Silvia Schroer wirft einen doppelten Blick auf Bert Brechts Stück «Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny». Sie bringt es sowohl mit der aktuellen politischen Situation als auch mit der Bibel ins Gespräch. Diese war eine wichtige Inspirationsquelle für Brechts literarisches Schaffen und seine politischen Analysen.
Die politischen Ereignisse in den USA überschlugen sich schon, als mir Bertolt Brechts „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ wieder in die Hände kam. Darin gibt es ganze Passagen, die ohne weiteres wie Kommentare zum aktuellen Zeitgeschehen im Radio hätten vorgetragen werden können. Denn Mahagonny ist das ultimative Miami. Brecht entlarvt mit seiner marxistischen Analyse und im Rückgriff auf biblische Motive und Grundgedanken den Kern des Kapitalismus und dessen Menschenbild.
Die klare Sprache und seine dialektische Kunst, auf die Rückseite aller Dinge zu schauen, machen die Lektüre zu einer Art Achterbahnfahrt. Was erzählt wird, ist schrecklich und entlarvend, aber es wird – noch nicht den späteren Lehrstücken des epischen Theaters entsprechend – unterhaltsam spannend erzählt und lebt dabei von Ironie, Spott und Sarkasmus.
Wie anderen Werken von Brecht muss man auch diesem eine hohe prophetische Leistung attestieren, wobei einige globale Entwicklungen Brechts satirische Fiktion derzeit fast in den Schatten stellen. Es ist kein Zufall, dass sich Parallelen zwischen kritischer Fiktion von Kulturschaffenden vor hundert Jahren und aktueller Zeitgeschichte geradezu aufdrängen. Nur ein Beispiel: Auf der anderen Seite des Atlantiks wurde 1927 das Musical „Strike Up The Band“ von George Gershwin aufgeführt, in dem es um einen Käsekrieg geht, den Amerika mit Schutzzöllen gegen die Schweiz anzettelt.[1]
Bertolt Brechts Werke hatten in den letzten Jahren nicht gerade Hochkonjunktur, schon gar nicht in der Schweiz. Im Jahr 1998 wäre Brecht hundert Jahre alt geworden (geboren 10.2.1898, gestorben 14.8.1956). Gemeinsam mit dem Berner Germanisten Hans Holl bot ich damals ein kleines Seminar zum Thema „Bert Brecht und das Alte Testament“ an. Auf eine erneute Ausschreibung dieses Seminars 25 Jahre später meldete sich niemand an. Dass ich als Feministin und Bibelwissenschaftlerin Brechts Texte nie auf die Seite legen konnte, obwohl er bekanntermassen ein egomanischer Charakter war und in seinem Leben mehrere Frauen unglücklich gemacht hat, hat einen besonderen Grund: Brecht kannte die Bibel. Er hat sie in einer Tiefe gekannt und für seine Stücke, die Gedichte und Prosa-Texte aus ihr geschöpft. Das macht nachdenklich und inspiriert zu einem souveränen Umgang mit der Bibel.
Bert Brecht und die Bibel
Brecht war mit den biblischen Texten vom Elternhaus her und durch den Schulunterricht vertraut. Seine Mutter plagte noch den bereits Konfirmierten mit der Aufforderung zum Bibellesen. Brecht verstand sich als Atheist, und so war die Bibel für ihn einerseits ein Buch ohne Autorität. Andererseits fesselten ihn die Geschichten, Motive und Figuren, insbesondere des Alten Testaments, aber auch des Neuen Testaments. Sie berührten ihn über das Literarische hinaus.
