Sie ist komplex die Geschichte von Russen und Ukrainern. Nobert Franz gibt einen Überblick Teil I: Völker, Staaten und Sprachen
Während in dem im 9. Jahrhundert entstandenen Flächenstaat Rus‘ die Ostslaven noch ohne nationale Spannungen zusammenlebten, gibt es seit vielen Jahrzehnten Streit darüber, ob die Rus‘ ein proto-russischer oder proto-ukrainischer Staat gewesen sei. Im Grunde ist es ein Streit darüber, seit wann es die Ukraine gibt. Es gibt eine ganze Tradition russischer Äußerungen, die der Ukraine die nationale Eigenständigkeit absprechen.
Streit um die nationale Eigenständigkeit der Ukraine
In diese Tradition reihte sich Valdimir Putin mit seinem im Juli 2021 veröffentlichten pseudowissenschaftlichen Aufsatz „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“[1] ein. Er behauptet, staatlich, kulturell und kirchlich sei die Ukraine nur ein Teil Russlands. Die Bewohner Russlands seien nämlich ein großes, dreigegliedertes („dreieines“) russisches Volk, bestehend aus Großrussen, Kleinrussen (Ukrainern) und Weißrussen (Belarusen). Ukrainer halten dagegen, dass die von ihnen besiedelten Territorien sich erst seit noch nicht einmal 350 Jahren (und längst nicht alle) im Moskauer Machtbereich befinden. Tatsächlich haben diese Gebiete seit dem Ende des 13. Jahrhunderts, als die Rus‘ von den Tataren zerstört worden war, überwiegend zum Herrschaftsbereich der Litauer (später Polen-Litauer) gehört.
Die Konkurrenz der historischen Narrative
Strittig ist nicht nur, ob die Rus‘ den Beginn einer mehr als 1000-jährigen russischen Staatlichkeit darstellt, oder ob nicht die territoriale Kontinuität wichtiger ist – schließlich residierte damals der Großfürst in Kyiv. Die Rus‘ habe in den westlichen Fürstentümern, vor allem in Wolhynien und Galizien, weiterexistiert. Dass diese schließlich in das litauische Reich eingingen, ist aus russischer Perspektive der Beginn einer kolonialen Unterdrückung, ukrainische Historiker erinnern dagegen an die relative Selbständigkeit im Großfürstentum Litauen und später in der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Dort hatten die Ukrainer, die man damals Ruthenen nannte, intensive Europakontakte und lebten kosakische Freiheiten, die zu ihrer Geschichte dazugehörten. Kolonial unterdrückt worden seien sie von den Polen und dann vor allem von den Russen.
Putins Geschichtsbild
Dagegen wettert Putin: „Die ukrainischen Eliten haben […] beschlossen, die Unabhängigkeit ihres Landes durch die Verleugnung seiner Vergangenheit zu rechtfertigen […]. Sie begannen, die Geschichte zu mythologisieren und umzuschreiben, alles auszulöschen, was uns verbindet, und von der Zeit des Aufenthalts der Ukraine im Russischen Reich und in der UdSSR als Besatzung zu sprechen.“[2]
Die Umstände, unter denen die Ukraine Teil des Moskoviter (und später des Russländischen) Reiches wurde, werden besonders kontrovers erinnert. Für russische Historiker ist klar, dass 1654 mit dem Treueeid der Kosaken auf den Zaren auch die Zustimmung zu einer dauerhaften Eingliederung in das Herrschaftssystem des Zaren verbunden war. In dem bei dieser Gelegenheit abgeschlossenen Vertrag von Perejaslav wurden den Kosaken allerdings bestimmte Rechte garantiert, die im Laufe der nächsten 150 Jahre von den Zaren einkassiert wurden: Die Ukrainer mussten ihre basisdemokratischen kosakischen Traditionen und ihre alte Sozialordnung aufgeben, ihrer Sprache wurde der Status einer Schriftsprache genommen. Das Gebiet sollte eine ganz normale russländische Provinz werden. Dies mit militärischen Mitteln zu verhindern, gab es einige – vergebliche – Versuche, den bekanntesten unter dem Kosaken-Hetman Ivan Mazepa, dem in der russischen Erinnerung das Odium des Verräters anhaftet – in der Ukraine gilt er vielen als Nationalheld.
