Die Bilder von der Ordensfrau, die gegen jedes Protokoll neben dem Sarg des toten Papstes stand und weinte, gingen um die Welt. Niemand wagte es, sie von dort wegzuschieben. Die Kleine Schwester Sabine Luger erzählt die Geschichte einer besonderen Freundschaft.
Die Kleine Schwester Geneviève Josephe Jeanningros hat eine wunderbare Freundschaft mit Papst Franziskus erlebt. Doch der erste Kontakt war schwierig. Alles begann im September 2005 in Buenos Aires. Kl. Sr. Genevieve war aus Rom zur Beerdigung ihrer Tante angereist.
Ihre Tante war Léonie Duquet, eine französische Ordensfrau, die als Missionarin mit Sr. Alice Domon in den 1960er Jahren nach Argentinien gekommen war. Wie viele andere Ordensfrauen jener Zeit, zogen sie aus ihrem Kloster aus und in ein städtisches Elendsviertel, um dort das Leben der Armen zu teilen.
Verschwundene Ordensfrauen
Von 1976 bis 1983 herrschte in Argentinien eine Militärdiktatur, die einen schmutzigen Krieg gegen die eigene Bevölkerung führte. Tausende von Zivilisten wurden festgenommen, gefoltert und nie wieder gesehen. Um ihren stillen Protest auszudrücken, versammelten sich auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires täglich Mütter und Großmütter und hielten die Fotos ihrer verschwundenen Kinder in der Hand. Sr. Alicia und Sr. Leonie unterstützten aktiv die „Mütter der Verschwundenen“.
Im Dezember 1977 wurden die beiden Ordensfrauen festgenommen. Zuletzt gesehen wurden sie in der Hochschule für Mechanik der Marine, (ESMA), dem wichtigsten Haft- und Folterzentrum der argentinischen Diktatur.
Begegnung mit dem Grauen der Diktatur
Damals lebte Kl. Sr. Genevieve in Frankreich. Auch sie teilte das Leben der Armen, in der Gemeinschaft der Kleinen Schwestern Jesu[1]. Seit 1969 war sie an verschiedenen Orten in Europa unter den Schaustellern präsent. Ein Milieu am Rande, das mit der Kirche kaum in Berührung kommt. Was die Diktatur in Argentinien für die Menschen dort bedeutete, ahnte sie nur von weitem.
Aus dem Flugzeug geworfen
Erst 2005 wurden in der Nähe des Strandes des Rio de la Plata sterbliche Überreste von mehreren Personen gefunden. Darunter auch die von Sr. Léonie Duquet (61), die anhand von DNA identifiziert werden konnten. Ihr zu Tode gefolterter Körper war aus dem Flugzeug über dem Atlantik abgeworfen worden. Sr. Alicia konnte bis heute nicht aufgefunden werden.
Die Beisetzung von Sr. Leonie Duquet fand am 25. September 2005 in der Kirche in Santa Cruz statt. Genau an dem Ort, an dem die beiden Schwestern bis zu ihrer Entführung gearbeitet hatten. Kl. Sr. Genevieve war gekommen, um an dieser Feier teilzunehmen. Am Tag davor konnte sie das Gefängnis besuchen, in dem ihre Tante festgehalten, gefoltert und vermutlich ermordet wurde. Nun erst wurde ihr vieles schaudernd bewusst.
Mitschuldige Kirche
Requiem ohne Bischof
Die Kirche in Santa Cruz war zum Begräbnis brechend voll. So viele waren gekommen, Familien, Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo. Alle, die Furchtbares durchlitten hatten. Diese Begräbnisfeier war ein symbolischer Akt, für viele Verschwundene. Kl. Sr. Genevieve konnte ihre Tränen nicht stoppen, das unglaubliche Leid der Menschen erschütterte sie zutiefst.
Aber etwas schmerzte sie besonders, und das konnte und wollte sie nicht akzeptieren: ein Teil der Kirche in Argentinien war auf der Seite der Diktatur gestanden und hatte zugesehen. Die offizielle Kirche hatte sich hinter das Regime gestellt, und viele Bischöfe lehnten die Befreiungstheologie und ihre Proteste gegen die Ungerechtigkeit ab.
Die kirchliche Obrigkeit fehlte
Eine Kirche, die all die Grausamkeiten mitverschuldete, diese Kirche kann unmöglich ihre Kirche sein! So dachte Kl. Sr. Genevieve. So eine Kirche will sie nicht! Es fiel ihr auf, dass bei der Begräbnisfeier die Präsenz der kirchlichen Obrigkeit fehlte.
Kardinal Bergoglio, damals Erzbischof von Buenos Aires und Vorsitzender der argentinischen Bischofskonferenz war nicht anwesend. Nicht einmal eine Vertretung. Niemand von den leitenden Stellen. Nur einige wenige Priester, die sich mit den Armen engagierten, waren dabei. Das stimmte so für Kl. Sr. Genevieve nicht. Auf dem Rückflug reifte in ihr der Gedanke, sich direkt an Kardinal Bergoglio zu wenden.