Etwas wie eine traurige Erinnerung an diesen Gott
Auch wenn er Gott hinter sich gelassen hatte, faszinierte ihn die biblische Tradition, die Gerechtigkeit proklamiert und Ungerechtigkeit denunziert. In seinem Ringen mit der Sinnlosigkeit von verschleuderten Menschenleben scheint manchmal etwas wie eine traurige Erinnerung an diesen Gott und Gottesglauben, der den Elenden eine Zuflucht war oder ist, auf. Brecht hatte den Lückenbüsser-Gott längst zugunsten des neuen Menschen, der die Welt ohne einen Gott versteht und sie technisch erobert, verabschiedet, aber der Gott und der Glaube der Elenden und der Sterbenden, die um ihr Leben betrogen wurden, beschäftigten ihn. Bert Brechts Atheismus und die altisraelitische Religion treffen sich in der vollständigen Diesseitsbezogenheit.
Mahagonny – die Story
Brecht war 32 Jahre alt, als in Leipzig 1930, ein Jahr nach dem Börsencrash an der Wall Street, die Uraufführung der gleichnamigen Oper stattfand, die Kurt Weill komponiert und zu der Brecht das Libretto geschrieben hatte. Es gab massive Proteste und Störaktionen, denn weder den konservativen Bürgerlichen noch den aufsteigenden Nationalsozialisten passte der Inhalt dieser Oper.
1. Akt
Auf der Flucht vor der Polizei irgendwo in Amerika gründen die Witwe Begbick, der Prokurist Willy und Dreieinigkeitsmoses die Stadt Mahagonny. Statt selbst weiter nach Gold zu suchen, wollen sie in der „Netzestadt“ den erfolgreichen Goldgräbern, aber auch ärmeren Schluckern ihr Gold oder Geld in Bars und Bordellen abknöpfen. Eine Gruppe von Prostituierten und vier Holzfäller aus Alaska stehen für die wachsende Bevölkerung einer paradiesischen Stadt mit Anziehungskraft. Doch das Geschäftsmodell funktioniert nicht recht, bald folgt die Krise: sinkende Preise, weniger Kundschaft. In Mahagonny läuft nicht genug, die Vergnügungen erschöpfen sich. Die Mahagonny-Woche „Sieben Tage ohne Arbeit“ (336,23[2]) ist auch nach den Entbehrungen von sieben Jahren Holzfällen in Alaska nicht genügend attraktiv. Ein vernichtender Hurrikan, der auf die Stadt zurast, bringt eine Wende. Angesichts des drohenden Untergangs erlässt Paul Ackermann ein neues Gesetz für Mahagonny: „du darfst“ – alles ist erlaubt. Es gibt nur ein einziges Verbot: In dieser Stadt steht unter Todesstrafe, kein Geld zu haben (355-361).
2. Akt
Da der Hurrikan einen Bogen um Mahagonny macht, nimmt das Schicksal einen unvorhergesehenen Lauf. Das neue Gesetz ging nicht mit Gerechten und Ungerechten im Sturm unter, sondern wird nun in einer wieder florierenden Stadt gelebt. Einer der Holzfäller stirbt, weil er sich überfrisst, einer stirbt bei einem Preisboxen. Und Paul Ackermann kann zu guter Letzt den Whisky nicht zahlen, den er den Männern von Mahagonny ausgegeben hat. So geht er seiner eigenen Gesetzgebung in die Falle und wird festgenommen.
3. Akt
Niemand will für Paul zahlen, auch seine alten Freunde und seine Geliebte Jenny nicht. Die übliche Bestechung bei der Gerichtsverhandlung funktioniert in seinem Prozess nicht. Er wird für mehrere fingierte Straftaten, insbesondere aber seine Zechprellerei, zum Tod verurteilt. Nach einem kurzen „Auftritt“ Gottes endet die Oper mit dem Untergang der Stadt Mahagonny.
Biblische Bezüge im Stück – eine Auswahl
Brecht hat biblische Texte nie als Steinbruch für Zitate oder Anspielungen benutzt, er greift eher auf ganze Erzählzusammenhänge und Bilder zurück. Nur einige wichtige Bezüge können hier genannt werden.
