Die Neugestaltung der Berliner Hedwigskathedrale führt den Bonner Liturgiewissenschaftler Andreas Odenthal zu Anfragen hinsichtlich des Verständnisses von „Nicht berühren“.
„Der Altar ist nicht zu berühren und es dürfen keine Gegenstände darauf abgelegt werden“, so sagt die Hausordnung der Berliner Hedwigskathedrale. Entsprechend findet, wer sich dem neuen Altar in der Mitte nähert, auf dem Fußboden Schilder mit der Aufschrift vor: „Bitte nicht berühren“. Die Verbote sind der Neugestaltung durch Leo Zogmayer geschuldet, die auf jegliche Abschrankungen oder Stufenanlagen verzichtet. Und deshalb muss der Altar als heiliger Ort anders geschützt werden. Mich haben diese Anweisungen nachdenklich gemacht, weil sie eine andere Ebene berühren, als ich es bei einem Kirchenbesuch normalerweise erwarte. Dazu finden sich einige Anfragen im folgenden Diskussionsbeitrag.
Das Berührungsverbot führt zur „Klerus-Laien-Dynamik“
Bitte nicht berühren – Kontaktverbot für alle?
Zuerst steht die alles entscheidende Frage im Raum: Wieso darf der Altar eigentlich nicht berührt werden? Gemäß der Idee Zogmayers wurde der Kirchenraum doch ganz bewusst fast gänzlich schwellenlos konzipiert: Warum ist das Berühren des Altares dann verboten? Er soll doch mitten unter den zum Gottesdienst versammelten Menschen greifbar und berührbar sein. Und eine weitere Frage: Gilt das Verbot für alle? Offensichtlich nicht, denn die Kleriker müssen doch im Gottesdienst den Altar berühren und an ihm handeln können.
Es ist interessant festzustellen, dass das Berührungsverbot zur „Klerus-Laien-Dynamik“ führt[1]: Die Kleriker dürfen den Altar berühren, die Laien nicht. Ein Jahrhunderte alter Konflikt zwischen Klerikern und Laien wird plötzlich Thema: Die abgerissene Chorschranke – im Kontaktverbot ist sie weiterhin wirksam. Und dann meldet sich mittendrin das uralte Motiv der „reinen Hände“ zu Wort: Reine Hände sind in der kirchlichen Tradition die gesalbten Hände der Kleriker[2]. Nur die Kleriker sind – nicht zuletzt aufgrund des (zumindest offiziellen) Verzichtes auf Sexualität – alleine rein und würdig, an den heiligen Altar zu treten und dort zu handeln. So weit, so gut, aber nach mehr als zwanzig Jahren Missbrauchskrise der Katholischen Kirche irritiert der Gedanke an „reine Klerikerhände“ doch sehr. Unzählige Kleriker, darunter natürlich auch Bischöfe, haben sich – zumindest durch Vertuschung – die Hände schmutzig gemacht. Ein „Bitte nicht berühren“ ist in diesem Zusammenhang schon lange Zeit überfällig!
Bitte nicht berühren – Grenzgestaltungen
Es ist spannend und zugleich paradox, wohin die Assoziationen anlässlich der Neugestaltung der Hedwigskathedrale führen: Sie ist als ein Communio-Raum geplant, der Klerus und Laien geradezu synodal verbinden soll, aber unvermittelt stellen sich in diesem Raum die Grundkonflikte unserer Kirche dar: die Frage nach Grenzen und Grenzverlust, Missbrauch, die Klerus-Laie-Dynamik, ein Ringen um eine synodale Gestalt unserer Kirche, die Zuordnung von Hierarchie und Macht. Eines wird deutlich: Durch ein bloßes Weglassen architektonischer Grenzen im Kirchenraum kann man diesen Fragen nicht entgehen. Das Gegenteil ist der Fall: Die fehlenden architektonischen Grenzen fordern andere Grenzziehungen heraus: „Bitte nicht berühren“.
Grenzen sind notwendig: Deshalb hat das „Bitte nicht berühren“ seine Berechtigung.
