Dürfen wir hoffen – angesichts der existenziellen Untiefen des Lebens? Christian Bauer hat anlässlich von 10 Jahren Feinschwarz.net mit dem Heidelberger Gräzisten, Leibnizpreisträger und Bestsellerautor Jonas Grethlein darüber gesprochen. Ein Podcast für philosophisch interessierte Nerds der Frage nach dem Sinn von allem.
Wir sitzen in einer schönen Wohnung im Heidelberger Stadtteil Neuenheim. Ein Altbau im akademischen Flair der ältesten Universitätsstadt Deutschlands. Und ein Gespräch, das es in sich hat. Es ging zur Sache. Intellektuell. Und existenziell. Wir kannten uns zuvor nicht persönlich, aber die Chemie hatte sofort gestimmt. Der 1978 geborene Wissenschaftler Jonas Grethlein ist nicht nur ein menschlich angenehmer, sondern auch ein intellektuell vielseitiger, durchaus streitbarer und in jedem Fall höchst anregender Gesprächspartner.
45 Minuten lang haben wir auf einer intellektuellen und existenziellen Flughöhe über Hoffnung und Kontingenz gesprochen, die in universitären Kontexten leider viel zu selten erreicht wird. Hoffnung als ein menschliches Weltverhältnis, das sich in der Offenheit des Seins auf etwas Zukünftiges richtet, das möglich und zugleich unverfügbar ist. Und Kontingenz als die schlechthinnige Möglichkeit auch von Hoffnung: Alles könnte, im Guten wie im Schlechten, auch ganz anders sein – und genau diese Möglichkeit ist das einzig Feststehende im Leben.
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Jonas Grethlein ist ein schneller Denker, der pointiert zu formulieren weiß. Jeder Satz ein Treffer. Von der Profession her Gräzist, also Fachmann für die griechischen Kulturen der Antike, lehrt er an der Universität Heidelberg (einen Ruf nach Cambridge lehnte er der Kinder wegen ab). Dissertation („Asyl und Athen“) und Habilitationsschrift („Das Geschichtsbild der Ilias“) waren inhaltlich wie methodisch innovative Pionierarbeiten.
Grethlein ist ein exzellenter Gräzist, sein Wirkungskreis geht jedoch weit darüber hinaus. Mit seinem zeitdiagnostischen Buch Hoffnung (2024), das eine faszinierende „Geschichte der Zuversicht von Homer bis zum Klimawandel“ entrollt, hat er nicht nur einen erfolgreichen Besteller geschrieben, sondern mit Mein Jahr mit Achill (2022) auch ein sehr persönliches Buch, in dem er eine eigene Krebserkrankung literarisch verarbeitet.
Vor dem Hintergrund dieser beiden sehr lesenswerten Bücher haben wir am 4. Juni 2025 in einem resonanzreichen – und zugegebenermaßen philosophisch etwas nerdy ausgefallenen – Theoriegespräch folgende Fragen thematisiert:
- Hoffnung ist nicht nur gesellschaftlich ein Megathema. Auch die Autobiographie von Papst Franziskus trägt den Titel Hoffe, das Heilige Jahr in Rom das Motto „Pilger der Hoffnung“. Wie ist diese kirchliche Hoffnungskonjunktur einzuschätzen?
- Was ist mit der – unter anderem in Abgrenzung zum Optimismus gebildeten – Definition der Hoffnung als ein allgemein-menschliches „Weltverhältnis“ gemeint, das sich auf etwas richtet, das „sowohl möglich als auch unverfügbar“ ist?
- Spätestens seit Jürgen Moltmanns Theologie der Hoffnung (1964) gibt es einen prominenten christlich-theologischen Hoffnungsdiskurs. Hoffnung als zukunftsoffenes Weltverhältnis ist nicht weit entfernt von dessen katholischer Version bei Karl Rahner, der – nicht nur hier von Martin Heidegger beeinflusst – von einer „Offenheit des Seins“ im Sinne einer „absoluten Zukunft“ spricht. Kann man daran anschließen?
- Vom christlichen Glauben her noch etwas inhaltlicher gefragt: Wie verhalten sich eigentlich Heideggers existenzielle Sorge (Stichwort: „Sein zum Tode“) und eine jesuanische Sorglosigkeit (Stichwort: „Sorgt euch nicht… euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht“) zueinander, die in den neutestamentlichen Erzählungen durch die Erfahrung radikaler Kontingenz (Stichworte: Gethsemane, Golgotha) geht?
- Karl Rahner steht in der Tradition des französischen Religionsphilosophen Maurice Blondel. Mit diesem lässt sich Hoffnung in Analogie zum Übernatürlichen als etwas für den Menschen nicht nur prinzipiell Mögliches, sondern auch existenziell „Notwendiges“ verstehen, das aber zugleich im Sinne finaler Vollendung bleibt etwas „Unausführbares“. Dieser christliche Gottesbegriff muss in seiner Transzendenz nicht religiös verschlüsselt werden, um Hoffnung lebbar zu machen. Lässt sich damit etwas anfangen?
