Sie ist komplex die Geschichte von Russen und Ukrainern. Nobert Franz gibt einen Überblick Teil II: Kirchen
Da die orthodoxen Kirchen in der Regel Landeskirchen sind, streb(t)en auch die Staatsführer eine eigene Kirche für ihr Land an. Erklärt aber eine Kirche offiziell ihre Selbständigkeit (Autokephalie), ruft dieser Akt nicht selten den Unmut der Kirchenleitung hervor, die eine Teilkirche verliert. Vor allem wenn staatliche Interessen damit verbunden sind, spricht man dann von unzulässigem Schisma und bemüht sich um die Rückkehr zum status ante. In dieser Logik wechselten sich im Lauf der ukrainischen Geschichte – zumindest seit 1356 – Phasen der Loslösung und solche der gewaltsamen Wiederangliederung von Metropolien und Patriarchaten einander ab.
Griechische Missionare und die „Metropolie von Kyiv und der ganzen Rus‘“
Die Kyiver Großfürstin Ol‘ga (ca. 890-969) hatte, weil sie die Rus‘ an die christliche Kultur anschließen wollte, bei der Ost- und der Westkirche um Missionare nachgesucht. Erst unter ihrem Enkel, Volodymyr (russ.: Vladimir) I., fand die Taufe des Großfürsten und seiner Eliten statt und zwar ausschließlich durch griechische Missionare, die auch die Kirchenstruktur aufbauten. In Kyiv wurde ein Bischof eingesetzt, der bald den Rang eines Metropoliten für die langsam wachsende Zahl von Diözesen erhielt: „Metropolit von Kyiv und der ganzen Rus‘“ (Митрополит киевский и всея Руси).
Die Metropolie unterstand dem Patriarchen von Byzanz, der als Ökumenischer Patriarch eine Sonderstellung innehat. Etwaige Kontakte zur westlichen Kirche wurden schon vor dem Schisma von 1054 gemieden, die Metropoliten waren lange Zeit fast ausschließlich Griechen. Diese waren die Spitze der sehr kleinen Bildungsschicht des Landes und entsprechend einflussreich, weshalb einige Großfürsten versuchten, eigene, das heißt ostslavische Kandidaten als Metropoliten einsetzen zu lassen. Das gelang aber nur selten.
Kiew – Vladimir – Moskau
Als die Rus‘ in den Jahren nach 1237 von den Tataren erobert wurde, begleitete der Metropolit den damaligen Großfürsten in das im Westen gelegene Fürstentum Galizien. Dann aber zog der Metropolit – unzufrieden mit der Politik seines Fürsten – in den Nordosten in das Fürstentum Vladimir. Der dortige Fürst nahm ihn gerne auf, denn schon seine Vorgänger hatten großen Ehrgeiz gezeigt, ihre Stadt in Konkurrenz zu Kyiv als Hauptstadt zu profilieren. Allerdings mussten die Fürsten von Vladimir schon bald sowohl Großfürstenwürde als auch Kathedra des Metropoliten an das noch ehrgeizigere Moskau abtreten.
Galizien-Wolhynien war mittlerweile an Litauen gefallen, dessen Großfürsten den Tataren die westlichen und südlichen Gebiete der Rus‘ streitig machten: mit Erfolg. Um von dem beim Moskauer Konkurrenten residierenden Metropoliten unabhängig zu sein, beantragte der Litauer beim Patriarchen einen eigenen Metropoliten für die orthodoxen Diözesen seines Herrschaftsgebiets. Dieser wurde ihm zwar nicht jedes Mal, aber immer öfter gewährt, das erste Mal 1356. Dass der im Süden residierende Metropolit sich ebenfalls „Metropolit von Kyiv und der ganzen Rus‘“ nannte, rief in Moskau Protest hervor. Der Streit um Titel und Befugnisse ging bis 1461, als die Metropolien offiziell geteilt wurden: eine in Moskau und eine in Kyiv. Beide erhoben Anspruch auf die ganze Rus‘.