Ich möchte das „Bitte nicht berühren“ ernst nehmen und in andere Kontexte zu stellen. Dabei geht es um notwendige Grenzen, die die Menschen schützen, die die Neugestaltung der Hedwigskathedrale aber verweigert. Grenzen schützen alle Beteiligten: Die vielen Traumatisierungen durch Missbrauch bringen die Verletzungen der Grenzen anderer Menschen zu Tage. Ein „Bitte nicht berühren“ muss sich so zunächst an die Kleriker richten. Es geht grundlegend darum, in der seelsorgerlichen Praxis die Grenzen anderer Menschen – auch spirituell – zu respektieren.
Grenzen sind notwendig: Deshalb hat das „Bitte nicht berühren“ seine Berechtigung, auch im Gottesdienst. Die Warnschilder vor dem Altar der Hedwigskathedrale bräuchten einen anderen Ort, zunächst vor den Plätzen der Laien: Bitte nicht berühren, liebe Kleriker. Respektiert die Grenzen der Menschen, die guten Willens zum Gottesdienst kommen. Macht sie bitte nicht zu Adressaten von Moralpredigten und Indoktrination. Respektiert auch die Liturgie, untergrabt sie nicht mit hektisch vollzogenen rituellen Gesten, weil Zeit und Ruhe fehlen, sich in ihre eigene Dynamik hineinzugeben. Die Schilder „Bitte nicht berühren“ gehören aber auch vor die Plätze der Kleriker. Auch sie müssen geschützt werden: vor kaum zu stillenden Ansprüchen der Menschen, vor einer theologischen Überhöhung, vor Idealisierung, vor einem institutionell begründeten Omnipotenzanspruch. Nähe und Distanz, Grenze und Berührung im menschlichen wie institutionellen Kontext sind immer wieder neu auszuhandeln. Auch im Kirchenraum.
Bitte nicht berühren – Grenzen sind heilsam
Eines wird deutlich: Ohne Grenzen geht es nicht. Erst, wenn Grenzen sicher sind, ist im Kirchenraum eine heilsame Berührung zwischen Laien und Klerikern, zwischen ihnen allen und dem Transzendenten im Ritual oder in Stille möglich, und die Herzen der Menschen werden erreicht – in der unfasslichen Gegenwart des Gekreuzigt-Auferstandenen. All das aber erschwert die Hedwigskathedrale in ihrer neuen Gestaltung oder verunmöglicht es sogar: In ihr sind die Grenzen trotz des Berührungsverbotes nicht sicher, zumindest nicht in der Architektur. Sie ist ein Raum ohne Schwellen, ohne Grenzen – und damit ohne jeden Schutz und ohne jede Geborgenheit. Das ist die Kehrseite der auf den ersten Blick als dialogischer „Communio-Raum“ gestalteten Kathedrale.
Die Hedwigskathedrale ist ein Raum ohne Schwellen, ohne Grenzen – und damit ohne jeden Schutz und ohne jede Geborgenheit.
Bitte nicht berühren – Die Frage der Raumästhetik
Bemerkenswert ist, dass die Innenausstattung der Oberkirche nur auf die Eucharistiefeier hin konzipiert ist: Kein eigener Raum für Stundenliturgie, die eine Raumgestalt mit einer leeren Mitte bräuchte, über die die Psalmen hin und her gesungen werden. Aber die Mitte ist nicht leer, hier steht der Altar – und dahinter der Priester. Da alles ohne Schwellen abgeht, sind Gemeinde und Altar in eine große Nähe gerückt, und der dahinter stehende Priester auch, der alle im Blick hat. Der Ambo ist vor die Kathedra gerückt. Auch das ist eine deutliche Aussage, liest man sie als hierarchische Konstruktion: Jeder weiß sofort, wer hier das Sagen hat und die Interpretationshoheit über das Gotteswort. Wie mag sich die Lektorin, der Lektor fühlen, mit dem Bischof im Rücken das Wort Gottes zu verkünden? Die Deutungshoheit des lebendigen Wortes Gottes ist trotz fehlender Stufen klar konturiert. Aber bitte auch umgekehrt: Wie mag sich eigentlich der Priester fühlen im ständigen Blickfeld einer oft anonym bleibenden Gemeinde? In diesem Klerus-Laie-Konflikt insinuiert die neue Gestaltung der Hedwigskathedrale wie eine Schalmei auf den ersten Blick gelebte Communio, Synodalität, tätige Teilnahme der Gläubigen, harmonisches Miteinander im Kreis. Aber das entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Tünche, denn wie soll das gehen bei einer notwendigerweise anonym bleibenden und ständig wechselnden Kathedralgemeinde?