- Das Credo christlicher Theologie muss nicht vollmundig „Ich glaube an Gott“, es kann auch deutlich skeptischer „Ich hoffe auf Gott“ lauten. Generell hat das Christentum eine fundamentale, von seinen Inhalten her jedoch prinzipiell fundamentalismusresistente Hoffnungsstruktur: Gottes Existenz ist nicht unmöglich, aber unverfügbar (wenn es sie oder ihn denn gibt). Kann ein christlich geprägter Agnostiker da mitgehen?
- Mein Jahr mit Achill ist ein sehr persönliches Buch zum Thema Kontingenz, das im Kontext einer existenziellen Illias-Auslegung von einer eigenen Krebserkrankung erzählt. Wie verhalten sich Hoffnung und Kontingenz zueinander – und was bedeutet in diesem Zusammenhang dann z. B. auch das Gebet als eine religiöse Praxis menschlicher Selbstöffnung in den unendlichen Horizont der Transzendenz Gottes hinein?
- Das Konzept von Hoffnung als kontingenzsensibles Weltverhältnis lässt sich in den Kontext eines allgemeinen Kontingenzdiskurses stellen. Der Soziologe Andreas Reckwitz charakterisiert die Moderne beispielsweise als eine epochale „Öffnung von Kontingenz“ im Sinne der Luhmannschen Kontingenzdefinition als der prinzipiellen Möglichkeit, dass etwas auch ganz anders sein könnte. Wie passt das zu diesen Überlegungen?
- Hier kommt zu den Begriffen des Möglichen und Unverfügbaren auch noch jener des Notwendigen ins Spiel. In Mein Jahr mit Achill ist zu lesen, in der Fragilität seines bedrohten Lebens sei für den griechischen Helden die Kontingenz „zur Notwendigkeit gesteigert“? Ist die radikale Möglichkeit des Ganz-Anderen im Tod (als des Möglichen-Schlechthin) eine, vielleicht sogar die Notwendigkeit menschlicher Existenz?
- Der französische Philosoph Quentin Meillassoux postuliert in Après la finitude eine radikale Notwendigkeit der Kontingenz – er geht also nicht nur von der Möglichkeit des Notwendigen aus, sondern auch von der Notwendigkeit des Möglichen: „Wir wissen […] zwei Dinge […]: erstens, dass die Kontingenz notwendig, also ewig ist; zweitens, dass einzig und allein die Kontingenz notwendig ist. […] Denn die Kontingenz des Seienden ist notwendig, nicht das Seiende. […] Die Notwendigkeit der Kontingenz des Seienden erzwingt die notwendige Existenz des kontingent Seienden. […] Einzig […] die Kontingenz dessen, was ist, ist selbst nicht kontingent.“ Kann man als philosophieaffiner Gräzist da mitgehen?
- Abschließend zum methodologischen Ansatz eines thematisch weitausgreifenden Zeitdiagnostikers mit gräzistischer Expertise, der sowohl in seinem Hoffnungs-, als auch in seinem Kontingenzbuch so verschiedene Textsorten wie biografische Narrative, philosophische Zitate, naturwissenschaftliche Daten, historische Informationen und zeitgenössische Gedichte zu einer faszinierenden Bricolage des Differenten montiert. Wie verhält sich dieses konstellative Vorgehen zu fachwissenschaftlichem Arbeiten? In welchem (Spannungs-)Verhältnis stehen der Essayist und der Gräzist Jonas Grethlein zueinander?
- Meine eigene Expertise bezieht sich vor allem auf die theologische Vorgeschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils zu Beginn der hoffnungsschwangeren, kontingenzoffenen 1960er Jahre. Die damalige Nouvelle théologie versuchte, eine Rückkehr zu den christlichen Quellen („Ressourcement“) mit der Verheutigung des Evangeliums („Aggiornamento“) zu verbinden. Wie schafft man es, antike Epen wie Illias oder Odyssee in unsere Zeit sprechen zu lassen und ihnen zugleich ihre produktive Fremdheit lassen?
- Eine letzte Frage zur hermeneutischen Erfahrung mit antiken Texten: Was müssen christliche, aber auch jüdische und muslimische Theolog:innen mit Blick auf die antiken Gründungstexten ihres Glaubens beachten? Anders gefragt: Was ließe sich aus der Gräzistik für eine ebenso sachgerechte wie zeitgemäße Theologie lernen?
Der Podcast wurde erstellt mit Hilfe von TheoTVIST (Universität Münster).
Musik: Werner Schmidbauer („Für vui Geld“)
Bilder: Christian Bauer