Streit um Titel und Befugnisse
Zwischenzeitlich hatte sich auch eine neue Situation dadurch ergeben, dass Moskau die im Konzil von Ferrara/Florenz 1439 vollzogene Aufhebung des Schismas zwischen byzantinischer und römischer Kirche nicht mitzutragen beschloss. Die Moskauer Metropolie löste sich von Byzanz, 1459 erklärte sie sich auch offiziell als autokephal. Kyiv blieb mit Byzanz verbunden. Die Einnahme Konstantinopels durch die Osmanen 1453 schwächte die Position des Patriarchen von Konstantinopel erheblich, so dass dieser schließlich seine Zustimmung geben musste, als eine lokale Synode 1589 den Moskauer Metropoliten zum Patriarchen erhob.
Dieses Moskauer Patriarchat beanspruchte natürlich die Oberhoheit über die orthodoxen Untertanen Polen-Litauens. Das war dem oberen Klerus in Polen-Litauen aber so wenig erstrebenswert, dass er lieber eine Union mit Rom einging, sich also dem römischen Patriarchen, dem Papst, unterstellte, als sich dem Moskauer unterzuordnen. Mit den Römern war man sich dogmatisch sehr schnell einig, denn eigentlich war nur das filioque ein theologischer Streitpunkt gewesen. Das Ergebnis war jedenfalls die Union von Brest, die nach einigen Anlaufschwierigkeiten im Jahre 1596 zustande kam.
Union mit Rom
Für die Metropolie hieß das, dass der jeweilige Amtsinhaber vom Papst eingesetzt wurde und den Titel trug: „Metropolit von Kyiv, Galizien und der ganzen Rus‘“ (Митрополит Киевский, Галицкий и всея Руси). Die römischen Unterhändler zollten der lokalen Tradition Respekt, indem sie den neuen Mitbrüdern vom byzantinischen Ritus eben diesen und eine eigene Kirchenstruktur garantierten. Teile des niederen Klerus und nicht wenige Laien hegten jedoch weiterhin Ressentiments gegen die „Lateiner“ und suchten die Verbindung mit dem Moskauer Patriarchen. Für sie wurde 1620 im Kosakengebiet eine nach Moskau orientierte Metropolie eingerichtet, die nach 1662, seit die Kosaken dem Moskauer Zaren unterstanden, die dominante Kirche wurde. Die Uniaten mussten sich dort integrieren.
Die Uniaten werden meistens Ukrainische griechisch-katholische Kirche (UGKK) genannt, heute bekennen sich ca. 3,4 Mio. Ukrainer zu ihr (etwa 6% der Bevölkerung). Für die Kultur des Landes hat diese Kirche in der weiteren Geschichte der Ukraine eine wichtige Rolle gespielt: im äußersten Westen des Landes, der während der Zarenzeit nie zu Russland, sondern zu Österreich gehört hat, bewahrte sie die nationalen Traditionen, die in den russisch dominierten Gebieten ausgetrocknet wurden. Durch die Teilungen Polens (1772-1795) fielen der allergrößte Teil der von Ukrainern besiedelten Territorien an Russland, dessen Kirchenleitung durchsetzte, dass der Staat die unierte Kirche verbot.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden auch die früher österreichischen Gebiete Galiziens der Sowjet-Ukraine zugeschlagen, was zur Folge hatte, dass die UGGK auch dort verboten und verfolgt wurde, ihr Oberhaupt wurde für mehr als 15 Jahre inhaftiert. Seit der Gorbačevschen Perestrojka ist sie wieder zugelassen.
Modernisierungsschub
Dass große Teile der orthodoxen Ukrainer den Lateinern und den Uniaten misstrauten, hatte auch damit zu tun, dass sie sich von dem Modernisierungsschub, den die frühe Neuzeit mit sich brachte, bedroht sahen. Der Schub ging vor allem durch die von den Jesuiten getragenen Bildungseinrichtungen aus. Diese konkurrierten erfolgreich mit den reformatorischen Impulsen, und auch die Orthodoxen sahen sich genötigt, neue Wege zu gehen, z. B. eine wissenschaftsaffine Theologie zu entwickeln und in Bildung zu investieren. Dazu bildeten Kleriker und Laien sog. Bruderschaften, die auch als Schulträger fungierten. Aus einer dieser Schulen erwuchs die 1632 gegründete Kiever Geistliche Akademie, die erste orthodoxe Hochschule Osteuropas (heute: Nationale Universität Kiew-Mohyla Akademie).