Jetzt geht es im „Communio-Raum“ letztlich um eine auf den Altar fokussierte christologisch unterfütterte Zementierung des kirchlichen Amtes.
Verdeckte oder offenkundige Hierarchie im Communio-Raum?
Die als Communio-Raum geplante Hedwigskathedrale belebt unter der Hand den Klerus-Laien-Konflikt neu. Und damit bezieht sie eine klassische Position: Hinter dem Ambo steht die Autorität des Bischofs, hinter dem Altar in der Mitte steht der Priester. Das ambigue Verhältnis von Klerus und Laien wird somit in die Eindeutigkeit der Hierarchie aufgelöst. Dann aber geht es nicht mehr um eine fluide Versammlung um das Geheimnis des Gekreuzigt-Auferstandenen. Das machte die vorherige Gestaltung der Hedwigskathedrale besser deutlich, wenn sie alle, Klerus und Laien, um die unverfügbare leere Mitte versammelte, die leider als „Loch“ in Verruf geraten war. Diese leere Mitte bot sozusagen einen dritten Raum zwischen Laienraum und Altarraum, auf den alle Bezug nehmen konnten. Jetzt geht es im „Communio-Raum“ letztlich um eine auf den Altar fokussierte christologisch unterfütterte Zementierung des kirchlichen Amtes.
Halten die Botschaften des Communio-Raumes mit der tätigen Teilnahme aller Gläubigen wirklich das, was sie versprechen?
An dieser Stelle könnte ein Einwand formuliert werden: Ein Communio-Raum will doch gerade die Rolle der Laien an der Liturgie stärken, indem er die „tätige Teilnahme“ aller Gläubigen in den Blick nimmt, wie sie die Liturgiereform nach dem II. Vatikanischen Konzil umgesetzt hat. Hier kann eine Grundsatzdiskussion beginnen, zu der nur drei Gesichtspunkte aufgelistet werden sollen. Erstens wäre darauf hinzuweisen, dass die tätige Teilnahme der Gläubigen an der Liturgie „reaktiv“ ist, also gemäß der kirchlichen Vorgaben[3]. Zweitens wäre die Liturgische Bewegung, die das Diktum der tätigen Teilnahme stark gemacht hat, wie auch die Communio-Theologie des letzten Konzils insgesamt nochmals zu hinterfragen. Es zeigt sich nämlich, dass die Aufwertung des Laien seit dem 20. Jahrhundert strategisch war: Durch die Bindung der Laien an den Priester ging es letztlich darum, dessen Rolle sakramental-liturgisch zu zementieren[4]. Wiederum: Tätige Teilnahme ja, aber auf Anweisung und nach Vorgaben der Hierarchie. Ganz ähnlich ist der Communiobegriff kritisch darauf hin zu befragen, inwieweit er die ambigue Dynamik von Bindung und Trennung durch Spaltung außer Kraft setzt und so ein nicht stimmiges Idealbild von Gemeinschaft vermittelt[5].
Drittens hat der Frankfurter Soziologe und Psychoanalytiker Alfred Lorenzer schon vor rund vierzig Jahren seinen Finger in die Wunde gelegt: Er vermutete hinter der Liturgiereform nach dem II. Vatikanischen Konzil einen „fatalen Modernierungsprozesses, bei dem die Reform ‚Alibifunktion‘ hat, also verdecken soll, daß alles beim alten blieb“. Und das ging seines Erachtens mit einer „Vernichtung des ‚sinnlichen Spiels‘“ einher: Die Gläubigen werden „den herrschenden Verhältnissen einfunktionalisiert“[6]. – Wie immer diese Argumente zu bewerten sind, es wird deutlich, dass ein erster oberflächlicher Blick durch eine tiefere Wahrnehmung ergänzt werden müsste: Halten die Botschaften des Communio-Raumes mit der tätigen Teilnahme aller Gläubigen wirklich das, was sie versprechen?
