sprache. Fünf der dreizehn Abhandlungen sind in englischer Sprache verfasst.
Der Wandel in der Sprachform verweist auf eine sehr viel gewichtigere inhaltliche Veränderung. Die Praktische Theologie hat sich auf den Weg gemacht, ihren Eurozentrismus hinter sich zu lassen. Exemplarisch dafür kann der Artikel von Maike Maria Domsel stehen „From Eurocentrism to Multiperspectivity. On the Decentering of Religious Norms in Images of Christ – A Thought Experiment in Religious Education.“
Die Praktische Theologie hat sich auf den Weg gemacht, ihren Eurozentrismus hinter sich zu lassen.
Der – zumindest mir – am Gewichtigsten erscheinende Wandel lässt sich noch einmal an einer ganz anderen Stelle ablesen. In den frühen 1970er-Jahren gab es im weiteren Bereich der Praktischen Theologie gerade mal zwei Professorinnen – nämlich Uta Ranke-Heinemann (katholisch) an der Pädagogischen Hochschule in Neuss und Marie Veith (evangelisch) an der Justus-Liebig-Universität in Gießen.
Heute teilen sich in die Herausgeberschaft der Festschrift für Helmut Schwier zwei Theologinnen und ein Theologe. Die Beiträge selbst sind von sieben Theologinnen und von acht Theologen verfasst. Das bleibt den Beiträgen und der Praktischen Theologie nicht äusserlich. Viele Themen, die heute den praktisch-theologischen Diskurs bestimmen, wurden von Theologinnen in diesen Diskurs eingebracht. Themen wie Vulnerabilität (Andrea Bieler, Heike Springhart), Gender (Isolde Karle), Migration (Judith Könemann), Schwellenkunde (Ulrike Wagner-Rau), Theologie der Freude (Isabella Guanzini) – jetzt mal nur so exemplarisch.
Viele Themen, die heute den praktisch-theologischen Diskurs bestimmen, wurden von Theologinnen eingebracht.
Vom „Zauber“ der Alten Brücke in Heidelberg hat Friedrich Hölderlin gesprochen. Und Gottfried Keller wünschte sich in seinem Gedicht über dieselbe Brücke „Trage leicht die blühende Gestalt! Schöne Brücke“. Wahrscheinlich würden wir die Praktische Theologie heillos überfrachten, würden wir diese hohen Erwartungen an sie richten. Aber etwas von diesem Brückenzauber habe ich bei der Lektüre der Festschrift für Helmut Schwier schon gespürt. Und die badische Landesbischöfin hatte wohl eine gute Intuition, wenn sie dem mit dieser Festschrift Geehrten die Metapher der Alten Brücke in Heidelberg anverwandelte. Wer etwas von der Brückenfunktion der Praktischen Theologie – und wenn’s gut kommt: auch Brückenfaszination, wie sie in den Gedichten von Hölderlin und Keller aufscheint – an einem exemplarischen Beispiel erleben möchte, dem oder der sei die Lektüre dieses Buches ans Herz gelegt.
Prof. em. Dr. Albrecht Grözinger lehrte bis 2016 Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Basel.