Wie die Ukraine Teil des Moskoviter Reiches wurde
Die Zuordnung zu Russland ließ sich erst einmal nicht wieder rückgängig machen. Eine restlose Eingliederung der Ukraine gelang aber auch nicht, unter anderem deshalb, weil im ausgehenden 18. Jahrhundert auch im Russländischen Reich die Ideen von Volk und Nation an Bedeutung gewannen. Im Zuge der damals entstehenden europäischen Romantik erschien 1798 das erste literarische Werk in ukrainischer Volks-Sprache und auch eine erste Geschichte der ukrainischen Territorien wurde verfasst.
Für den erfolgreichsten russischen Historiker des frühen 19. Jahrhunderts, den auch als Literat bekannten Nikolaj Karamzin, war völlig klar, dass die für eine Geschichtsdarstellung leitende Idee die der Staatlichkeit sein muss,[3] und diese sieht er für Russland ununterbrochen von der mittelalterlichen Rus‘ über dem Moskauer Staat bis ins zarische Imperium gewährleistet. Die Zensur verhinderte, grundsätzliche Alternativen zu dieser großen Erzählung öffentlich zu diskutieren und dies bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.
Eine erste Geschichte der ukrainischen Länder
Zwar entstand um 1800 eine erste Geschichte der ukrainischen Länder, doch stellte diese den Primat der gemeinsamen russländischen Geschichte nicht direkt in Frage. Sie wird dem Erzbischof Heorhyj Konis‘kyj (1717-1795, russisch: Georgij Konisskij) zugeschrieben, der sich zum Ziel gesetzt hatte, den Etappen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, die „in der Russländischen Geschichte überhaupt nicht erwähnt werden“.[4] Damit machte er seinen Landsleuten und den Russen die Zeit bewusst, in der der größte Teil der späteren Ukraine zu Litauen, bzw. Polen-Litauen gehörte. Die Rusen – wie er die Ruthenen nennt – hätten lange Zeit eine andere historische Entwicklung durchlaufen als die Russländer.
Erst im Umfeld der revolutionären Unruhen von 1905 konnte der ukrainische Historiker Michajlo Hruševs’kyj (1866-1934) vorbereitende Überlegungen zu einer Enzyklopädie nutzten, um sich gegen die übliche Vereinnahmung der Rus‘ alleinig für die russische Geschichte zur Wehr zu setzen. Er drehte den Primat um: „Wir wissen, dass der Kyiver Staat, das Recht und die Kultur das Werk eines Volkes, nämlich des Volkes der Ukraine-Rus’ war, der Vladimir-Moskauer Staat aber das eines anderen Volkes, des großrussischen“.[5]
Die Anerkennung durch die Sowjetunion und der Anspruch der „russischen Welt“
Erst die Sowjets erkannten die explizite und implizite Missachtung ukrainischen Selbstbewusstseins durch das Zarenreich an und favorisierten die Kompromissformulierung, die Rus’ sei ein den drei modernen ostslavischen Völkern gemeinsamer Ursprungsstaat gewesen. Damit wollten sie die ukrainische Intelligencija für das sowjetische Projekt gewinnen, besonders nationalbewusste Ukrainer mochten sich aber auf Dauer nicht mit dem Konzept anfreunden. 1991 aus dem sowjetischen Verband ausgeschert, fingen sie an, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Die russischen staatstragenden Eliten beschwören stattdessen eine „russische Welt“ (russkij mir), in der unterschiedliche Ethnien mit ihrem gemeinsamen Erbe, vor allem ihren traditionellen Werten, ihren Platz haben sollen, auch die Ukrainer – die dann aber „Russen“ sind.
Palette von Sprachvarianten
Die in der Rus‘ verwendete Schriftsprache, das Kirchenslavische, war – wie andere Schriftsprachen auch – nie ganz kongruent mit der gesprochen Sprache. Deshalb nahm sie, um verständlich zu bleiben, im Lauf der Zeit regionale Eigenarten auf, so dass eine ganze Palette von Varianten entstand, darunter eine, die schon Kennzeichen des späteren Ukrainischen trägt. Auf der Stil-Ebene dazwischen gab es eine von den Bewohnern der Rus‘ verwendete ruthenische Kanzleisprache. Diese wurde im Großfürstentum Litauen zur Amtssprache, da sie die mit Abstand größte ethnische Gruppe betraf. Ihre Sprecher nannten sie „Sprache der Rus‘“ (ruska mova).