Bitte nicht berühren – Das bleibende Dilemma
Vielleicht liegt der grundlegende Fehler darin, dass die Idee der Leere mit Verzicht auf Stufen, die das Werk Zogmayers prägt, in Berlin erstmalig auf eine Kathedrale angewendet wird. Eine Kathedrale zieht jedoch in der Regel eine weitgehend anonym bleibende Gottesdienstgemeinde an, und ihre Bauform drückt in besonderer Weise Hierarchien aus. So auch hier – dies allerdings verschleiert: Das ist das Dilemma dieser Neugestaltung. Dabei geht es an dieser Stelle nicht um eine grundsätzliche Infragestellung der kirchlichen Hierarchie, die sich im sakralen Rahmen als notwendig erweisen kann. Aber es geht um die Offenlegung und Verantwortung ihrer Strukturen und Dynamik, um not-wendige Grenzen – auch architektonisch. Grenzen ermöglichen zwischen Nähe und Distanz Beziehung und Berührung, wenn dies gewünscht ist. Dazu aber fehlen in der Hedwigskathedrale die Voraussetzungen. Die Betenden wie die Touristen – und wahrscheinlich auch die Priester – sind in der vermeintlichen Grenzenlosigkeit verloren: Es gibt keinen bergenden Ort für sie.
So mutet die Neugestaltung der Hedwigskathedrale in dieser kirchengeschichtlichen Epoche mit ihren besonderen Herausforderungen dem zeitgenössischen Kirchenbau zwar einerseits zu, neu über Grenzen nachzudenken, und sie zum Schutz all jener zu inszenieren, die in unterschiedlichen Rollen Gottesdienst feiern. Diese wichtige Lektion wäre für jeden Kirchenraum neu zu lernen. Zugleich führen die Gedanken aber andererseits zu einer grundsätzlichen Infragestellung des Communio-Modells: Hält es wirklich das, was es vor der Hand verspricht? Im Hinblick auf die Berliner Hedwigskathedrale ist zu konstatieren, dass es hier nicht aufgeht. Dies wiegt deshalb umso schwerer, als man dafür eine in meinen Augen fulminante Altarlösung der sechziger Jahre zerstört hat.
—
Andreas Odenthal, Dr. theol., Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.
Bild: (C) Schafgans dgph.
Beitragsbild: privat
[1] Vgl. zum Problem des Klerus-Laie-Vertrages Friedrich Diergarten, Das Unbehagen im Christentum. Psychoanalytische und theologische Untersuchungen zu Verdrängungsphänomenen. Frankfurt am Main 2003, 275-377.
[2] Vgl. Arnold Angenendt, „Mit reinen Händen“. Das Motiv der kultischen Reinheit in der abendländischen Askese, in: Arnold Angenendt, Liturgie im Mittelalter. Ausgewählte Aufsätze zum 70. Geburtstag, hg. von Thomas Flammer und Daniel Meyer (Ästhetik – Theologie – Liturgik 35), Münster 22005, 245–267.
[3] Zum Problem vgl. Norbert Lüdecke, Die Täuschung. Haben Katholiken die Kirche, die sie verdienen?, Darmstadt 2021, 178–183.
[4] Vgl. Lea Lerch, Erwünschte Individualisierung? Laien und Klerus in der Perspektive der Liturgischen Bewegung, in: Gregor Maria Hoff, Julia Knop, Benedikt Kranemann (Hg.), Amt – Macht – Liturgie. Theologische Zwischenrufe für eine Kirche auf dem Synodalen Weg (Quaestiones Disputatae 308), Freiburg 2020, 87–105, hier 87-105.
[5] Vgl. Wolfgang Reuter, Relationale Seelsorge. Psychoanalytische, kulturtheoretische und theologische Grundlegung, Stuttgart 2012 (Praktische Theologie heute 123), 149-178; 208-210.
[6] Alfred Lorenzer, Das Konzil der Buchalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik (Fischer Wissenschaft 1680). Frankfurt am Main 1984, 48.