Mahagonny wird mitten in der Pampa gegründet, weil das kriminelle Gründertrio es aufgibt, weiter nach dem „verheissenen Land“ an der Küste (Goldgruben) zu suchen. Die Wüstenwanderung wird zu einem reinen Business-Unternehmen, angeführt von zwei geschäftstüchtigen ProtagonistInnen, der Witwe Begbick und dem Prokuristen Willy. Dreieinigkeitsmoses steht mit seinem Namen zugleich für die jüdische und die christliche Tradition, die sich an der Stadtgründung und der Geschäftemacherei beteiligen.
Mahagonny – Babylon
Das Hauptmotiv ist die Stadt. „Lasst uns eine Stadt gründen“, das ist der Auftakt der sogenannten Turmbaugeschichte in Genesis 11,4. In der biblischen Geschichte geht es um die Hybris menschlicher Macht und imperialer Kulturen, die andere „gleichschalten“, weshalb Gott eine Sprachenverwirrung anrichtet: „Daher heisst die Stadt Babel“ (Gen 11,9).
Der Name Mahagonny enthält dieselben Vokale wie Babylon. Babel ist in biblischen Texten das Inbild der verruchten und dem Untergang geweihten Stadt (Jesaja 47), im Neuen Testament verglichen mit einer Hure (Offenbarung 17-19). Die Metropole steht symbolisch für imperiale, ausbeuterische, selbstherrliche Macht. Jüdische und christliche Apokalyptiker meinten Rom, wenn sie Babylon sagten.
Die Stadt geht zugrunde an ihrer Bosheit
Die biblische Tradition hat gegenüber Städten eine ambivalente Haltung zwischen Faszination und Schrecken. Städte wurden mit einigem Argwohn betrachtet, die Erfahrungen mit Städtern waren nicht immer gut. So baut Brecht in sein „Mahagonny“ auch einen Kern der biblischen Erzählung von Sodom und Gomorrha in Gen 18-19 ein. Die Stadt Sodom ist voll von Unrecht, das sich in sexueller Gewalt gegen die Gäste Lots und im Mordanschlag auf ihn und seine Familie erweist. Die letzten Gerechten in Sodom gehen den Verbrechern ins Netz (zur biblischen Netzmetaphorik vgl. Micha 7,2-3). Die Gerechtigkeit wird am Ende durch den Eingriff Gottes, der die Stadt mit einem Schlag vernichtet, wieder hergestellt, doch gibt es nur drei Überlebende. Die Stadt geht zugrunde an ihrer Bosheit.
Den Untergang von Mahagonny mitsamt allen Gerechten und Ungerechten (360,12) scheint zunächst ein aufziehender Hurrikan zu besiegeln, aber dieser Schicksalsschlag erübrigt sich dann sozusagen.
Wir brauchen keinen Hurrikan
Wir brauchen keinen Taifun
Denn was er an Schrecken tun kann
Das können wir selber tun. (357,29-32)
Mahagonny geht zugrunde am „du darfst“. Den zehn Geboten, den Tafeln der Witwe Begbick, stehen die grossen Erlaubnisse der neuen Moral von Paul Ackermann gegenüber, nämlich Fressen, Sex, Prügeln, Saufen.
Erstens, vergesst nicht, kommt das Fressen
Zweitens kommt der Liebesakt
Drittens das Boxen nicht vergessen
Viertens Saufen, laut Kontrakt.
Vor allem aber achtet scharf
Dass man hier alles dürfen darf.
(wenn man Geld hat.) (362,10-13)
Du darfst nie kein Geld haben
Über allem steht das eine Gebot oder Verbot: du darfst nie kein Geld haben. Es ist die absolute Verpflichtung gegenüber dem Mammon, die an die Stelle des biblischen Gebotes der Gottesverehrung tritt. In der alt- und neutestamentlichen Diktion gilt die übermässige Orientierung an Gold und Profit als Verehrung von falschen Göttern (Götzendienst).