Als im 17. Jahrhundert die Territorien östlich des Dnipro dem Moskauer Zaren unterstellt wurden, ließ Zar Peter I. nach dem Sieg über die Schweden und den mit ihnen verbündeten Kosakenhetman Ivan Mazepa den Gebrauch des Ruthenischen in den Kirchenbüchern verbieten, 1710 ebenso im Buchdruck. Unter Katharina II. durfte dann ab 1784 auch der Unterricht in den Grundschulen nicht mehr in der regionalen Sprache erfolgen. Dieses Verbot wurde 1786 auf Gottesdienste und höhere Schulen ausgeweitet. Im Jahr 1804 traf es weitere Bildungseinrichtungen, 1863 wurde durch den Innenminister der öffentliche Gebrauch des Ukrainischen ganz untersagt mit der Begründung, dass es „keine besondere kleinrussische Sprache gab, gibt und geben kann, und dass ihr Dialekt, der vom einfachen Volk verwendet wird, dieselbe russische Sprache ist, die nur durch den Einfluss Polens verdorben wurde“. [6] Ähnlich stand es auch in einer Verordnung des Zaren von 1876.
Verbot des Ukrainischen
Wer sozial aufsteigen bzw. Karriere machen wollte, musste sich als Ukrainer des Russischen bedienen, wie etwa der Autor Mikola Hohol, der als Nikolaj Gogol‘ zu einem der profiliertesten Schriftsteller der russischen Romantik wurde. Andere wie Taras Ševčenko schufen auf der Grundlage der gesprochenen Volkssprache eine neue Schriftsprache, eben jene, die 1863 verboten und im 20. Jahrhundert zur ukrainischen Standardsprache erklärt wurde. Diese befand sich teils in Konkurrenz, teils in Symbiose mit der russischen Standardsprache, die in der Ukraine bei den in die Industriegebiete eingewanderten Russen und in den Städten dominierte.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion fand man für die selbständig gewordene Ukraine zunächst die Lösung, das Ukrainische zur Amtssprache zu erklären, den Gebrauch des Russischen aber zu dulden, 2012 wurde der russischen Sprache in 13 der 27 Regionen des Landes sogar ein offizieller Status zugestanden. Das hinderte den russischen Präsidenten aber nicht daran, 2021 zu behaupten, das Russische werde systematisch diskriminiert. Putin meidet, so gut es geht, den Begriff „ukrainische Sprache“, er spricht lieber von einer „Mundart“ – wie vor 150 Jahren der Innenminister. Mit dem großangelegten Angriff auf die Ukraine hat Putin unter anderem bewirkt, dass viele ursprünglich russischsprachige Ukrainer sich jetzt fast ausschließlich des Ukrainischen bedienen. Die Sprachenfrage ist (wieder) eine des nationalen Widerstands geworden.
Was ihr nation-building angeht, hatte die Ukraine lange Zeit ein Defizit in Bezug auf eine eigene Staatlichkeit, sie existierte aber als eine Kulturnation mit Geschichtsbewusstsein, Sprache und Religion, bzw. Kirchenzugehörigkeit.
Teil II zur kirchlichen Geschichte erscheint morgen.
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[1] Путин, Владимир: «Об историческом единстве русских и украинцев» (2021). [http://kremlin.ru/events/president/news/66181] (01.07.2025) Siehe als Beispiel für viele die Analyse des Osteuropahistorikers Andreas Kappeler: «Revisionismus und Drohungen. Vladimir Putins Text zur Einheit von Russen und Ukrainern», in: Osteuropa, 71 (2021), Heft 7, S. 67–76.
[2] Путин, 2021, loc. cit.
[3] Sein zwölfbändiges Werk trägt den Titel: Geschichte des Russländischen Staates (История государства Российского. – Санктпетербург: Гречь, 1816-1826).
[4] Конисский, Георгий (сост.): История Русов или Малой России, изд. О. Бодянским. – Москва: Университетская Типография, 1846, с. 5. [https://azbyka.ru/otechnik/Georgij_Konisskij/istorija-rusov-ili-maloj-rossii/1_] (08.03.2025)
[5] Грушевський, Михайло: «Звичайна схема ‹русскої› історії й справа раціонального укладу історії східного слов’янства» [https://web.archive.org/web/20160913042528/http://litopys.org.ua/hrs/hrs02.htm] (08.03.2025)
[6] Валуев, Пётр А.:«Циркуляр министра внутренних […] Киевскому, Московскому и Петербургскому цензурным комитетам от 18 июля 1863 г, https://ru.wikisource.org/wiki/Валуевский_циркуляр. (09.04.2025). und https://movahistory.org.ua/index.php/index.php/Емський_указ._Повний_текст
Beitragsbild: Helga Ewert – pixelio.de