Die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche
Als das Zarenreich durch den verlustreichem Ersten Weltkrieg und die Revolutionen nach 1917 in einem Bürgerkrieg zerfiel, nutzten Ukrainer die Situation, einen selbständigen Staat zu organisieren.[1] Es kam zu einem Bürgerkrieg, in den sich – eingeladen durch den Zentralrat – auch deutsche und österreichische Truppen einmischten. Diese entmachteten die Regierung und ließen ein Hetmanat[2] errichten. Dessen Anführer beförderte die Loslösung der orthodoxen Kirche von der russischen. In der russischen Kirche, die sich gerade wieder als Patriarchat organisierte, gab es aber wenig Neigung, den seit 1917 laut werdenden Autokephalie-Bestrebungen der Ukrainer die Zustimmung zu erteilen.
Das Hetmanat wurde schon im Spätherbst 1918 durch ein Direktorium ersetzt, und dieses erließ Anfang 1919 ein Gesetz zur Errichtung einer Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche (UAOK). Das Direktorium wurde von den Sowjets abgelöst, es dauerte aber bis 1922, bis diese sich ihrer Macht sicher sein konnten und die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik gründeten, die der UdSSR beitrat. Die Bolschewiki gingen zunächst nicht gegen die UAOK vor, denn sie hofften, mit dieser die Russische Kirche unter Druck setzen zu können. Im allgemeinen Kampf gegen die Religion Ende der 1920er Jahre war aber auch die UAOK schweren Verfolgungen ausgesetzt. Teile ihrer Strukturen überlebten im Exil, von wo sie nach dem Ende der Sowjetunion zurückkehrten.
Die aktuelle Struktur der Orthodoxie in der Ukraine
In der postsowjetischen Ukraine traf sie auf die ukrainische Metropolie der Kirche des Moskauer Patriarchats, die Ukrainische orthodoxe Kirche (in kanonischer Verbundenheit mit dem Patriarchat Moskau) (UOK MP). Deren damaliger Metropolit Filaret (Denisenko) drängte nach Erlangung der politischen Unabhängigkeit der Ukraine auf einen autokephalen Status. Als dieser nicht gewährt wurde, gründete er eine eigenständige Ukrainische Orthodoxe Kirche (Kiever Patriarchat) (UOK KP). Die aus dem Exil zurückgekehrte UAOK arbeitete eine Zeit lang mit ihr zusammen, 1993 trennten sie sich, fusionierten jedoch 2018 zur Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU; Православна церква України), die der Ökumenische Patriarch zum großen Missfallen der kirchlichen und staatlichen Obrigkeiten Russlands in die Autokephalie entließ.
Putin klagte in seinem Artikel, die Ukrainer versuchten die kirchliche Einheit, „dieses sichtbare, jahrhundertealte Symbol unserer Verwandtschaft um jeden Preis zerstören.“[3] Die Ukrainer sehen sie schon lange eher als ein Symbol der Vereinnahmung an. Von der Einheit mit den Russen in einem Volk, einer Sprache und einer Kirche sind sie entfernter denn je.
Teil I erschien gestern.
_____________________________
Prof. Dr. Norbert P. Franz hat von 1995-2017 als Slavist an der Universität Potsdam gelehrt. Sein Schwerpunkt waren Literatur, Kultur und Religion der östlichen Slaven.
[1] Bereits im März 1917 wurde ein Zentralrat (Central‘na Rada) mit einer Provisorischen Regierung unter Vorsitz des Historikers Michajlo Hruševs‘kyj gebildet, dem Vladimir Lenin mit seinen Bolschewiki im Dezember das Ultimatum stellte, sich der Sowjetregierung unterzuordnen.
[2] … in Erinnerung an die kosakische Vergangenheit.
[3] Путин, 2021, loc. cit.: «Этот зримый, многовековой символ нашего родства им надо во что бы то ни стало разрушить.»
Beitragsbild: Helga Ewert – pixelio.de