Auf die biblische Kritik an Habsucht, Ausbeutung und Anhäufung von Reichtum, sowohl in prophetischen wie weisheitlichen Schriften, und die zugespitzte Mahnung „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mattäus 6,24) kann bis heute jede Kapitalismuskritik Bezug nehmen.
Der dritte Akt der Oper ist eine veritable Passionsgeschichte. Paul Ackermann wird für schuldig befunden und auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. Dass Zechprellerei die Todesstrafe verdient, ist im Zusammenhang nur folgerichtig, handelt es sich dabei doch gewissermassen um den Akt grösster Gotteslästerung. Der Prozess und der Verrat von besten Freunden, aber auch Freundestreue, die Überantwortung seiner Braut Jenny an den einzigen, letzten Freund und viele Details, wie das „mich dürstet“, erinnern an die Leidensgeschichte Jesu nach den Evangelien oder spätere christliche Passionsaufführungen. Bei aller Persiflage ist die Geschichte vom Ende des Paul Ackermann, der gar nicht versteht, was mit ihm passiert, nicht ganz frei von einer gewissen menschlichen Anteilnahme.
Viel zu spät bekommt Gott eine Art Auftritt
Zuletzt und viel zu spät bekommt Gott eine Art Auftritt in Mahagonny „mitten im Whisky“ (384,25-29), doch will ihm niemand in die Hölle folgen, und so wird ihm vom Dreieinigkeitsmoses bald der Helm übergestülpt: „Fertig“ (386,30).
Die Stadt versinkt in Chaos und Brand.
Aber dieses ganze Mahagonny
Hat nichts für euch wenn ihr kein Geld habt
Für Geld gibt’s alles
Und ohne Geld nichts
Drum ist’s das Geld nur, woran man sich halten kann. (388,7-11)
Oh, show us the way to the next little dollar! (Alabama-Song, 338,1)
Brecht entlarvt in „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ die Fratze des Kapitalismus mit einem marxistischen und zugleich biblischen Blick. In den 1920er Jahren erhob sich aus dem Elend der Kriegsjahre eine erneuerte Wirtschaft, an der jedoch nur wenige teilhaben konnten.
Die Welt ist in der Hand von Ganoven
Der ideale homo oeconomicus ist ein Geschäftemacher, der das Geld leicht verdient und rasch wieder unter die Leute bringt, immer mit dem Ziel, die Sinnleere und die Zeit vergnüglich totzuschlagen und dabei selbst keinesfalls zu leiden. Selbst Gesetze zu machen, sie bei nächster Gelegenheit zu missachten, nur Spott für Gescheiterte oder Menschen mit Grundsätzen übrig zu haben und darauf zu zählen, dass für nichts von irgendeiner Instanz Rechenschaft verlangt wird, ausser für Zahlungsunfähigkeit – das war bereits vor hundert Jahren kein Theater. Derzeit erscheint diese Realität ungeschminkter denn je, denn die Welt ist in der Hand von Ganoven.
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Silvia Schroer, *1958, katholische Theologin, 1997-2024 Professorin für Altes Testament an der Theologischen Fakultät in Bern, bis Juli 2023 Vizerektorin Qualität der Universität Bern; zahlreiche Publikationen zu Weisheits- und Schöpfungstheologie, Biblischer Anthropologie, Religionsgeschichte und Ikonographie Palästinas/Israels; Gründerin und Mitherausgeberin der elektronischen Zeitschrift für feministische Exegese lectio difficilior.
[1]Jakob Tanner, Als Amerika der Schweiz den Käsekrieg erklärte. Ein Musical aus dem Jahre 1927 entpuppt sich als hellseherische Zeitdiagnose, in: Das Magazin 13 (2025), 23-26.
[2]Die Originaltexte sind zitiert nach Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Herausgegeben von Werner Hecht et al., Band 2, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1988.
Beitragsbild: Erstellt mit Hilfe von ChatGPT