Konfrontation mit dem späteren Papst
Im Oktober 2005 fand in Rom eine Bischofssynode statt. Kl. Sr. Genevieve ergriff die Gelegenheit und schrieb einen Brief an Kardinal Bergoglio. Um sicher zu sein, dass er ihn bekommt, brachte sie ihn direkt in den Vatikan. Sie schrieb offen über ihren Schmerz und ihre Empörung. Sie legte auch ihre Telefonnummer bei. Noch am selben Abend rief der Kardinal sie an. Da schlotterten Kl. Sr. Genevieve plötzlich doch die Knie und sie dachte sich: „Mein Gott, was habe ich mir da angefangen…“
Kardinal Bergoglio bedankte sich höflich bei ihr und erklärte zu seiner Verteidigung, dass er nicht ganz unbeteiligt an den Trauerfeierlichkeiten in Buenos Aires gewesen sei. Er hatte die Erlaubnis erteilt, die Toten rund um die Kirchen zu beerdigen.
Die Kirche muss heute gerade dort präsent sein, wo sie es damals an Präsenz hat fehlen lassen
Darauf erwiderte ihm Kl. Sr. Genevieve: „Aber, das reicht doch nicht! Es hat Ihre Präsenz gefehlt. Diese Menschen haben so sehr gelitten und die Kirche muss doch wenigstens heute gerade dort präsent sein, wo sie es damals an Präsenz hat fehlen lassen!“ Darauf schwieg der Kardinal. Und dann bedankte er sich erneut: „Meine liebe Schwester! Ich danke Ihnen, mit solcher Aufrichtigkeit sollten wir als Schwestern und Brüder miteinander umgehen!“
Am 13. März 2013 war Kl. Sr. Genevieve am Petersplatz. Es war ein trüber, sehr regnerischer Tag. Erst verstand sie den Namen des neuen Papstes gar nicht. Dann aber realisierte sie, dass es Kardinal Bergoglio war. Ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen. Sie war eher skeptisch und hatte Angst.
Einladung in die Casa Santa Marta
Don Alfred Xuereb, Sekretär von Papst Franziskus, war mit den Kleinen Schwestern schon länger befreundet. Er hatte sie eines Tages zufällig im Vergnügungspark entdeckt. Seitdem kam er öfters vorbei. Kl. Sr. Genevieve teilte mit ihm gerne Dinge, die sie von den „Verschwundenen Argentiniens“ hatte: Fotos, Dokumente, Bücher.
Im April 2013 kam er wieder vorbei und fragte nach einem Buch für ihre Tante, zu dem Kl. Sr. Geneviève das Vorwort geschrieben hatte. Auch ein Foto einer Wandmalerei für die Verschwundenen von Perez Esquivel wollte er gerne von ihr haben.
Nicht umsonst gestorben
Das brachte er Papst Franziskus. Der erinnerte sich an Kl. Sr. Genevieve, an ihren Brief und vor allem an das Telefonat. So wurden die Kleinen Schwestern am 20. April 2013 zur Eucharistiefeier in die Casa Santa Marta eingeladen. Die erneute Begegnung mit Papst Franziskus war sehr herzlich. Für Kl. Sr. Genevieve war es wie Versöhnung. Sie konnte ihm verzeihen.
Seit seinem Amtsantritt hörte sie sich alle Ansprachen des Papstes an. Ins Herz trafen sie seine Worte, dass er sich eine „arme Kirche für die Armen“ wünsche. Das löste in Kl. Sr. abermals viele Tränen aus und sie sagte sich: „Dann ist meine Tante also nicht umsonst gestorben!“
Papstbesuch im Wohnwagen
Zwei Jahre später, im Mai 2015, besuchte Papst Franziskus unverhofft die Kleinen Schwestern und ihre Nachbarn in ihren Wohnwagen. Es war für alle ein ergreifendes Ereignis voller Freude. Die SchaustellerInnen fühlten sich wertgeschätzt, dass er sich gerade für sie Zeit nahm. Im Sommer 2024 kam er ein zweites Mal für die Segnung einer Muttergottesstatue, aber vielleicht auch, um sich selbst eine Freude zu bereiten.
Bei einer Privataudienz gestand Papst Franziskus der Generalverantwortlichen der Kleinen Schwestern, wie dankbar er sei, dass Kl. Sr. Genevieve Menschen zu ihm führte, zu denen er sonst nicht kommen würde. Die Liebe zu den Menschen am Rand, das war das Band, das die beiden verband. Es war für Kl. Sr. Genevieve Ansporn.
Stromrechnungen beglichen
Über viele Jahre war sie jeden Mittwoch bei der Audienz, meist mit Menschen aus ihrem Lebensumfeld: Schausteller, Prostituierte, Homosexuelle, Trans, Obdachlose. Viele kamen, um sich beim Papst zu bedanken. Er hatte offene Stromrechnungen beglichen und sie mit Lebensmitteln unterstützt, besonders während der Pandemie.
Für die Bediensteten im Vatikan war Kl. Sr. Genevieve schon lange keine Unbekannte mehr. Von daher ließ man sie am offenen Sarg des Papstes gewähren. Da stand sie allein, aber in Stellvertretung vieler. Niemand und kein Protokoll störte ihren letzten Besuch. Mit Tränen und einer Kusshand gab sie Papst Franziskus ein letztes Adieu.
[1] Die Kleinen Schwestern Jesu wurden 1939 durch Magdeleine Hutin gegründet. Im Geist Charles de Foucaulds sind sie unter anderem mit den Kleinen Brüdern Jesu verbunden.
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